"Oskar Roehlers Roman ist das Zeugnis eines Widerspenstigen, dem vorgezeichnete Wege immer schon suspekt waren." DLF
Der Mangel erzählt vom Aufwachsen und Großwerden einer Gruppe von Kindern in den Sechzigern, von den Anstrengungen der Väter, Wohlstand, zumindest die Illusion davon, auch für ihre Familien zu schaffen. Von den Rückschlägen, die sie erleiden. Von den Sorgen und Existenzängsten der Mütter, die sie vor ihrer Zeit altern lassen. Vor allem aber er erzählt er in Anlehnung an die Kindheit des Autors von dem fundamentalen Wandel der bundesrepublikanischen Gesellschaft in der Wirtschaftswunderzeit. Vom Übergang einer Mangelgesellschaft, in der es von allem zu wenig gab, in eine Konsumgesellschaft, die den Menschen ihre Würde raubt. Und er entwirft zugleich ein Gegenbild dazu, einen Ausweg sowohl aus dem Mangel wie aus dem Überfluss: die Kunst. So ist Der Mangel auch der persönliche Bildungsroman Roehlers, in dessen Zentrum seine Erfahrung mit der Kunst steht, deren Entdeckung in jungen Jahren sein Rettungsanker für das Überleben geworden ist.
Der Mangel erzählt vom Aufwachsen und Großwerden einer Gruppe von Kindern in den Sechzigern, von den Anstrengungen der Väter, Wohlstand, zumindest die Illusion davon, auch für ihre Familien zu schaffen. Von den Rückschlägen, die sie erleiden. Von den Sorgen und Existenzängsten der Mütter, die sie vor ihrer Zeit altern lassen. Vor allem aber er erzählt er in Anlehnung an die Kindheit des Autors von dem fundamentalen Wandel der bundesrepublikanischen Gesellschaft in der Wirtschaftswunderzeit. Vom Übergang einer Mangelgesellschaft, in der es von allem zu wenig gab, in eine Konsumgesellschaft, die den Menschen ihre Würde raubt. Und er entwirft zugleich ein Gegenbild dazu, einen Ausweg sowohl aus dem Mangel wie aus dem Überfluss: die Kunst. So ist Der Mangel auch der persönliche Bildungsroman Roehlers, in dessen Zentrum seine Erfahrung mit der Kunst steht, deren Entdeckung in jungen Jahren sein Rettungsanker für das Überleben geworden ist.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.06.2020Ode an die Verwilderung
Plötzlich empfindsam: Oskar Roehler schreibt mit "Der Mangel" weiter an seiner Biographie des Widerstands
Moralisch ist das eine Zwickmühle: Darf man es insgeheim begrüßen, dass der Regisseur und Schriftsteller Oskar Roehler eine unglückliche Kindheit hatte? Andernfalls müssten wir auf eine ganze Reihe glorios-wütender, eloquent dramatischer Abrechnungen verzichten. Ob zur Weltverachtung geweitet wie in der donnernden Abrechnung mit der Filmbranche ("Selbstverfickung") oder beinahe direkt autobiographisch wie im Mutter-Film "Die Unberührbare" oder im radikalen Roman "Herkunft": Mit dem zu Lasten der Kinder gehenden Versagen des Familienmodells in der Epoche des Individualismus hat Roehler sein Lebensthema gefunden.
Noch keine seiner Annäherungen ans eigene Trauma aber war von solcher Zärtlichkeit und Sprachgewalt wie die Erzählung "Der Mangel". Was diesen Sehnsuchtstext von geradezu klassischer Weltabgewandtheit zu großer Literatur macht, ist das Raffinement, mit dem er sich zugleich als Tiefenbohrung in die Mentalitätsgeschichte der frühen Bundesrepublik erweist. In der Zeitgeschichtsanalyse war Roehler immer schon am stärksten.
