Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.10.2018Der Mörder ist immer die Therme
Sog der Steine: In der Graphic Novel „Der Magnet“ des Pariser Zeichners Lucas Harari spielt ein berühmter Bau von Peter Zumthor die Hauptrolle.
Das Unheimliche und Fantastische zeigt sich in diesem Architektur-Thriller in Bildern, denen alles Wilde ausgetrieben ist
VON CHRISTOPH HAAS
Der Strich ist ruhig, die Konturen sind klar. Einigermaßen realistisch gestaltete Figuren agieren in Räumen, die exakt nach realen Vorlagen gezeichnet sind. Kein Zweifel: „Der Magnet“, die erste Graphic Novel des 28-jährigen Pariser Zeichners Lucas Harari, steht in der Tradition der Ligne Claire. In seiner Aneignung dieses von Hergé kreierten Stils ist Harari aber eher US-amerikanischen Comic-Künstlern wie Charles Burns, Daniel Clowes und Paul Hornschemeier nahe. Genau wie diese setzt er auf die Kunst des Kontrasts: Das Unheimliche und Phantastische, das Beklemmende zeigt sich bei Harari gerade in Bildern, denen alles Wilde, Unbeherrschte ausgetrieben ist. Wie sehr die Ligne Claire ein Akt des Bannens diverser Gewalten ist, lässt sich schon in „Tim und Struppi“ immer wieder ahnen; hier ist es unverkennbar.
„Der Magnet“ hat Harari in der französischen Comic-Szene zu Recht mit einem Schlag berühmt gemacht. Die Hauptrolle spielt kein Mensch, sondern ein Gebäude: die berühmte Therme, die 1996 von dem Architekten Peter Zumthor in dem Graubündner Kurort Vals errichtet wurde. Aus 15 Betonquadern bestehend, die mit Gneis ummantelt sind, wirkt sie sowohl modern als auch archaisch; sie ist der alpinen Landschaft angepasst und hebt sich doch aus ihr hervor. Minimalistisch wie das Äußere ist auch das Innere: Die Therme ist kein Spaßbad; alles konzentriert sich auf das Zusammenspiel von Wasser und Stein.
Als ganz junger Mann hat Lucas Harari in dieser Therme gebadet. Und die ungewöhnliche Architektur des Baus überwältigte ihn – so sehr, dass er kein zweites Mal mehr dort hingereisen wollte, um den ersten, starken Eindruck nicht von einem weiteren Besuch überlagern oder gar revidieren zu lassen. In seiner Graphic Novel verfällt nun der Architekturstudent Pierre der besonderen Atmosphäre dieses Ortes. Beim Schreiben seiner Abschlussarbeit glaubte Pierre eine Weile, „dem Rätsel des Baus auf die Spur gekommen zu sein“, musste die Arbeit jedoch überfordert abbrechen. Dennoch – oder gerade deswegen – macht er sich wieder auf die Reise nach Vals. Nicht mehr zu Hause am Laptop sitzend, sondern vor Ort, mit dem Zeichenblock in der Hand, setzt Pierre sich nun mit der Therme auseinander.
Diese unmittelbare Konfrontation führt dazu, dass Ungeheuerliches passiert: In den Wänden der Therme beginnen sich schwarze, türähnliche Öffnungen zu bilden und zu schließen. Als Pierre eine von ihnen betritt, findet er sich zunächst im Innern des Berges wieder und dann, halb ohnmächtig daher taumelnd, in einer nächtlichen Schneelandschaft, hoch über Vals. Vor dem Haus eines Bauern, mit dem er sich angefreundet hat, bricht er fiebernd zusammen.
