Auf den ersten Blick ist das Leben der jungen Virgínia unauffällig: Nach ihrer Kindheit auf dem Landsitz ihrer Großmutter führt ihr Weg sie in die Stadt, und erst nach Jahren kehrt Virgínia wieder nach Hause zurück. Geprägt von ungewöhnlichen Kinderspielen mit ihrem Bruder Daniel, der mit ihr die mysteriöse "Gesellschaft der Schatten" gründet, führt Virgínia selbst ein Schattendasein, das im Widerspruch zu ihrem aufgewühlten Innenleben steht. Obwohl sie Beziehungen eingeht, bleibt sie einsam, unabhängig und in sich gekehrt. Doch während sie sich in Gedanken eine eigene Welt erschafft, dringen wiederholt seltsame Dialogfetzen oder flüchtige Szenen in ihr Bewusstsein als Vorboten des Schocks, der ihrem Leben schließlich eine überraschende Wendung gibt. Mit dieser wagemutigen, konsequenten Erforschung eines weiblichen Bewusstseins eröffnet Clarice Lispector in ihrem 1946 erschienenen zweiten Roman der lateinamerikanischen Literatur neue Wege und entfaltet einen unerhörten sprachlichen Reichtum, für den sie berühmt wurde.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.11.2013Von träumerischer Grausamkeit
Heute gilt sie als Kult-Autorin Brasiliens und wird mit Virginia Woolf verglichen. Zu Lebzeiten jedoch blieb der Ruhm von Clarice Lispector überschaubar.
Im Jahr 1975 folgt Clarice Lispector einer Einladung eines kolumbianischen Aristokraten zum "Ersten Weltkongress der Hexerei" nach Bogotá. Die Legenden und Gerüchte, die sich um diesen Kongress rankten - etwa über eine Lispector, die mit Amuletten behängt und in schwarze Gewänder gekleidet durch die Straßen gewandert sei -, passten nur allzu gut ins Bild der bisweilen bizarr anmutenden und unnahbaren Autorin. Lispector, die im heutigen Brasilien als Kultfigur gilt, eine Ikone der feministischen Literaturwissenschaft war und 1977 mit nur 56 Jahren an einer Krebserkrankung starb, hat zeitlebens ebenso viel dafür getan, gegen die großen und kleinen Mythen, die ihr angedichtet wurden, anzureden, wie sie diese selbst auch immer wieder, mehr oder minder bewusst, befeuert hat.
Gegen Vergleiche ihrer Bücher mit denen von Kafka, Joyce oder Virginia Woolf hat sie sich stets gewehrt. Und tatsächlich stammt wohl das Joyce-Zitat, das ihrem ersten Roman vorangestellt ist und aus dem sich sein Titel ableitet, von Lispectors engem Freund, dem Schriftsteller Lúcio Cardoso, weil sie selbst mit Joyce nicht vertraut gewesen war. Andererseits finden sich immer wieder Äußerungen Lispectors, die zwar nicht auf literarische Verwandtschaft abzielten, sehr wohl aber mit der eigenen - vermeintlichen - Unergründlichkeit und der ihrer Bücher spielten.
Der Schöffling Verlag hat den Brasilien-Schwerpunkt der diesjährigen Buchmessen als Anlass für eine Neuedition von Lispectors Romanen genommen. Mit "Nahe dem wilden Herzen" und "Der Lüster" sind nun zunächst die ersten beiden in neuen beziehungsweise überarbeiteten Übersetzungen erschienen. Dazu gibt es die umfangreiche und über weite Strecken phantastische, weil zugleich materialgesättigte, abwägende und gut dosiert emphatische Biographie Benjamin Mosers. Die Lektüre der drei Bücher lässt das Bild einer Schriftstellerin entstehen, in deren Schreiben sich immerfort eines offenbart: das unüberwindbare Trauma des zwanzigsten Jahrhunderts.