Der Sohn der Autorin Gisela Elsner und des Lektors Klaus Roehler hat aus seiner Enttäuschung über die eigenen Eltern - als Künstler egozentrisch, als Paar unglücklich, als Eltern lieblos - nie einen Hehl gemacht. Die bis zu ihrem Suizid im Jahr 1992 gegen die eigene bürgerliche Herkunft rebellierende Mutter hatte die Familie früh verlassen. Der vierjährige Oskar verbrachte einige Jahre bei den reichen Großeltern, wo sich das anfängliche Glück, so liest man in "Herkunft", schnell eintrübte. Dass man über die Jahre des Erwachens auch anders, freier schreiben kann, zeigt das neue Buch, das die Ichwerdung des Protagonisten zwischen kindlichen Abenteuern, Erweckungserlebnissen und Verweigerungshaltung verortet.
"Der Mangel" ist gerade deshalb ein scharfsichtiger Bildungsroman, weil er sich weit ins Fiktive vorwagt und die drohende Nostalgie gekonnt durch psychologisch-soziologisch treffende Miniaturen ersetzt. Vor dem Panorama einer Umland-Neubausiedlung imaginiert sich der Erzähler in eine Art familiäre Notgemeinschaft hinein, die Nähe nur in homöopathischen Dosen zulässt, dafür den Kindern aber unbezahlbare Freiheiten erlaubt.
Das leicht zwielichtige, freilich auch heimelige Projekt der Kommune auf der Hut - "Hut" heißt das in den Wald gerodete Bauland - zeichnet eine eigentümliche Bescheidenheit aus: Die wortkargen Siedler fügen sich arbeitsam in ihr engbegrenztes Dasein. Umstellt und bedroht zeigt sich die Siedlung von schattenhaften, hämischen, nach Scholle und Mist riechenden Bauern, die sich insbesondere daran zu stören scheinen, dass unter den Neuen viele Zuwanderer aus Ostpreußen sind, "keine echten, richtigen Deutschen". Es ist nicht Roehlers eigene Geschichte, denn statt der vor der Verantwortung fliehenden Künstler-Eltern haben wir es mit einer identitätserschütterten bundesrepublikanischen Kleinfamilie und ihrem Traum vom Eigenheim zu tun. Der Vater im Buch, ein Akademiker zwar, aber einer, der sich arrangiert hat mit der Intellektuellenfeindlichkeit im Land, ergreift einen Wirtschaftswunder-Beruf und wird Handelsvertreter. Wenn er an den Wochenenden nach Hause kommt, umweht ihn der Glanz der weiten Welt, aber den vergällt ihm seine oft gereizte Ehefrau, die nur hin und wieder, den Vater angurrend, "das Maximum ihrer noch vorhandenen Östrogene in Aufruhr" versetzt. Der Normalfall in dieser Ehe ist der Streit.
Die von Glückssuchern besiedelte, bautechnisch ein ewiges Provisorium bleibende Lichtung über dem Dorf - eine kahle Stelle im Wald, "als wäre die Schädeldecke durchsichtig und wir könnten in das Gehirn der Landschaft hineinsehen" - hat etwas Traumartiges und Unwirkliches. Es ist ein subjektiver Erinnerungsraum, eine rein mental gerodete Stelle inmitten der späten und gar nicht nur spießigen Adenauer-Jahre, in denen noch alles offen schien: Volksgemeinschaft alten Schlages oder moderner Kapitalismus, der den "Vätern" hier höchst suspekt anmutet. Ins Individuelle gewendet waren drei Entwicklungslinien möglich: Absturz, Kollaboration mit dem System oder radikale Künstlerkarriere. Der Protagonist, Ehrensache, zielt auf Letzteres.