Die Figuren um Pierre verstärken noch den Eindruck des Geheimnisvollen, in das er sich verstrickt. Ein als verrückt geltender, uralter Einsiedler erzählt ihm die lokale Legende vom „Schlund des Berges“, der alle hundert Jahre ein Opfer fordert. Gleichzeitig wird er von dem skrupellosen Wissenschaftler Philippe Valeret verfolgt, einem Spezialisten für Bäder-Architektur, der ebenfalls ein lebhaftes Interesse an der Therme hat – und vielleicht auch ein erotisches Interesse an Pierre selbst: Harari entwirft den kahlköpfigen Valeret als ein perfektes Foucault-Double. Pierre allerdings fühlt sich zu der rothaarigen Ondine hingezogen, der er nachts – nomen est omen – beim Baden begegnet.
Der Hauptanreiz bei der Arbeit an „Der Magnet“ dürfte für Harari darin bestanden haben, ausgiebig den Zauber der Therme zu beschwören. Die Sequenzen, die dort spielen, sind Herzstücke und Höhepunkte des Bandes. Pierre ist in der Therme alleine zu sehen oder mit nur wenigen anderen Menschen, die ebenfalls vereinzelt bleiben. Es ist, als bewege er sich durch einen Traum, durch eine Unter- oder Parallelwelt. Wenn er nicht zeichnet, ist sein Handeln auf bloß physische Aktivitäten, auf Schwimmen und Gehen, beschränkt. Was in ihm vorgeht, wird nicht in Denkblasen mitgeteilt; die Bilder bleiben stumm.
Da Harari auf den sonst üblichen weißen Spalt zwischen den Panels verzichtet und diese sowohl seitlich als auch oben und unten nur durch einen schmalen schwarzen Strich voneinander trennt, ergibt sich der Eindruck einer kaum unterbrochenen Bildfolge, eines Labyrinths von Bildern, das dem labyrinthischen Aufbau der Therme und dem Orientierungsverlust Pierres entspricht. Hervorragend ist auch die Kolorierung, die auf einer reduzierten Palette beruht. Blau, Grau und Schwarz sind die dominierenden Farben, unterstützt von Rot und Weiß.
Wie eine Novelle des 19. Jahrhunderts besitzt „Der Magnet“ eine Rahmenhandlung, die dem Geschehen einen Schein von Authentizität verleihen soll. Am Anfang begegnet Pierre einem Architekturprofessor, dem Vater von Lucas Harari, und das letzte Bild zeigt den Schreibtisch von Harari Junior, auf dem die Aufzeichnungen des Studenten liegen. Außerdem dienen ein Feuerzeug und verschiedene Steine als Leitmotive und gewinnen dingsymbolische Bedeutung. Das sind Strategien eines klassischen, geschlossenen Erzählens, die Harari aber unterminiert, indem er vieles nur andeutet und offen lässt, auch am Ende. Das Rätsel, das Pierre umtreibt, wird zwar aufgelöst, bleibt aber zugleich intakt.
Ein konventioneller Mystery-Thriller mit übernatürlichem Einschlag ist „Der Magnet“ eben nicht. Die Graphic Novel ist eine doppelte Hommage: an den Genius Loci der Alpenwelt und eines eng mit ihr verbundenen Bauwerks. Der Sog, den „Der Magnet“ beim Lesen entwickelt, ist der Sog der Steine.
Lucas Harari (Text und Zeichnungen): Der Magnet. Aus dem Französischen von Christoph Schuler. Edition Moderne, Zürich 2018. 144 Seiten, 32 Euro.
Geheimnisse einer Badeanstalt:
Lucas Harari zeichnet die Therme
als gefährliche Parallelwelt.
Foto: Edition Moderne
Fischköder mit austauschbarem Schwanz,
um verschiedene Fischarten anzulocken, 1999.
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Sog der Steine: In der Graphic Novel „Der Magnet“ des Pariser Zeichners Lucas Harari spielt ein berühmter Bau von Peter Zumthor die Hauptrolle.