Moser führt die biographischen Spuren mit dem Werk auf unaufdringliche Weise parallel. "Woran hatte sie gedacht? Ah, der Tod würde sie mit ihrer Kindheit verbinden. Der Tod würde sie mit ihrer Kindheit verbinden." So durchfährt es Joana, die Protagonistin von Lispectors erstmals 1943 erschieneN Debütroman "Nahe dem wilden Herzen". Und tatsächlich ist der Tod das lebensbeherrschende Thema dieser Autorin. Clarice - wie sie von ihren Anhängern bald nur noch genannt wurde - hieß ursprünglich Chaja Pinchassowna und wurde 1920 in Tschetschelnik, einem kleinen Ort im ukrainischen Polodien, geboren, mitten hinein in die furchtbarsten Greuel des Bürgerkriegs, kurz bevor es den Eltern gelang, mit den Töchtern nach Brasilien zu emigrieren. Über ihre Herkunft hat Lispector sich selten geäußert, umso mehr hat sich das schreckliche Schicksal ihrer Mutter Mania direkt und indirekt in ihren Texten und öffentlichen Äußerungen niedergeschlagen: Sie war eine der zahllosen Frauen, die von russischen Soldaten vergewaltigt wurden, und trug nicht nur die psychischen Leiden davon, sondern litt in der Folge auch an einer schweren Syphilis-Erkrankung, die so weit auf das Nervensystem übergriff, dass sie am Ende ihres Lebens fast vollständig gelähmt war. Die Mutter starb wenige Monate vor Clarice Lispectors zehntem Geburtstag.
"Ich wurde für meine Geburt so schön vorbereitet", notiert Lispector 1944, halb selbst dem Volksglauben erliegend, halb sich einen fatalen Fluch auflegend: "Meine Mutter war damals schon krank, und einem recht verbreiteten Aberglauben folgend, dachte man, ein Kind zu bekommen, könne eine Frau von einer Krankheit heilen . . . Nur habe ich meine Mutter nicht geheilt. Und ich spüre bis heute, wie diese Schuld auf mir lastet."
Der Wunsch, Erlöserin zu sein, und sein permanentes Scheitern ist eines der traurigen Motive, die sich durch die Romane ziehen. Noch in ihrem späten, erst Mitte der siebziger Jahre entstandenen "Ein Hauch von Leben" klingt durch die Stimme eines fiktionalen Autors, der sich die Figur Ângela erschaffen hat, nur allzu deutlich diejenige von Lispector selbst hindurch: "Ich suche jemanden, den ich retten kann. Die einzige Person, die mir das ermöglicht, ist Ângela. Und indem ich ihr Leben rette, rette ich auch meines."
Im Schreiben wird das vollzogen, was im Leben nicht hatte gelingen wollen. Liest man Lispectors Debüt in diesem Wissen, dann hat es den Anschein, als hätten sich das Unglück der Mutter und zugleich die zur Tatenlosigkeit verdammte Tochter als eine lähmende, qualvolle Atmosphäre über den Roman gelegt, in dessen Mittelpunkt das Mädchen Joana steht. Komponiert ist er als Wechsel von Szenen aus Joanas Kindheit, Jugend und denen ihrer scheiternden Ehe.
Zu Anfang trifft man auf ein Mädchen, das nach dem Tod seiner Mutter allein mit dem Vater aufwächst, oft stundenlang stumm und in Langeweile gehüllt am Fenster sitzt und die Hühner im Hof beobachtet. "Und immer weiter tropfte die Zeit und tropfte." Dann stirbt auch der Vater, und Joana wird zu einer Tante gegeben, die sich zunehmend befremdet zeigt vom Wesen des Mädchens. Das Leiden an der Einsamkeit und an dem Verlust der Eltern hat sich in ihr zu einem Konglomerat aus Stolz, Amoralität und Verschlossenheit gewandelt, an dem später auch ihre Ehe mit Otávio zerbrechen wird.
"Otávio erhaschte ihren Gesichtsausdruck und erschrak. Eine träumerische Grausamkeit ... Er sah sie forschend an, ohne sie enträtseln zu können, begriff nur, dass er von diesem angedeuteten Lächeln ausgeschlossen war." Mehr als Vergleiche mit anderen Literaten und mehr als die Ergründungsversuche von zeitgenössischen Rezensenten trifft diese Beschreibung aus dem Roman wohl nicht nur das Wesen von Joana, sondern auch den bisweilen abenteuerlich zwischen Somnambulismus, Expressivität und abrupter Schärfe schwankenden Ton von Lispectors Büchern.
Als "Nahe dem wilden Herzen" erschien, sollte die knapp dreiundzwanzigjährige Autorin bald darauf das eingehen, woran die Protagonistin ihres ersten Romans beständig zweifelt: eine Ehe. Lispector heiratete einen Diplomaten und verbrachte die folgenden Jahre an wechselnden Orten fern von Brasilien. Glaubt man den Kommentaren von Zeitgenossen, dann wusste die junge Frau sich gekonnt und weltgewandt auf diplomatischem Parkett zu bewegen - ein bemerkenswerter Aufstieg für ein Kind, dessen Vater sich nach der Emigration als Gelegenheitsarbeiter durchschlagen musste, aber alles dafür gab, seinen drei Töchtern an Bildung und Studien zu ermöglichen, was ihm verwehrt geblieben war.
