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Worpswas? Worpswede!
Ausgerechnet als Paul Wendland mit seinem Leben und seinen kuriosen Kunstprojekten in die Zukunft starten will, holt ihn die Vergangenheit ein: In Worpswede drohen das Haus seines Großvaters und sein Erbe im Moor zu versinken. Die Reise zurück an den Ort der Kindheit zwischen mörderischem Teufelsmoor, norddeutschem Butterkuchen und traditionsumwitterter Künstlerkolonie nimmt eine verhängnisvolle Wendung ...
Mit seinem furiosen Romandebüt hat Moritz Rinke bereits unzählige Leser begeistert. Mit hinreißender Tragikomik erzählt er von unheimlichen Familiengeheimnissen, vom Künstlerleben, von Ruhm, Verführung und Vergänglichkeit, vom Lieben und Verlassenwerden und von einem Dorf im hohen Norden, das berühmt ist für seinen Himmel und das flache Land.
Worpswas? Worpswede!
Ausgerechnet als Paul Wendland mit seinem Leben und seinen kuriosen Kunstprojekten in die Zukunft starten will, holt ihn die Vergangenheit ein: In Worpswede drohen das Haus seines Großvaters und sein Erbe im Moor zu versinken. Die Reise zurück an den Ort der Kindheit zwischen mörderischem Teufelsmoor, norddeutschem Butterkuchen und traditionsumwitterter Künstlerkolonie nimmt eine verhängnisvolle Wendung ...
Mit seinem furiosen Romandebüt hat Moritz Rinke bereits unzählige Leser begeistert. Mit hinreißender Tragikomik erzählt er von unheimlichen Familiengeheimnissen, vom Künstlerleben, von Ruhm, Verführung und Vergänglichkeit, vom Lieben und Verlassenwerden und von einem Dorf im hohen Norden, das berühmt ist für seinen Himmel und das flache Land.
»Stets gibt es noch ein Anekdötchen, einen Anruf, eine Nachricht, eine Wendung oder einen Appendix. Dieser Erzähler hat immer noch eine Karte im Ärmel.« Die Welt am Sonntag
"Wunderbar skurrile Figuren, unglaublich fantastische Geschichten. Der Schluss ist atemberaubend!" Mario Adorf
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.02.2010Die Rache des Himmelsmalers
Eine tapfere Wanderung durchs Teufelsmoor der Anekdoten: Moritz Rinkes Worpswede-Roman „Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel”
Im Wikipedia-Eintrag zu Worpswede findet sich der begnadete Satz: „Der Ort profitiert landschaftlich von einer 51 Meter hohen Erhebung, dem Weyerberg, der die ansonsten flache Umgebung überragt.” Aus dem in künstlerischer Hinsicht längst ziemlich erhebungsarmen Areal der einstigen Malerkolonie ragt seit Mitte der neunziger Jahre der Dramatiker Moritz Rinke, ein waschechter, waldorfbeschulter Worpsweder mit Wohnsitz in Berlin, geradezu weyerbergmäßig hervor. Kunst und Handwerk liegen ihm im Blut, denn der Maler Lovis Corinth zählt zu seinen Vorfahren mütterlicherseits, und sein Vater, ein Goldschmied, entwarf und fertigt alljährlich den „Goslarer Kaiserring”, eine international renommierte Auszeichnung für zeitgenössische Künstler, die allerdings nie an einen Worpsweder ging.
Außer dem Text für die modernisierten Nibelungenfestspiele zu Worms verdanken wir Moritz Rinke eine Reihe mehr oder weniger geistreicher Bühnenstücke, aber in den in den letzten Jahren ist es stiller um ihn geworden. Was Wunder, hat er sich doch ans Unvermeidliche gewagt – den ersten und wahrscheinlich ultimativen Worpswede-Monumentalroman, ein fast fünfhundertseitiges Werk, in dem der Autor seine Kindheits- und Jugenderinnerungen an das selbsternannte „Weltdorf” im Teufelsmoor verarbeitet und ein für allemal die Frage beantwortet, mit der nicht nur bornierte Hauptstädter auf die Erwähnung seines Herkunftsortes zu reagieren pflegen: „Worpswas?”
