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Bevor Paul Erdös 1996 im Alter von 83 Jahren starb, hatte er über mehr mathematische Probleme nachgedacht als irgendein Wissenschaftler vor ihm. Er war verliebt in die einfachen Zahlen, zerbrach sich den Kopf darüber, ob es unendlich viele Primzahlen gab oder nicht. Er grübelte über sogenannte Vollkommene Zahlen, die sich dadurch auszeichnen, dass die Summe ihrer Divisoren wieder die Ausgangszahl ergibt. Paul Erdös verfaßte über tausend Aufsätze und überraschte immer wieder mit neuen Einsichten in die Gesetzmäßigkeiten der Zahlen. Paul Hoffman hat Erdös mehrmals getroffen. In dieser…mehr

Produktbeschreibung
Bevor Paul Erdös 1996 im Alter von 83 Jahren starb, hatte er über mehr mathematische Probleme nachgedacht als irgendein Wissenschaftler vor ihm. Er war verliebt in die einfachen Zahlen, zerbrach sich den Kopf darüber, ob es unendlich viele Primzahlen gab oder nicht. Er grübelte über sogenannte Vollkommene Zahlen, die sich dadurch auszeichnen, dass die Summe ihrer Divisoren wieder die Ausgangszahl ergibt. Paul Erdös verfaßte über tausend Aufsätze und überraschte immer wieder mit neuen Einsichten in die Gesetzmäßigkeiten der Zahlen. Paul Hoffman hat Erdös mehrmals getroffen. In dieser faszinierenden Biographie zeichnet er ein lebendiges Bild von der Person und der Arbeit des großen Mathematikers.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.07.1999

Ach so, Sie sind Ungar, das ist etwas anderes
Aber der Mathematiker Paul Erdös benahm sich selbst dafür reichlich ungeniert

Wenn es Leben auf anderen Planeten gibt, warum sind die Außerirdischen noch nicht hier? Eine plausible Antwort auf diese Frage: Sie sind hier, und sie nennen sich Ungarn. Es kann kein Zufall sein, daß von den exzentrischeren Personen, die der Rezensent in den letzten Jahren kennengelernt hat, gleich fünf aus dem kleinen Land stammen: Viktor, Susanna, Nicolette, Tibor und last not least Gabriel, genannt die Gulaschkanone. Auch an den mathematischen Fakultäten der Universitäten in aller Welt kennt man das Phänomen. Schon immer waren überproportional viele Ungarn unter den ausländischen Professoren. Vielleicht hatte man aber auch nur diesen Eindruck, weil sie sich reichlich ungeniert benommen haben.

Von dem bekanntesten dieser Exzentriker berichtet Paul Hoffman in seinem schön bebilderten Buch "Der Mann, der die Zahlen liebte". Paul Erdös war bis zu seinem Tod 1996 so etwas wie der Hofnarr der internationalen mathematischen Gemeinschaft. Er war nirgendwo zu Hause. Statt dessen reiste er mit minimalem Gepäck von einer Universität zur nächsten. Er hielt Vorträge und schrieb Hunderte von Veröffentlichungen zusammen mit anderen Wissenschaftlern.

Erdös war nicht "der genialste Mathematiker des 20. Jahrhunderts", wie Hoffman einmal schreibt. Er war aber mit Sicherheit ein hervorragender Vertreter seines Berufsstands und dazu einer der produktivsten. Für ihn gab es, vor allem in seinen letzten Jahren, nichts außer seiner Wissenschaft. Wenn er nicht schlief, arbeitete er. Während seines ganzen Lebens hatte er nie sexuellen Kontakt mit irgendeinem anderen Menschen. Die Namen seiner Mitarbeiter konnte er sich nicht merken, wohl aber ihre Telefonnummern. Die einzige Person, die er beim Vornamen nannte, war Tom Trotter, und den nannte er versehentlich Bill. Eine notwendige Augenoperation zögerte er hinaus, und als es dann doch soweit war, wollte er während des zweistündigen Eingriffs unbedingt mit dem gesunden Auge lesen. Schließlich ließ der genervte Chirurg einen Mathematiker kommen, der den Patienten mit einem wissenschaftlichen Gespräch ruhigstellte.

Er wurde am 26. März 1913 in Budapest geboren und war ein ausgesprochenes Muttersöhnchen. Die Schule besuchte Erdös nur selten, weil seine Mutter Angst vor Infektionen hatte und er deshalb hauptsächlich zu Hause erzogen wurde. Sein erstes Butterbrot schmierte er sich mit zwanzig. Er war sehr erstaunt, wie einfach das ging. Von 1964 an begleitete ihn die damals bereits vierundachtzigjährige Mutter auf allen seinen Reisen. Bis zu ihrem Tod 1971 wich sie nicht von seiner Seite. Sie verstand zwar kaum Englisch, aber sie war glücklich, wenn sie sich in seinem Ruhm sonnen konnte. Nach ihrem Tod wurde er medikamentenabhängig.

Auch das Englisch des Sohns blieb mangelhaft, obwohl er sich hauptsächlich in diesem Idiom verständigte. Sein Akzent war nahezu undurchdringlich. Dazu kam, daß er schon früh seine eigene Geheimsprache entwickelt hatte. Statt Frau sagte er Boss, statt Mann Sklave. Ein Kind war für ihn ein Epsilon, weil so in der Analysis oft eine besonders kleine Größe bezeichnet wird. Einen Vortrag halten nannte er Predigen. Wein, Weib und Gesang waren für ihn Gift, Boss und Krach. Wenn es zum Essen Fleisch gab, fragte er: "Vot vuz zat ven it vuz live?", "Was war das, als es noch lebte?"