Dass Clarice Lispector dauerhaft erst 1959 als Mutter zweier Söhne und von ihrem Mann getrennt, nach Brasilien zurückkehrte, hat sicher seinen Teil dazu beigetragen, dass die Aufmerksamkeit, die ihr Debüt erfahren hatte, sich mit den folgenden Büchern nicht wiederholte. Es lag aber auch an den Büchern selbst. "Der Lüster" etwa, Lispectors 1946 erschienener zweiter Roman, greift zwar einige Motive des Vorgängers wieder auf - allen voran das Hinterfragen traditioneller Beziehungsmuster und damit vorgezeichneter weiblicher Biographien. Insgesamt aber ist die Geschichte um Virgínia, die zunächst in eine unheilvolle, als Kinderspiel getarnte Abhängigkeit von ihrem Bruder Daniel gerät und schließlich vom elterlichen Hof in die Großstadt aufbricht, wo sie - wie schon Joana - keinen Ausweg aus ihrer teils selbstgewählten, teils auferlegten Einsamkeit findet, weitaus traumgleicher und in all ihrer emotionalen Exaltiertheit und Aggressivität nebulöser, so dass sie sich einem breiten Lesepublikum kaum erschließen mochte. Was sich allerdings wiederum unmittelbar und sehr schmerzhaft einstellt bei der Lektüre, ist das Bild einer jungen Frau, die den konventionellen Wahrnehmungs- und Gefühlswelten der Umwelt fremd und befremdet gegenübersteht.
Nachhaltiger Erfolg als Romanautorin will sich aber auch in den Jahren nach Lispectors Rückkehr kaum einstellen. Zudem scheinen jahrelange Schlafbeschwerden, die sie mit Tabletten bekämpfte, ihr mehr und mehr zuzusetzen. Immer wieder berichten Freunde und Bekannte von nächtlichen Anrufen einer aufgelösten, verzweifelten Frau.
Das doppelt Tragische am Leben dieser eigenwilligen Schriftstellerin, deren Werk so eng verflochten ist mit ihrer Biographie, kann man bei Benjamin Moser aufs eindrücklichste nachlesen: Auch ihren ältesten Sohn Pedro, der an Schizophrenie erkrankte, hat Lispector nicht retten können. Ihr Wunsch nach Erlösung sollte nicht erfüllt werden. Postum immerhin erfolgte die Anerkennung als Schriftstellerin.
WIEBKE POROMBKA
Clarice Lispector: "Nahe dem wilden Herzen". Roman.
Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Ray-Güde Mertin, überarbeitet von Corinna Santa Cruz. Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2013. 272 S., geb., 19,95 [Euro].
Clarice Lispector: "Der Lüster". Roman.
Aus dem brasilianischen Portugiesisch und mit einem Nachwort von Luis Ruby. Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2013. 368 S., geb., 22,95 [Euro].
Benjamin Moser: "Clarice Lispector". Eine Biographie.
Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter. Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2013. 564 S., geb., 36,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Heute gilt sie als Kult-Autorin Brasiliens und wird mit Virginia Woolf verglichen. Zu Lebzeiten jedoch blieb der Ruhm von Clarice Lispector überschaubar.
Im Jahr 1975 folgt Clarice Lispector einer Einladung eines kolumbianischen Aristokraten zum "Ersten Weltkongress der Hexerei" nach Bogotá. Die Legenden und Gerüchte, die sich um diesen Kongress rankten - etwa über eine Lispector, die mit Amuletten behängt und in schwarze Gewänder gekleidet durch die Straßen gewandert sei -, passten nur allzu gut ins Bild der bisweilen bizarr anmutenden und unnahbaren Autorin. Lispector, die im heutigen Brasilien als Kultfigur gilt, eine Ikone der feministischen Literaturwissenschaft war und 1977 mit nur 56 Jahren an einer Krebserkrankung starb, hat zeitlebens ebenso viel dafür getan, gegen die großen und kleinen Mythen, die ihr angedichtet wurden, anzureden, wie sie diese selbst auch immer wieder, mehr oder minder bewusst, befeuert hat.
Gegen Vergleiche ihrer Bücher mit denen von Kafka, Joyce oder Virginia Woolf hat sie sich stets gewehrt. Und tatsächlich stammt wohl das Joyce-Zitat, das ihrem ersten Roman vorangestellt ist und aus dem sich sein Titel ableitet, von Lispectors engem Freund, dem Schriftsteller Lúcio Cardoso, weil sie selbst mit Joyce nicht vertraut gewesen war. Andererseits finden sich immer wieder Äußerungen Lispectors, die zwar nicht auf literarische Verwandtschaft abzielten, sehr wohl aber mit der eigenen - vermeintlichen - Unergründlichkeit und der ihrer Bücher spielten.