Wie es dazu kommt, erzählt der zweite Teil dieser Ersatzautobiographie. Es zeigt sich, dass die fast schon aspergerhafte Neigung des Protagonisten zu verlässlichen Routinen lediglich ein Reflex auf den allgegenwärtigen Mangel war und die Empfänglichkeit für jede Geistesfülle nur gesteigert hat. Hier setzt das romantische Programm der Menschenbildung an, dem sich die Erzählung in ihrem Bedürfnis nach Errettung rückhaltlos ausliefert. Der Weg führt über die Verwilderung ("Wir waren zu Tiermenschen geworden"), die Abkehr von allen Vorgaben. Einige der Siedlungskinder nämlich entdecken beim obsessiven Ausheben einer Grube eine noch ziellose, aber heroische Tatkraft in sich, die allerdings der Formung bedarf. So wichtig wird dabei eine Lehrerfigur, dass man das gesamte Buch als Eloge auf diesen intellektuellen Partisanen-Mentor lesen kann, einen Fanatiker der "Herzensbildung", der den Ausgehungerten zunächst die Weltliteratur nahebringt: "Oft las er Gedichte vor, die ihn emotional so mitrissen, dass seine Stimme brüchig wurde und er gegen die Tränen ankämpfen musste."
An der auf Subordination ausgerichteten Dorfschule vorbei bringt Lehrmeister Behrend seinen Schützlingen nahe, dass Kunst jeden Verzicht rechtfertigt, schließlich sei alles Große "trotz Krankheit, Fremdheit, Exil" entstanden. Aus dem Mangel wird ein Motor. Konsequent wandelt sich das Buch damit von heideggernder Stiefelei im Lehm der Herkunft zum existentiellen Künstlerroman. Dem Protagonisten nämlich bleibt nach einem gewaltigen Betrug, der ihn vollends aus der Bahn wirft, nur dieser eine - und nun also doch wieder der Roehler'sche - Weg: alles Erlebte und Befürchtete in echte Kunst umzumünzen. Zwischen Schreibrausch und Selbstzweifeln treibt ihn dieser Anspruch beinahe in den Wahnsinn.
Der Horror Vacui des vierundzwanzigjährigen Protagonisten vor "dem weißen Blatt Papier" ist chronologisch gesehen das Schlusstableau, und es ist nach dieser Abblende wohl an den Lesern zu entscheiden, ob die nun schon über Jahre kreisenden Suchbewegungen des Autors Roehler nur "dröhnende Leere" oder doch einen "Fußabdruck" am Berghang der wahren Kunst hinterlassen haben. Spätestens mit diesem magisch-poetischen, biographisch verspielten und virtuos ins Unterbewusstsein der deutschen Kulturnation abtauchenden Bravourstück an Selbstelevationsprosa ist Oskar Roehler dieser Überstieg gelungen, weil die zuvor zu so genialischen wie maßlosen Eruptionen geführt habende Wut hier die ihr würdige Formung erfahren hat.
OLIVER JUNGEN
Oskar Roehler: "Der Mangel". Roman.
Ullstein Verlag, Berlin 2020. 170 S., geb., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Plötzlich empfindsam: Oskar Roehler schreibt mit "Der Mangel" weiter an seiner Biographie des Widerstands
Moralisch ist das eine Zwickmühle: Darf man es insgeheim begrüßen, dass der Regisseur und Schriftsteller Oskar Roehler eine unglückliche Kindheit hatte? Andernfalls müssten wir auf eine ganze Reihe glorios-wütender, eloquent dramatischer Abrechnungen verzichten. Ob zur Weltverachtung geweitet wie in der donnernden Abrechnung mit der Filmbranche ("Selbstverfickung") oder beinahe direkt autobiographisch wie im Mutter-Film "Die Unberührbare" oder im radikalen Roman "Herkunft": Mit dem zu Lasten der Kinder gehenden Versagen des Familienmodells in der Epoche des Individualismus hat Roehler sein Lebensthema gefunden.
Noch keine seiner Annäherungen ans eigene Trauma aber war von solcher Zärtlichkeit und Sprachgewalt wie die Erzählung "Der Mangel". Was diesen Sehnsuchtstext von geradezu klassischer Weltabgewandtheit zu großer Literatur macht, ist das Raffinement, mit dem er sich zugleich als Tiefenbohrung in die Mentalitätsgeschichte der frühen Bundesrepublik erweist. In der Zeitgeschichtsanalyse war Roehler immer schon am stärksten.