Das Unheimliche und Fantastische zeigt sich in diesem Architektur-Thriller in Bildern, denen alles Wilde ausgetrieben ist
VON CHRISTOPH HAAS
Der Strich ist ruhig, die Konturen sind klar. Einigermaßen realistisch gestaltete Figuren agieren in Räumen, die exakt nach realen Vorlagen gezeichnet sind. Kein Zweifel: „Der Magnet“, die erste Graphic Novel des 28-jährigen Pariser Zeichners Lucas Harari, steht in der Tradition der Ligne Claire. In seiner Aneignung dieses von Hergé kreierten Stils ist Harari aber eher US-amerikanischen Comic-Künstlern wie Charles Burns, Daniel Clowes und Paul Hornschemeier nahe. Genau wie diese setzt er auf die Kunst des Kontrasts: Das Unheimliche und Phantastische, das Beklemmende zeigt sich bei Harari gerade in Bildern, denen alles Wilde, Unbeherrschte ausgetrieben ist. Wie sehr die Ligne Claire ein Akt des Bannens diverser Gewalten ist, lässt sich schon in „Tim und Struppi“ immer wieder ahnen; hier ist es unverkennbar.
„Der Magnet“ hat Harari in der französischen Comic-Szene zu Recht mit einem Schlag berühmt gemacht. Die Hauptrolle spielt kein Mensch, sondern ein Gebäude: die berühmte Therme, die 1996 von dem Architekten Peter Zumthor in dem Graubündner Kurort Vals errichtet wurde. Aus 15 Betonquadern bestehend, die mit Gneis ummantelt sind, wirkt sie sowohl modern als auch archaisch; sie ist der alpinen Landschaft angepasst und hebt sich doch aus ihr hervor. Minimalistisch wie das Äußere ist auch das Innere: Die Therme ist kein Spaßbad; alles konzentriert sich auf das Zusammenspiel von Wasser und Stein.
Als ganz junger Mann hat Lucas Harari in dieser Therme gebadet. Und die ungewöhnliche Architektur des Baus überwältigte ihn – so sehr, dass er kein zweites Mal mehr dort hingereisen wollte, um den ersten, starken Eindruck nicht von einem weiteren Besuch überlagern oder gar revidieren zu lassen. In seiner Graphic Novel verfällt nun der Architekturstudent Pierre der besonderen Atmosphäre dieses Ortes. Beim Schreiben seiner Abschlussarbeit glaubte Pierre eine Weile, „dem Rätsel des Baus auf die Spur gekommen zu sein“, musste die Arbeit jedoch überfordert abbrechen. Dennoch – oder gerade deswegen – macht er sich wieder auf die Reise nach Vals. Nicht mehr zu Hause am Laptop sitzend, sondern vor Ort, mit dem Zeichenblock in der Hand, setzt Pierre sich nun mit der Therme auseinander.
Diese unmittelbare Konfrontation führt dazu, dass Ungeheuerliches passiert: In den Wänden der Therme beginnen sich schwarze, türähnliche Öffnungen zu bilden und zu schließen. Als Pierre eine von ihnen betritt, findet er sich zunächst im Innern des Berges wieder und dann, halb ohnmächtig daher taumelnd, in einer nächtlichen Schneelandschaft, hoch über Vals. Vor dem Haus eines Bauern, mit dem er sich angefreundet hat, bricht er fiebernd zusammen.
Die Figuren um Pierre verstärken noch den Eindruck des Geheimnisvollen, in das er sich verstrickt. Ein als verrückt geltender, uralter Einsiedler erzählt ihm die lokale Legende vom „Schlund des Berges“, der alle hundert Jahre ein Opfer fordert. Gleichzeitig wird er von dem skrupellosen Wissenschaftler Philippe Valeret verfolgt, einem Spezialisten für Bäder-Architektur, der ebenfalls ein lebhaftes Interesse an der Therme hat – und vielleicht auch ein erotisches Interesse an Pierre selbst: Harari entwirft den kahlköpfigen Valeret als ein perfektes Foucault-Double. Pierre allerdings fühlt sich zu der rothaarigen Ondine hingezogen, der er nachts – nomen est omen – beim Baden begegnet.