Der Schöffling Verlag hat den Brasilien-Schwerpunkt der diesjährigen Buchmessen als Anlass für eine Neuedition von Lispectors Romanen genommen. Mit "Nahe dem wilden Herzen" und "Der Lüster" sind nun zunächst die ersten beiden in neuen beziehungsweise überarbeiteten Übersetzungen erschienen. Dazu gibt es die umfangreiche und über weite Strecken phantastische, weil zugleich materialgesättigte, abwägende und gut dosiert emphatische Biographie Benjamin Mosers. Die Lektüre der drei Bücher lässt das Bild einer Schriftstellerin entstehen, in deren Schreiben sich immerfort eines offenbart: das unüberwindbare Trauma des zwanzigsten Jahrhunderts.
Moser führt die biographischen Spuren mit dem Werk auf unaufdringliche Weise parallel. "Woran hatte sie gedacht? Ah, der Tod würde sie mit ihrer Kindheit verbinden. Der Tod würde sie mit ihrer Kindheit verbinden." So durchfährt es Joana, die Protagonistin von Lispectors erstmals 1943 erschieneN Debütroman "Nahe dem wilden Herzen". Und tatsächlich ist der Tod das lebensbeherrschende Thema dieser Autorin. Clarice - wie sie von ihren Anhängern bald nur noch genannt wurde - hieß ursprünglich Chaja Pinchassowna und wurde 1920 in Tschetschelnik, einem kleinen Ort im ukrainischen Polodien, geboren, mitten hinein in die furchtbarsten Greuel des Bürgerkriegs, kurz bevor es den Eltern gelang, mit den Töchtern nach Brasilien zu emigrieren. Über ihre Herkunft hat Lispector sich selten geäußert, umso mehr hat sich das schreckliche Schicksal ihrer Mutter Mania direkt und indirekt in ihren Texten und öffentlichen Äußerungen niedergeschlagen: Sie war eine der zahllosen Frauen, die von russischen Soldaten vergewaltigt wurden, und trug nicht nur die psychischen Leiden davon, sondern litt in der Folge auch an einer schweren Syphilis-Erkrankung, die so weit auf das Nervensystem übergriff, dass sie am Ende ihres Lebens fast vollständig gelähmt war. Die Mutter starb wenige Monate vor Clarice Lispectors zehntem Geburtstag.
"Ich wurde für meine Geburt so schön vorbereitet", notiert Lispector 1944, halb selbst dem Volksglauben erliegend, halb sich einen fatalen Fluch auflegend: "Meine Mutter war damals schon krank, und einem recht verbreiteten Aberglauben folgend, dachte man, ein Kind zu bekommen, könne eine Frau von einer Krankheit heilen . . . Nur habe ich meine Mutter nicht geheilt. Und ich spüre bis heute, wie diese Schuld auf mir lastet."
Der Wunsch, Erlöserin zu sein, und sein permanentes Scheitern ist eines der traurigen Motive, die sich durch die Romane ziehen. Noch in ihrem späten, erst Mitte der siebziger Jahre entstandenen "Ein Hauch von Leben" klingt durch die Stimme eines fiktionalen Autors, der sich die Figur Ângela erschaffen hat, nur allzu deutlich diejenige von Lispector selbst hindurch: "Ich suche jemanden, den ich retten kann. Die einzige Person, die mir das ermöglicht, ist Ângela. Und indem ich ihr Leben rette, rette ich auch meines."
Im Schreiben wird das vollzogen, was im Leben nicht hatte gelingen wollen. Liest man Lispectors Debüt in diesem Wissen, dann hat es den Anschein, als hätten sich das Unglück der Mutter und zugleich die zur Tatenlosigkeit verdammte Tochter als eine lähmende, qualvolle Atmosphäre über den Roman gelegt, in dessen Mittelpunkt das Mädchen Joana steht. Komponiert ist er als Wechsel von Szenen aus Joanas Kindheit, Jugend und denen ihrer scheiternden Ehe.
Zu Anfang trifft man auf ein Mädchen, das nach dem Tod seiner Mutter allein mit dem Vater aufwächst, oft stundenlang stumm und in Langeweile gehüllt am Fenster sitzt und die Hühner im Hof beobachtet. "Und immer weiter tropfte die Zeit und tropfte." Dann stirbt auch der Vater, und Joana wird zu einer Tante gegeben, die sich zunehmend befremdet zeigt vom Wesen des Mädchens. Das Leiden an der Einsamkeit und an dem Verlust der Eltern hat sich in ihr zu einem Konglomerat aus Stolz, Amoralität und Verschlossenheit gewandelt, an dem später auch ihre Ehe mit Otávio zerbrechen wird.