Man muss es freilich nicht gleich so weit treiben wie die Frankfurter Allge-meine Zeitung, die jüngst behauptete, Worpswede sei „vor hundert Jahren von Fritz Mackensen gegründet” worden. Letzterer war ja nicht etwa Moorkolonisator, sondern Landschaftsmaler und brauchte als Hintergrund für seine Tätigkeit ein funktionierendes Gemeinwesen. Als er sich 1884 von der Kaufmannstochter Mimi Stolte in die niedersächsische Moorsiedlung locken ließ, blickte man dort schon auf eine aufregende Vergangenheit zurück: Anno 1218 erstmals urkundlich erwähnt, war das Dorf im Dreißigjährigen Krieg unter schwedische Herrschaft geraten, und um die Mitte des 18. Jahrhunderts hatte ein Wasserbauingenieur die umliegenden Moorflächen trockengelegt, weshalb man später auf besagtem Weyerberg einen Obelisk zu seinem Gedenken errichtete.
Das größte Ereignis in der worpswedi-schen Geschichte war aber die Gründung jener „Künstlervereinigung”, zu der neben Mackensen die Maler Hans am Ende und Otto Modersohn gehörten, außerdem Fritz Overbeck, das Multitalent Heinrich Vogeler und später die aus heutiger Sicht alle überflügelnde Paula Modersohn-Becker. Auch der Vogeler-Freund Rilke, der sich im benachbarten Westerwede auf ein kurzes Eheleben mit der Bildhauerin Clara Westhoff einließ, trug zum Glanz der Episode bei. Sie währte kaum zwei Jahrzehnte – und wurde später, als ihr Initiator Mackensen in Bremen die Nordische Kunstschule aufbaute, dem antisemitischen Kampfbund für Deutsche Kultur sowie der NSDAP beitrat und schließlich auf Hitlers „Gottbegnadeten-Liste” der wichtigsten Maler landete, dunkelbraun überschattet.
Die leicht hybride Blauäugigkeit, mit der die Worpsweder sich bis heute im Nachruhm jener heterogenen Fin-de-siècle-Gruppe sonnen und ihn touristisch vermarkten, ist dem heranwachsenden Moritz Rinke offenbar ebenso auf die Nerven gegangen wie das Gebaren einer epigonalen Bohème, die das eigene Provinzlertum verkennt und sich über Rentner-Reisegruppen, hysterische Paula-Pilgerinnen und Maldilettanten mokiert. Andererseits verfügt der Autor über einen Schatz von originellen Reminiszenzen und Anekdoten, denn trotz allem ist nicht zu leugnen, dass der kleine Ort am Weyerberg sich vom nüchtern-norddeutschen Umfeld durch eine besondere Aura abhebt.
Von Städtern und Torfbauern
Daran sind ein paar fremdartig urbane Hinterlassenschaften von Baukünstlern wie Heinrich Vogeler, Bernhard Hoetger oder Bruno Taut beteiligt, aber auch besondere Lichtverhältnisse, die bewirken, dass der Himmel über Worpswede „immer so glänzte, schimmerte, brannte, kämpfte und trauerte”, wie es bei Rinke halb spöttisch, halb ergriffen heißt. Die Dichte an skurrilen Gestalten und grenzwertigen Figuren ist höher als anderswo, und die Kollision von zugezogenen Städtern und sturköpfigen Torfbauern-Enkeln mündet noch immer in Situationen von eigenem Charme.
Dass sich aus all dem ein Romanstoff destillieren lässt, steht außer Zweifel. Die Frage ist indes, wie man ihn so organisiert, dass er nicht nur Worpswede-Kenner oder ein bestimmtes Publikum im nahen Bremen unterhält. Moritz Rinke hat es mit einem Spagat zwischen Berlin und dem Teufelsmoor versucht. Sein Held und Alter Ego Paul Wendland-Kück ist ein erfolgloser Galerist und typischer Latte-macchiato-Trinker, der sich in windigen Projekten verzettelt und vergeblich versucht, sein Lebenschaos mit Hilfe von Notizen, Listen, SMS und Google in den Griff zu bekommen. Weder kann er seine Freundin Christina davon abhalten, ohne ihn nach Barcelona umzuziehen, noch seiner freakig-alternativen, auf Fuerteventura residierenden Mutter widerstehen, als sie ihn bittet, sich um das einsturzgefährdete Worpsweder Familienanwesen zu kümmern. Trotz seiner „Moorallergie” kehrt er zurück an die Stätte seiner Kindheit, veranlasst eine Fundament-Sanierung der mählich versinkenden Gebäude und wird dabei zum Familienarchäologen wider Willen, der altes Gerümpel, historisch bedeutsame Souvenirs und düstere Geheimnisse zutage fördert.
