Der Mainzer Domschatz hat eine tragische Geschichte. Über Jahrhunderte galt er als einer der wertvollsten Kirchenschätze jenseits der Alpen, was aber schon früh Begierden weckte. Durch Plünderungen und Kriege bereits dezimiert, wurden, bis auf wenige Ausnahmen, sämtliche verbliebene Gold- und
Silberschmiedearbeiten bei der Säkularisation 1803 entweder verkauft oder auseinandergenommen und…mehrDer Mainzer Domschatz hat eine tragische Geschichte. Über Jahrhunderte galt er als einer der wertvollsten Kirchenschätze jenseits der Alpen, was aber schon früh Begierden weckte. Durch Plünderungen und Kriege bereits dezimiert, wurden, bis auf wenige Ausnahmen, sämtliche verbliebene Gold- und Silberschmiedearbeiten bei der Säkularisation 1803 entweder verkauft oder auseinandergenommen und eingeschmolzen. Die antiken Manuskripte gingen in weltlichen Besitz. Nur die materiell wenig wertvollen Paramente blieben aus früheren Zeiten erhalten und erst mit dem Rückzug der Franzosen konnte der Domschatz neu aufgebaut werden, u. a. durch die Grabungstätigkeiten im Dom um 1900. Heute hat die Schatzkammer wieder einen respektablen Bestand, der sich insbesondere in den letzten 10 Jahren durch signifikante private Stiftungen und „Rettungsdonationen“ aus diebstahlgefährdeten Pfarreien der Diözese vergrößert hat.
Wie der Domschatz im Mittelalter und der frühen Neuzeit beschaffen war, belegen zahlreiche Inventare, zum Teil sogar illustriert und mit genauen Angaben zu Materialien und Verarbeitung. Die älteste Beschreibung dokumentiert um 1250 gleichzeitig einen Raubzug der Staufer, die den Schatz dezimierten (aber wohl kaum zerstörten) und seitdem gibt es zahlreiche erhaltene Quellen zu Bestand und Stiftungen. Erstaunlicherweise ist der vorliegende Band die erste umfassende Monografie zu diesem Thema, das schon seit über 100 Jahren als Desiderat der kunstgeschichtlichen Forschung gilt. Es ist vielleicht der Umstand, dass die Rekonstruktion weitgehend im theoretischen bleiben muss, auch wenn Illustrationen und verlagerte Objekte dies in reduziertem Maß zulassen würden.
Die Quellenlage wird auf den ersten 100 Seiten dokumentiert, teilweise sehr ausführlich, in der Regel aber summarisch. Die folgenden 500 Seiten behandeln dann im Detail 96 repräsentative Objekte aus 1000 Jahren, womit etwa die Hälfte des Gesamtbestandes erfasst wird. Das älteste Objekt ist die Willigs-Glockenkasel (Ende 10. Jahrhundert), das neueste eine liturgische Gewandausstattung aus dem Jahr 2022. Der Schwerpunkt liegt insgesamt auf der Zeit nach 1500, mit wiederum einem Fokus im Barock.
Die Beschreibungen umfassen neben der reinen Materialität auch den liturgischen Einsatz, der sich teilweise von heutigen Gepflogenheiten unterscheidet. Es werden Maße, verwendete Materialien und der Erhaltungszustand dokumentiert, sowie die nachvollziehbare Provenienz. Einen großen Raum nimmt die ikonografische Beschreibung aller sichtbaren Elemente ein, die im kirchlichen Kontext immer auch eine verborgene Bedeutung haben. Nicht immer ist die optische Wirkung identisch mit dem materiellen Wert, im Gegenteil: Von den wenigen originalen Objekten aus der Zeit vor 1803 sind die meisten aus „wertlosem“ vergoldeten Messing mit Glassteinbesatz. Nur so konnten sie den „Verwertern“ entgehen.
Auch wenn in Domschätzen vereinzelt säkulare Objekte zu finden sind, sind diese zumindest im vorliegenden Katalog nicht aufgenommen. Die Auswahl zeigt eine breite stilistische Vielfalt, deren goldschmiedetechnische Qualität vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausragend ist. Auch wenn gerade diese Objekte oft stilistische Rückgriffe sind, ist die Ausführung wirklich eindrucksvoll. Erst in den 1920/30 Jahren entwickelt sich eine völlig neue, abstrakte und äußerst ästhetische Formensprache, die uns auch heute noch sofort anspricht. Sie beeindruckt nicht durch Prachtentfaltung, sondern durch Klarheit und Geometrie, bzw. durch raue Natürlichkeit von Oberflächen und Material. Es zeigt, dass die Moderne zumindest künstlerisch in der Kirche angekommen ist.
Der Katalog ist großartig illustriert und wenn er auch kein vollständiges Inventar darstellt, ist er ein repräsentativer Querschnitt durch den Bestand, mit allen Highlights und vielen kleinen und großen Entdeckungen.
(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)