Der Sohn der Autorin Gisela Elsner und des Lektors Klaus Roehler hat aus seiner Enttäuschung über die eigenen Eltern - als Künstler egozentrisch, als Paar unglücklich, als Eltern lieblos - nie einen Hehl gemacht. Die bis zu ihrem Suizid im Jahr 1992 gegen die eigene bürgerliche Herkunft rebellierende Mutter hatte die Familie früh verlassen. Der vierjährige Oskar verbrachte einige Jahre bei den reichen Großeltern, wo sich das anfängliche Glück, so liest man in "Herkunft", schnell eintrübte. Dass man über die Jahre des Erwachens auch anders, freier schreiben kann, zeigt das neue Buch, das die Ichwerdung des Protagonisten zwischen kindlichen Abenteuern, Erweckungserlebnissen und Verweigerungshaltung verortet.
"Der Mangel" ist gerade deshalb ein scharfsichtiger Bildungsroman, weil er sich weit ins Fiktive vorwagt und die drohende Nostalgie gekonnt durch psychologisch-soziologisch treffende Miniaturen ersetzt. Vor dem Panorama einer Umland-Neubausiedlung imaginiert sich der Erzähler in eine Art familiäre Notgemeinschaft hinein, die Nähe nur in homöopathischen Dosen zulässt, dafür den Kindern aber unbezahlbare Freiheiten erlaubt.
Das leicht zwielichtige, freilich auch heimelige Projekt der Kommune auf der Hut - "Hut" heißt das in den Wald gerodete Bauland - zeichnet eine eigentümliche Bescheidenheit aus: Die wortkargen Siedler fügen sich arbeitsam in ihr engbegrenztes Dasein. Umstellt und bedroht zeigt sich die Siedlung von schattenhaften, hämischen, nach Scholle und Mist riechenden Bauern, die sich insbesondere daran zu stören scheinen, dass unter den Neuen viele Zuwanderer aus Ostpreußen sind, "keine echten, richtigen Deutschen". Es ist nicht Roehlers eigene Geschichte, denn statt der vor der Verantwortung fliehenden Künstler-Eltern haben wir es mit einer identitätserschütterten bundesrepublikanischen Kleinfamilie und ihrem Traum vom Eigenheim zu tun. Der Vater im Buch, ein Akademiker zwar, aber einer, der sich arrangiert hat mit der Intellektuellenfeindlichkeit im Land, ergreift einen Wirtschaftswunder-Beruf und wird Handelsvertreter. Wenn er an den Wochenenden nach Hause kommt, umweht ihn der Glanz der weiten Welt, aber den vergällt ihm seine oft gereizte Ehefrau, die nur hin und wieder, den Vater angurrend, "das Maximum ihrer noch vorhandenen Östrogene in Aufruhr" versetzt. Der Normalfall in dieser Ehe ist der Streit.
Die von Glückssuchern besiedelte, bautechnisch ein ewiges Provisorium bleibende Lichtung über dem Dorf - eine kahle Stelle im Wald, "als wäre die Schädeldecke durchsichtig und wir könnten in das Gehirn der Landschaft hineinsehen" - hat etwas Traumartiges und Unwirkliches. Es ist ein subjektiver Erinnerungsraum, eine rein mental gerodete Stelle inmitten der späten und gar nicht nur spießigen Adenauer-Jahre, in denen noch alles offen schien: Volksgemeinschaft alten Schlages oder moderner Kapitalismus, der den "Vätern" hier höchst suspekt anmutet. Ins Individuelle gewendet waren drei Entwicklungslinien möglich: Absturz, Kollaboration mit dem System oder radikale Künstlerkarriere. Der Protagonist, Ehrensache, zielt auf Letzteres.