Als Bühnenautor ist Moritz Rinke geübt im Erfinden von Figuren, das immerhin merkt man seinem Romanpersonal an. Den Wahlberliner, der die Moorleichen im Keller seiner Vorfahren entdeckt, umwuseln in leibhaftiger Gegenwart und lebhafter Erinnerung einige gelungene Bastarde aus Worpsweder Realität und kühner Fiktion. Unter den Lebenden ist es vor allem Nullkück, der kindlich-kauzige Vetter oder Onkel, von dem niemand recht weiß, wie er in die Familie kam, ein sanfter Dorftrottel mit erstaunlichem Sprachvermögen.
Aber auch der abgewrackte Himmelsmaler Peter Ohlrogge, dem Pauls Mutter vor vierzig Jahren den Laufpass gab und der seitdem, stetig auf Rache sinnend, zwischen seinem Messie-Häuschen und dem ländlichen Bordell pendelt, könnte dem Leser ans Herz wachsen. Worpswedes brauner Sumpf, im „staatlich anerkannten Erholungsort” hartnäckig verdrängt, gewinnt komische Konturen in Pauls seligem Großvater, dem „Rodin des Nordens”, der, wie bei den Ausgrabungen ans Licht kommt, nicht nur Berühmtheiten wie Luther und Nietzsche, Willy Brandt und Ringo Starr in lebensgroßen Bronzesskulpturen verewigt hat, sondern auch Nazi-Prominenz.
Rinkes Problem als Prosaschriftsteller ist, dass weder Dramaturg noch Regisseur eingegriffen haben, um die Flut seiner Einfälle in Gräben und Kanäle zu lenken, wo sie zur Ruhe kommen und ein wenig Tiefe hätte zeigen können. So versickert und versandet alles in einem ausufernden Zwitter aus Heimatepos und Volkstheater, der, mit putzigem Lokalkolorit überfrachtet, auch durch das Gründeln in schwersymbolischen Anspielungen nicht mehr zu retten war. Worpswede hat jetzt einen Roman mit hohem Wiedererkennungswert, aber Moritz Rinke wird sich seine Kenntlichkeit als Romancier erst noch erschreiben müssen. KRISTINA MAIDT-ZINKE
MORITZ RINKE: Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel. Roman. Verlag Kiepenheuer und Witsch, Köln 2010. 490 Seiten, 19,95 Euro.
Moritz Rinke Foto: Joscha Jenneßen
„Der Himmel glänzte, schimmerte, trauerte”: das Teufelsmoor in der Nähe des Künstlerdorfs Worpswede Foto: dpa
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Eine tapfere Wanderung durchs Teufelsmoor der Anekdoten: Moritz Rinkes Worpswede-Roman „Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel”
Im Wikipedia-Eintrag zu Worpswede findet sich der begnadete Satz: „Der Ort profitiert landschaftlich von einer 51 Meter hohen Erhebung, dem Weyerberg, der die ansonsten flache Umgebung überragt.” Aus dem in künstlerischer Hinsicht längst ziemlich erhebungsarmen Areal der einstigen Malerkolonie ragt seit Mitte der neunziger Jahre der Dramatiker Moritz Rinke, ein waschechter, waldorfbeschulter Worpsweder mit Wohnsitz in Berlin, geradezu weyerbergmäßig hervor. Kunst und Handwerk liegen ihm im Blut, denn der Maler Lovis Corinth zählt zu seinen Vorfahren mütterlicherseits, und sein Vater, ein Goldschmied, entwarf und fertigt alljährlich den „Goslarer Kaiserring”, eine international renommierte Auszeichnung für zeitgenössische Künstler, die allerdings nie an einen Worpsweder ging.