"Otávio erhaschte ihren Gesichtsausdruck und erschrak. Eine träumerische Grausamkeit ... Er sah sie forschend an, ohne sie enträtseln zu können, begriff nur, dass er von diesem angedeuteten Lächeln ausgeschlossen war." Mehr als Vergleiche mit anderen Literaten und mehr als die Ergründungsversuche von zeitgenössischen Rezensenten trifft diese Beschreibung aus dem Roman wohl nicht nur das Wesen von Joana, sondern auch den bisweilen abenteuerlich zwischen Somnambulismus, Expressivität und abrupter Schärfe schwankenden Ton von Lispectors Büchern.
Als "Nahe dem wilden Herzen" erschien, sollte die knapp dreiundzwanzigjährige Autorin bald darauf das eingehen, woran die Protagonistin ihres ersten Romans beständig zweifelt: eine Ehe. Lispector heiratete einen Diplomaten und verbrachte die folgenden Jahre an wechselnden Orten fern von Brasilien. Glaubt man den Kommentaren von Zeitgenossen, dann wusste die junge Frau sich gekonnt und weltgewandt auf diplomatischem Parkett zu bewegen - ein bemerkenswerter Aufstieg für ein Kind, dessen Vater sich nach der Emigration als Gelegenheitsarbeiter durchschlagen musste, aber alles dafür gab, seinen drei Töchtern an Bildung und Studien zu ermöglichen, was ihm verwehrt geblieben war.
Dass Clarice Lispector dauerhaft erst 1959 als Mutter zweier Söhne und von ihrem Mann getrennt, nach Brasilien zurückkehrte, hat sicher seinen Teil dazu beigetragen, dass die Aufmerksamkeit, die ihr Debüt erfahren hatte, sich mit den folgenden Büchern nicht wiederholte. Es lag aber auch an den Büchern selbst. "Der Lüster" etwa, Lispectors 1946 erschienener zweiter Roman, greift zwar einige Motive des Vorgängers wieder auf - allen voran das Hinterfragen traditioneller Beziehungsmuster und damit vorgezeichneter weiblicher Biographien. Insgesamt aber ist die Geschichte um Virgínia, die zunächst in eine unheilvolle, als Kinderspiel getarnte Abhängigkeit von ihrem Bruder Daniel gerät und schließlich vom elterlichen Hof in die Großstadt aufbricht, wo sie - wie schon Joana - keinen Ausweg aus ihrer teils selbstgewählten, teils auferlegten Einsamkeit findet, weitaus traumgleicher und in all ihrer emotionalen Exaltiertheit und Aggressivität nebulöser, so dass sie sich einem breiten Lesepublikum kaum erschließen mochte. Was sich allerdings wiederum unmittelbar und sehr schmerzhaft einstellt bei der Lektüre, ist das Bild einer jungen Frau, die den konventionellen Wahrnehmungs- und Gefühlswelten der Umwelt fremd und befremdet gegenübersteht.
Nachhaltiger Erfolg als Romanautorin will sich aber auch in den Jahren nach Lispectors Rückkehr kaum einstellen. Zudem scheinen jahrelange Schlafbeschwerden, die sie mit Tabletten bekämpfte, ihr mehr und mehr zuzusetzen. Immer wieder berichten Freunde und Bekannte von nächtlichen Anrufen einer aufgelösten, verzweifelten Frau.
Das doppelt Tragische am Leben dieser eigenwilligen Schriftstellerin, deren Werk so eng verflochten ist mit ihrer Biographie, kann man bei Benjamin Moser aufs eindrücklichste nachlesen: Auch ihren ältesten Sohn Pedro, der an Schizophrenie erkrankte, hat Lispector nicht retten können. Ihr Wunsch nach Erlösung sollte nicht erfüllt werden. Postum immerhin erfolgte die Anerkennung als Schriftstellerin.
WIEBKE POROMBKA
Clarice Lispector: "Nahe dem wilden Herzen". Roman.
Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Ray-Güde Mertin, überarbeitet von Corinna Santa Cruz. Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2013. 272 S., geb., 19,95 [Euro].
Clarice Lispector: "Der Lüster". Roman.
Aus dem brasilianischen Portugiesisch und mit einem Nachwort von Luis Ruby. Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2013. 368 S., geb., 22,95 [Euro].
Benjamin Moser: "Clarice Lispector". Eine Biographie.
Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter. Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2013. 564 S., geb., 36,95 [Euro].
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