Wie es dazu kommt, erzählt der zweite Teil dieser Ersatzautobiographie. Es zeigt sich, dass die fast schon aspergerhafte Neigung des Protagonisten zu verlässlichen Routinen lediglich ein Reflex auf den allgegenwärtigen Mangel war und die Empfänglichkeit für jede Geistesfülle nur gesteigert hat. Hier setzt das romantische Programm der Menschenbildung an, dem sich die Erzählung in ihrem Bedürfnis nach Errettung rückhaltlos ausliefert. Der Weg führt über die Verwilderung ("Wir waren zu Tiermenschen geworden"), die Abkehr von allen Vorgaben. Einige der Siedlungskinder nämlich entdecken beim obsessiven Ausheben einer Grube eine noch ziellose, aber heroische Tatkraft in sich, die allerdings der Formung bedarf. So wichtig wird dabei eine Lehrerfigur, dass man das gesamte Buch als Eloge auf diesen intellektuellen Partisanen-Mentor lesen kann, einen Fanatiker der "Herzensbildung", der den Ausgehungerten zunächst die Weltliteratur nahebringt: "Oft las er Gedichte vor, die ihn emotional so mitrissen, dass seine Stimme brüchig wurde und er gegen die Tränen ankämpfen musste."
An der auf Subordination ausgerichteten Dorfschule vorbei bringt Lehrmeister Behrend seinen Schützlingen nahe, dass Kunst jeden Verzicht rechtfertigt, schließlich sei alles Große "trotz Krankheit, Fremdheit, Exil" entstanden. Aus dem Mangel wird ein Motor. Konsequent wandelt sich das Buch damit von heideggernder Stiefelei im Lehm der Herkunft zum existentiellen Künstlerroman. Dem Protagonisten nämlich bleibt nach einem gewaltigen Betrug, der ihn vollends aus der Bahn wirft, nur dieser eine - und nun also doch wieder der Roehler'sche - Weg: alles Erlebte und Befürchtete in echte Kunst umzumünzen. Zwischen Schreibrausch und Selbstzweifeln treibt ihn dieser Anspruch beinahe in den Wahnsinn.
Der Horror Vacui des vierundzwanzigjährigen Protagonisten vor "dem weißen Blatt Papier" ist chronologisch gesehen das Schlusstableau, und es ist nach dieser Abblende wohl an den Lesern zu entscheiden, ob die nun schon über Jahre kreisenden Suchbewegungen des Autors Roehler nur "dröhnende Leere" oder doch einen "Fußabdruck" am Berghang der wahren Kunst hinterlassen haben. Spätestens mit diesem magisch-poetischen, biographisch verspielten und virtuos ins Unterbewusstsein der deutschen Kulturnation abtauchenden Bravourstück an Selbstelevationsprosa ist Oskar Roehler dieser Überstieg gelungen, weil die zuvor zu so genialischen wie maßlosen Eruptionen geführt habende Wut hier die ihr würdige Formung erfahren hat.
OLIVER JUNGEN
Oskar Roehler: "Der Mangel". Roman.
Ullstein Verlag, Berlin 2020. 170 S., geb., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Marie Schmidt liest zwei Familienromane, die ihr zeigen, wie wenig selbst die Nachkriegszeit vergehen will. Bei Oskar Roehler trifft sie das Unverarbeitete mit voller Wucht. Roehler schreibt ein weiteres Mal an seiner Familiengeschichte, mit der Mutter Gisela Elsner und dem Vater Klaus Roehler. Der Schock der Herkunft sei hier noch voll und ganz spürbar, meint Schmidt. Was sie allerdings enorm irritiert ist das chorische Wir, zu dem Roehler immer wieder anhebt: Meint er damit seine Kinderbande, die fränkische Provinz, die junge Bundesrepublik? Wer sind die Väter? Noch seltsamer, geradezu "ekelerregend" nennt Schmidt eine "Vermischung der Semantiken", wenn Roehler die Opferhaltung der Deutschen nachahmt und sich dabei die Sprache von Holocaust-Überlebenden aneignet. Dann schreibe er von Kindern, die am ersten Schultag auf dem Appellplatz antreten müssen und anschließend in der Diktion von Paul Celans Todesfuge im Schlamm buddeln: "Wir schaufeltenn und schaufelten."
© Perlentaucher Medien GmbH
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