Außer dem Text für die modernisierten Nibelungenfestspiele zu Worms verdanken wir Moritz Rinke eine Reihe mehr oder weniger geistreicher Bühnenstücke, aber in den in den letzten Jahren ist es stiller um ihn geworden. Was Wunder, hat er sich doch ans Unvermeidliche gewagt – den ersten und wahrscheinlich ultimativen Worpswede-Monumentalroman, ein fast fünfhundertseitiges Werk, in dem der Autor seine Kindheits- und Jugenderinnerungen an das selbsternannte „Weltdorf” im Teufelsmoor verarbeitet und ein für allemal die Frage beantwortet, mit der nicht nur bornierte Hauptstädter auf die Erwähnung seines Herkunftsortes zu reagieren pflegen: „Worpswas?”
Man muss es freilich nicht gleich so weit treiben wie die Frankfurter Allge-meine Zeitung, die jüngst behauptete, Worpswede sei „vor hundert Jahren von Fritz Mackensen gegründet” worden. Letzterer war ja nicht etwa Moorkolonisator, sondern Landschaftsmaler und brauchte als Hintergrund für seine Tätigkeit ein funktionierendes Gemeinwesen. Als er sich 1884 von der Kaufmannstochter Mimi Stolte in die niedersächsische Moorsiedlung locken ließ, blickte man dort schon auf eine aufregende Vergangenheit zurück: Anno 1218 erstmals urkundlich erwähnt, war das Dorf im Dreißigjährigen Krieg unter schwedische Herrschaft geraten, und um die Mitte des 18. Jahrhunderts hatte ein Wasserbauingenieur die umliegenden Moorflächen trockengelegt, weshalb man später auf besagtem Weyerberg einen Obelisk zu seinem Gedenken errichtete.
Das größte Ereignis in der worpswedi-schen Geschichte war aber die Gründung jener „Künstlervereinigung”, zu der neben Mackensen die Maler Hans am Ende und Otto Modersohn gehörten, außerdem Fritz Overbeck, das Multitalent Heinrich Vogeler und später die aus heutiger Sicht alle überflügelnde Paula Modersohn-Becker. Auch der Vogeler-Freund Rilke, der sich im benachbarten Westerwede auf ein kurzes Eheleben mit der Bildhauerin Clara Westhoff einließ, trug zum Glanz der Episode bei. Sie währte kaum zwei Jahrzehnte – und wurde später, als ihr Initiator Mackensen in Bremen die Nordische Kunstschule aufbaute, dem antisemitischen Kampfbund für Deutsche Kultur sowie der NSDAP beitrat und schließlich auf Hitlers „Gottbegnadeten-Liste” der wichtigsten Maler landete, dunkelbraun überschattet.
Die leicht hybride Blauäugigkeit, mit der die Worpsweder sich bis heute im Nachruhm jener heterogenen Fin-de-siècle-Gruppe sonnen und ihn touristisch vermarkten, ist dem heranwachsenden Moritz Rinke offenbar ebenso auf die Nerven gegangen wie das Gebaren einer epigonalen Bohème, die das eigene Provinzlertum verkennt und sich über Rentner-Reisegruppen, hysterische Paula-Pilgerinnen und Maldilettanten mokiert. Andererseits verfügt der Autor über einen Schatz von originellen Reminiszenzen und Anekdoten, denn trotz allem ist nicht zu leugnen, dass der kleine Ort am Weyerberg sich vom nüchtern-norddeutschen Umfeld durch eine besondere Aura abhebt.
Von Städtern und Torfbauern
Daran sind ein paar fremdartig urbane Hinterlassenschaften von Baukünstlern wie Heinrich Vogeler, Bernhard Hoetger oder Bruno Taut beteiligt, aber auch besondere Lichtverhältnisse, die bewirken, dass der Himmel über Worpswede „immer so glänzte, schimmerte, brannte, kämpfte und trauerte”, wie es bei Rinke halb spöttisch, halb ergriffen heißt. Die Dichte an skurrilen Gestalten und grenzwertigen Figuren ist höher als anderswo, und die Kollision von zugezogenen Städtern und sturköpfigen Torfbauern-Enkeln mündet noch immer in Situationen von eigenem Charme.