Die Vereinigten Staaten nannte er Samland und die Sowjetunion Joedom. Und mit beiden, mit Sam und mit Joe, hatte er seine Probleme. Joe Stalin setzte nach dem Zweiten Weltkrieg in Ungarn den Terror der Nazis nahtlos fort. Und Uncle Sam war nicht in der Lage, in ihm den harmlosen Spinner zu erkennen, der er war. Ein Ausländer, der Marx für einen bedeutenden Mann hielt und viele Freunde im Ostblock hatte, war für Sams Bürokraten zweifellos ein Hochverräter. Von 1954 bis 1959 verweigerten sie ihm mit fadenscheinigen Begründungen die Einreise.

Aber wir dürfen über dem Menschen nicht den Mathematiker vergessen. Erdös liebte vor allem die natürlichen Zahlen. Sein berühmtestes Resultat ist wohl ein elementarer Beweis des Primzahlsatzes, der Aussagen über die Häufigkeit der Primzahlen macht. "Elementar" heißt in diesem Zusammenhang nicht "einfach", sondern daß man nur bestimmte elementare Methoden, die dem Problem angemessen sind, verwendet. Um es mit einer banalen Analogie zu erklären: Wer von München nach Augsburg mit dem Hubschraubter fliegt, verwendet unnötigerweise die dritte Dimension. Wer den Zug nimmt, löst das gleiche Problem auf elementare Weise auf der zweidimensionalen Oberfläche der Erdkugel.

Nach Frank Ramsey, einem Atheisten, dessen Bruder Erzbischof von Canterbury war, ist die sogenannte Ramsey-Theorie benannt. Ein typisches Ergebnis ist das folgende: In einer Gruppe von achtzehn Personen gibt es immer vier Leute, die sich alle gegenseitig kennen, oder vier, von denen keiner irgendeinen der drei anderen kennt. Dabei ist die achtzehn minimal; mit siebzehn Leuten statt achtzehn ist die Aussage falsch. Wenn man in der Aussage "vier" durch "fünf" ersetzt, dann ist nicht bekannt, durch welche Zahl man die "achtzehn" ersetzen muß. Man schätzt, daß es noch hundert Jahre dauern kann, bis man dieses Problem gelöst hat. Man kann nicht einfach alle Möglichkeiten durchprobieren, denn es sind selbst dann zu viele, wenn man alle Computer zu Hilfe nehmen könnte, die es gibt.

Solche Aufgaben sind typisch für das, was Erdös interessiert hat. Sie sind einfach zu formulieren, verwenden nur die natürlichen Zahlen und sind alles andere als trivial. Erdös arbeitete an solchen Fragestellungen zusammen mit Hunderten von Kollegen auf der ganzen Welt, oft mit mehreren gleichzeitig wie ein Simultan-Schachspieler. Dabei war er wohl meistens derjenige, der die entscheidenden Ideen hatte, aber er war nie sehr auf seinen persönlichen Ruhm bedacht. Einen großen Teil des Geldes, das er verdiente, verschenkte er an Bedürftige.

Der Titel von Hoffmans Buch ist leider irreführend. Es handelt sich nur zum Teil um eine Biographie des großen Ungarn. Vielleicht war das Material dafür nicht umfangreich genug. Deshalb hat der Autor noch vieles andere über Mathematiker und ihre persönliche Spielart der Mathematik hinzugefügt. Diese Dinge haben mit Erdös nur insoweit etwas zu tun, als sie die Welt beschreiben, in der er lebte. Wer sie nicht schon kennt, wird sie vermutlich hochinteressant finden, aber es handelt sich trotzdem um Etikettenschwindel. Wer mit Martini handelt, sollte nicht "Gin" auf die Flaschen schreiben.

Ein naiver Leser wird vielleicht nach der Lektüre des Buchs einen falschen Eindruck davon haben, wie es in der mathematischen Forschung zugeht. Hoffman schildert hauptsächlich die Freaks, die es zwar gibt, aber nur als kleine Minderheit. Der Alltag an den Universitäten ist anders. Viele treiben nicht Mathematik um der Mathematik willen, sondern hauptsächlich, weil sie Karriere machen und Ruhm und Macht mehren wollen. Beispielsweise können die Fachbereichsräte lange und hingebungsvoll über Fragen diskutieren wie die, ob man die Ordinarien im Vorlesungsverzeichnis zuerst nennen soll.

In diesem Überlebenskampf ist es natürlich eine willkommene Entspannung, wenn ein Gast von außerhalb kommt, der auf seine Art den Wissenschaftszirkus ad absurdum führt. So einen muß man nicht begutachten, er braucht keine der umkämpften Planstellen, und das Geld fürs Kolloquium ist eh zweckgebunden. Der Professor, der vielleicht einen Herzanfall bekommen würde, wenn sein Assistent versehentlich mit einem Schlafanzugoberteil statt eines Hemds erschiene, findet dergleichen bei jemandem wie Erdös urkomisch. Endlich darf er einmal Mensch sein. Als Agens der Autokatharsis hat der Wanderprediger seine ökologische Nische gefunden.

ERNST HORST

Paul Hoffman: "Der Mann, der die Zahlen liebte". Die erstaunliche Geschichte des Paul Erdös und die Suche nach der Schönheit in der Mathematik. Aus dem Amerikanischen von Regina Schneider. Ullstein Verlag, Berlin 1999. 357 S., Abb., geb., 39,90 DM.

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