Der Hauptanreiz bei der Arbeit an „Der Magnet“ dürfte für Harari darin bestanden haben, ausgiebig den Zauber der Therme zu beschwören. Die Sequenzen, die dort spielen, sind Herzstücke und Höhepunkte des Bandes. Pierre ist in der Therme alleine zu sehen oder mit nur wenigen anderen Menschen, die ebenfalls vereinzelt bleiben. Es ist, als bewege er sich durch einen Traum, durch eine Unter- oder Parallelwelt. Wenn er nicht zeichnet, ist sein Handeln auf bloß physische Aktivitäten, auf Schwimmen und Gehen, beschränkt. Was in ihm vorgeht, wird nicht in Denkblasen mitgeteilt; die Bilder bleiben stumm.
Da Harari auf den sonst üblichen weißen Spalt zwischen den Panels verzichtet und diese sowohl seitlich als auch oben und unten nur durch einen schmalen schwarzen Strich voneinander trennt, ergibt sich der Eindruck einer kaum unterbrochenen Bildfolge, eines Labyrinths von Bildern, das dem labyrinthischen Aufbau der Therme und dem Orientierungsverlust Pierres entspricht. Hervorragend ist auch die Kolorierung, die auf einer reduzierten Palette beruht. Blau, Grau und Schwarz sind die dominierenden Farben, unterstützt von Rot und Weiß.
Wie eine Novelle des 19. Jahrhunderts besitzt „Der Magnet“ eine Rahmenhandlung, die dem Geschehen einen Schein von Authentizität verleihen soll. Am Anfang begegnet Pierre einem Architekturprofessor, dem Vater von Lucas Harari, und das letzte Bild zeigt den Schreibtisch von Harari Junior, auf dem die Aufzeichnungen des Studenten liegen. Außerdem dienen ein Feuerzeug und verschiedene Steine als Leitmotive und gewinnen dingsymbolische Bedeutung. Das sind Strategien eines klassischen, geschlossenen Erzählens, die Harari aber unterminiert, indem er vieles nur andeutet und offen lässt, auch am Ende. Das Rätsel, das Pierre umtreibt, wird zwar aufgelöst, bleibt aber zugleich intakt.
Ein konventioneller Mystery-Thriller mit übernatürlichem Einschlag ist „Der Magnet“ eben nicht. Die Graphic Novel ist eine doppelte Hommage: an den Genius Loci der Alpenwelt und eines eng mit ihr verbundenen Bauwerks. Der Sog, den „Der Magnet“ beim Lesen entwickelt, ist der Sog der Steine.
Lucas Harari (Text und Zeichnungen): Der Magnet. Aus dem Französischen von Christoph Schuler. Edition Moderne, Zürich 2018. 144 Seiten, 32 Euro.
Geheimnisse einer Badeanstalt:
Lucas Harari zeichnet die Therme
als gefährliche Parallelwelt.
Foto: Edition Moderne
Fischköder mit austauschbarem Schwanz,
um verschiedene Fischarten anzulocken, 1999.
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Klara Fröhlich möchte sich am liebsten gleich aufmachen nach Vals, um herauszufinden, was dran ist am Geheimnis der Therme von Paul Zumthor, die Lucas Harari in seiner Graphic Novel zum Schauplatz der Suche nach einem Geheimnis macht. Der Autor schafft es laut Fröhlich, an diesem eher geruhsamen Ort einen Thriller a la Hitchcock zu inszenieren, meint sie. Darüber hinaus bringt er sein Gespür für Architektur mit ein und erreicht unter Verwendung der ligne clair Konzentration aufs Wesentliche, so die Rezensentin. Spannend und grafisch elegant, findet sie.
© Perlentaucher Medien GmbH
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