Dass sich aus all dem ein Romanstoff destillieren lässt, steht außer Zweifel. Die Frage ist indes, wie man ihn so organisiert, dass er nicht nur Worpswede-Kenner oder ein bestimmtes Publikum im nahen Bremen unterhält. Moritz Rinke hat es mit einem Spagat zwischen Berlin und dem Teufelsmoor versucht. Sein Held und Alter Ego Paul Wendland-Kück ist ein erfolgloser Galerist und typischer Latte-macchiato-Trinker, der sich in windigen Projekten verzettelt und vergeblich versucht, sein Lebenschaos mit Hilfe von Notizen, Listen, SMS und Google in den Griff zu bekommen. Weder kann er seine Freundin Christina davon abhalten, ohne ihn nach Barcelona umzuziehen, noch seiner freakig-alternativen, auf Fuerteventura residierenden Mutter widerstehen, als sie ihn bittet, sich um das einsturzgefährdete Worpsweder Familienanwesen zu kümmern. Trotz seiner „Moorallergie” kehrt er zurück an die Stätte seiner Kindheit, veranlasst eine Fundament-Sanierung der mählich versinkenden Gebäude und wird dabei zum Familienarchäologen wider Willen, der altes Gerümpel, historisch bedeutsame Souvenirs und düstere Geheimnisse zutage fördert.
Als Bühnenautor ist Moritz Rinke geübt im Erfinden von Figuren, das immerhin merkt man seinem Romanpersonal an. Den Wahlberliner, der die Moorleichen im Keller seiner Vorfahren entdeckt, umwuseln in leibhaftiger Gegenwart und lebhafter Erinnerung einige gelungene Bastarde aus Worpsweder Realität und kühner Fiktion. Unter den Lebenden ist es vor allem Nullkück, der kindlich-kauzige Vetter oder Onkel, von dem niemand recht weiß, wie er in die Familie kam, ein sanfter Dorftrottel mit erstaunlichem Sprachvermögen.
Aber auch der abgewrackte Himmelsmaler Peter Ohlrogge, dem Pauls Mutter vor vierzig Jahren den Laufpass gab und der seitdem, stetig auf Rache sinnend, zwischen seinem Messie-Häuschen und dem ländlichen Bordell pendelt, könnte dem Leser ans Herz wachsen. Worpswedes brauner Sumpf, im „staatlich anerkannten Erholungsort” hartnäckig verdrängt, gewinnt komische Konturen in Pauls seligem Großvater, dem „Rodin des Nordens”, der, wie bei den Ausgrabungen ans Licht kommt, nicht nur Berühmtheiten wie Luther und Nietzsche, Willy Brandt und Ringo Starr in lebensgroßen Bronzesskulpturen verewigt hat, sondern auch Nazi-Prominenz.
Rinkes Problem als Prosaschriftsteller ist, dass weder Dramaturg noch Regisseur eingegriffen haben, um die Flut seiner Einfälle in Gräben und Kanäle zu lenken, wo sie zur Ruhe kommen und ein wenig Tiefe hätte zeigen können. So versickert und versandet alles in einem ausufernden Zwitter aus Heimatepos und Volkstheater, der, mit putzigem Lokalkolorit überfrachtet, auch durch das Gründeln in schwersymbolischen Anspielungen nicht mehr zu retten war. Worpswede hat jetzt einen Roman mit hohem Wiedererkennungswert, aber Moritz Rinke wird sich seine Kenntlichkeit als Romancier erst noch erschreiben müssen. KRISTINA MAIDT-ZINKE
MORITZ RINKE: Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel. Roman. Verlag Kiepenheuer und Witsch, Köln 2010. 490 Seiten, 19,95 Euro.
Moritz Rinke Foto: Joscha Jenneßen
„Der Himmel glänzte, schimmerte, trauerte”: das Teufelsmoor in der Nähe des Künstlerdorfs Worpswede Foto: dpa
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.03.2010Liebe, Bier und Wahrheit
Hermann Kant erfindet sich ein Heldenleben, Moritz Rinke wird unter Symbolen begraben, Anne Weber verliert sich an den falschen Prinzen, und Frank Schulz trinkt und küsst und feiert: Die deutsche Literatur des Frühlings
Als Günter Grass vor zwei Wochen in einem Interview erzählte, er sei überrascht gewesen, dass Hermann Kant schon 1961 Berichte über ihn und seine Besuche in der DDR für die Stasi geliefert habe, da erschien, fast zeitgleich, Hermann Kants neuer Roman. Er heißt "Kennung", spielt im Jahr 1961 und erzählt die Geschichte eines Anwerbungsversuchs durch die Stasi. Linus Cord, ein junger, aufstrebender Literaturkritiker, soll einen ersten, scheinbar harmlosen Auftrag für die Staatssicherheit übernehmen und - er widersteht. Eine Heldengeschichte, geschrieben von einem der Top-Funktionäre der untergegangenen DDR, Präsident des Schriftstellerverbandes, Mitglied des Zentralkomitees der SED. Das Buch über seine Stasiakte, das 1995 erschien, ist 500 Seiten dick.
Was soll das? Was fällt dem Mann ein? Macht der sich lustig über uns? Ist Literatur dazu da? Zu lügen? Sich selbst zu verschönern? Das eigene Leben? Die Vergangenheit? Gute Literatur ist ohne Wahrheit nicht zu haben. Und das heißt nicht, dass hier etwa schnöde das Leben nacherzählt werden muss, so wie es ist und wie es war. Im Gegenteil. Es geht um eine Wahrhaftigkeit, die das Werk zusammenhalten muss, eine innere Notwendigkeit des Schreibens, die eine Notwendigkeit des Lesens nach sich zieht.
Das Buch Hermann Kants, der heute 83-jährig in Mecklenburg-Vorpommern lebt, ist keine Lüge. Es ist seine Geschichte, seine Art, die Geschichte zu sehen. Denn jener widerständige Linus Cord wird den Auftrag der Stasi schließlich doch annehmen. Nur tut er es nicht für sie, sondern für sich. Es geht auch zunächst nicht um Spitzeltätigkeiten, sondern um eine Recherche über die eigene Vergangenheit. Kant beginnt beinahe genial, mit dem immer noch so leichtfüßigen, überironischen Sprachfluss, den Endlossätzen, die immer wieder überraschend ein stimmiges Ende finden. Aber zum Schluss verspielt er beinahe alles. Denn die kantsche Ironie lässt eine letzte Ernsthaftigkeit nicht zu. Lässt den existentiellen Ernst, den die sich zuspitzende Situation für Cord bekommen müsste, nicht zu. Und er umstellt die Angst vor der Wahrheit mit Partizipialkonstruktionen und Witzchen. Klarer, ernsthafter geschrieben und gedacht, hätte das Buch vielleicht an einer ganzen Lebenskonstruktion rütteln können. An der des Autors selbst. Das hat Hermann Kant nicht gewagt.
* * *
"Ich bin schuldig und bleibe es auch. Unsere Scheißpartei hat die Leute um die Möglichkeit gebracht, unter normalen Verhältnissen erwachsen zu werden. Darauf hätten sie aber ein Recht gehabt", heißt es in dem neuen Roman des 1951 in Prag geborenen Autors Jan Faktor. Das Buch trägt den Titel "Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder Im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag" und ist ein echtes Berserkerbuch aus dem Bergwerk der Wahrhaftigkeit. Es geht um Sex und Liebe, Anpassertum, Widerstand und Gläubigkeit in einem sozialistischen Staat, um die Macht des körperlichen Begehrens in einem von unsichtbaren Beobachtern umstellten Universum. Es beginnt in einer Art Sorglosigkeit: "Wir - die Kleinen wie die Großen - lebten damals in Prag, ohne darunter sonderlich zu leiden, in einer totalitären Gesellschaft." Der Ich-Erzähler Georg wächst in einem summenden, zwischen Überliebe und Depression schwankenden jüdischen Frauenhaushalt mit Mutter und zahlreichen Tanten auf und redet für sein Leben gern, so dass ihm im Kindergarten an besonders plapperhaften Tagen der Mund mit einem Klebestreifen verschlossen wird. Und am Anfang dieses fulminanten Buches wünscht man sich auch mal kurz einen Klebestreifen über den Mund des Autors, der seine Geschichten nur so hervorsprudelt. Aber man verliebt sich schnell in die kraftvolle Sprache, in den unmäßigen, manchmal scheinbar unkontrollierten Fluss der Geschichten. Die Sorglosigkeit ist schnell vorüber. Das Jahr 1968 reißt die Geschichte dieser Stadt und dieses Buches entzwei. Die Tage des sowjetischen Einmarsches erscheinen zunächst unspektakulär. Doch "wie hoch wir eigentlich verloren hatten, bekamen wir erst nach und nach zu spüren. Und irgendwann mit voller Härte."
Jan Faktor schont niemanden, als Letztes den Ich-Erzähler Georg in seinem unmäßigen Bekenntnisdrang. Es ist keine Heldengeschichte, eher die Geschichte eines Taumelns und Suchens, und auch von den miesesten Spitzeln und opportunistischen Parteigängern der Macht erzählt Faktor mit ungeheurem Interesse an den Wurzeln des Bösen. Das Zitat vom Anfang stammt von Georgs blindem Lebensfreund und Wunschvater Kláda, der 1989 auf sein Leben in Reue zurückblickt. Über seine Genossen von einst sagt er: "Von mir aus sollen die Leute ruhig stur bleiben. Das kollektive Wissen ist sowieso hartnäckig." Und wird mit Büchern wie diesem wie durch einen dröhnenden Wahrheitslautsprecher eindringlich verstärkt.
* * *
Dagegen liest sich dieses ehrgeizige Buch wie am Reißbrett der kleinen Symbolschule entworfen. Der 42-jährige Dramatiker Moritz Rinke aus Worpswede hat einen Jahrhundertroman über Worpswede geschrieben. Und - ja, Sie haben recht, es geht um Kunst und Nationalsozialismus, geht um Rilke, Wolken und das Moor. Held des Buches ist der erfolglose Künstler Paul Wendland, der einst aus Worpswede nach Berlin geflüchtet ist. Jetzt kehrt er zurück, denn das Haus seiner Kindheit versinkt im Moor. Nein, es versinkt nicht einfach, es droht entzweizubrechen, dieses deutsche Haus, in einen West- und einen Ostflügel. Und mit dem Haus stürzen die Erinnerungen. An den Großvater, den sie den "Rodin des Nordens" nannten und der ein Nazi war und auch sonst ein schlechter Mensch. An die Mutter, die heute auf Fuerteventura lebt und eine Achtundsechzigerin ist, wie sie sein muss, wenn man sie als Symbol verwenden möchte. Der Latte-Macchiato-Künstler selbst, der aussieht, redet, lebt wie der Prenzlauer-Berg-Standard-Künstler der letzten Jahre und der doch dann als ärmliches Klischee seiner selbst wenigstens unbedingt lustig sein müsste, satirisch überzeichnet, lächerlich, großartig, gewöhnlichkeitsterroristisch. Aber nein, nein, nein, er soll nur sein, wie er eben ist - sehr langweilig.
Dabei gibt es in dem Roman immer wieder skurrile Plötzlichkeitsauftritte sonderbarer Menschen und beinahe unglaublicher Geschichten. Rinke kann schon schreiben, das ist es nicht. Nur das Absurde, das Sonderbare, das Eigenwillige und Neue, das verschenkt er wie nebenbei. Das erzählt er nicht, deutet es nur an. Weil er überehrgeizig dieser Jahrhundertgeschichte folgen will. Doch der Leser weiß schon längst, wohin das alles führen wird. Er ist immer schon im Ziel, wenn sich der Autor japsend mit seinem Rucksack voller Symbole auf dem Rücken erst mühsam heranschleppt.
* * *
Wie aufregend und schön liest sich dagegen das Rätsel- und Verhüllungsbuch von Benjamin Stein, "Die Leinwand". Auch dieser Roman ist aufwendig konstruiert. So aufwendig, dass man schon am Anfang die Lust verlieren könnte: Das Buch hat zwei Titelseiten. Man kann von beiden Seiten zu lesen beginnen. Es werden zwei Geschichten erzählt, und erst in der Mitte treffen sie aufeinander. Solche Gimmick-Literatur hat ja immer etwas Nervtötend-Pseudooriginelles. Wie schön ist doch ein klassisches Buch mit einem Anfang und einem Ende, denkt man sich. Doch es lohnt unbedingt, sich darauf einzulassen. Eine Geschichte handelt von dem jüdischen Journalisten Jan Wechsler, der sich nicht an seine Vergangenheit erinnert. Der sich ein neues Leben ausgedacht hat, nachdem er die Autobiographie des Holocaust-Überlebenden Minsky als Lüge enttarnt hatte. Ein Koffer, plötzlich vor seiner Tür, wirft ihn in sein altes Leben zurück. Auf dem Weg in seine eigene Vergangenheit verliert er seine Familie und alle Gewissheiten seines Lebens. Eine Horrorgeschichte des Selbstzweifels und der schwankenden Identitäten. "Ich stehe vor einer schwarzpolierten Wand und starre ins Nichts."
Fängt man von der anderen Seite des Buches an, liest man die Geschichte Amnon Zichronis, der im jüdisch-orthodoxen Viertel Jerusalems aufwächst und, nachdem er trotz Verbots heimlich "Das Bildnis des Dorian Gray" gelesen hat, die Stadt und seine Familie verlassen muss, um in Zürich, bei seinem gemäßigt orthodoxen Onkel, aufzuwachsen. Zichroni ist die Gegenfigur zu Wechsler. Er hat die unheimliche Gabe, intensive Erinnerungen anderer Menschen zu empfinden, als wären es seine eigenen. Das hört sich jetzt sehr spiritistisch an, ist aber einfach religiös. Und Steins Buch lehrt, dass, wenn man die unglaublichsten Begebenheiten mit innerer Überzeugung erzählen kann, sich der Leser die Frage nach der Wahrscheinlichkeit gar nicht erst stellt. Zichroni schließlich ist es auch, der jenen Minsky ermuntert, die Geschichte seines Überlebens aufzuschreiben. Jene Geschichte, die Wechsler später als Fiktion enttarnen wird. Ist sie womöglich doch wahr?
In der Mitte des Buches treffen die beiden jüdischen Identitätsjongleure zu einem spektakulären Showdown aufeinander. Es scheint, als kennten sie sich schon lange. Vielleicht ein ganzes Leben lang.
* * *
Sooo. Und hier mal bitte: nur Liebe und Verzweiflung. Ganz ohne deutsche Geschichtsbeschwernis. Die Geschichte von Anne Weber: "Luft und Liebe" heißt sie. Der Ton, die Melodie, die Worte, das hat sofort so etwas Singendes, Hohes, Poetisch-Schönes. Vor fünfundzwanzig Jahren ist Weber von Offenbach nach Paris gezogen. Sie schreibt ihre Bücher auf Deutsch, und dann schreibt sie sie noch mal auf Französisch auf. Wenn man es weiß, hört man das in jedem Satz. Weiß man es nicht, ahnt man es immerhin. Manchmal klingt ihre Prosa ein wenig wie die von Peter Handke. Die Erzählerin ihres neuen Buches hat ein gutes Vorhaben: eine glückliche Liebesgeschichte erzählen. Als Vorarbeit nimmt sie sich vor, erst mal eine zu erleben. Leider scheitert sie schon daran. Es könnte alles herrlich sein. Ein unwahrscheinlicher Liebesprinz drängt in ihr Leben, bietet ein Schloss im Süden und ein romantisches Leben. Sie, 42, hat vor allem einen Wunsch: ein Kind. Prinzessin "kurz vor dem Verfallsdatum" nennt sie sich selbst. Es kommt zu Zeugungspanik. Alle Mittel der Fortpflanzungsmedizin werden eingesetzt. Doch ein Kind kommt nicht. Der Prinz ist in Wahrheit ein erbärmlicher Lügenhans. Er selbst hat verhindert, dass ein Kind entsteht. Er wird zum Lebensunglück der Prinzessin, zur Strafe für eine Frau, die gern in Luft und Träumen lebt. "Kann es sein, dass das Leben keinen anderen Sinn hat, als erzählt zu werden und im Erzählt-Werden immer wieder neu zu entstehen?", fragt sie sich. Das wäre allerdings sehr wenig. Wäre ja ein kleiner Sinn, ein Schriftstellersinn. Mit Buch statt Kindern. Wäre ein bisschen zu leise vielleicht. Anne Webers Buch ist laut und schön.
* * *
Das Schönste an den Geschichten von Frank Schulz sind seine Bierbeschreibungen. Was jetzt nicht heißt, dass die sonst irgendwie dürftig wären oder langweilig oder unsinnlich. Im Gegenteil. Seine aktuellen Liebesgeschichten sind geradezu sensationell sinnlich, manchmal ins Alkoholisch-Übersinnliche schwappend. Es geht um Liebe, und zwar ausschließlich. Liebe zu einer Brotverkäuferin. Zu einem verrückten Großvater. Hoffnungslose Liebe zu einer Bea ein Leben lang. Zu ihrer Art, das Wort "schön" auszusprechen zum Beispiel, oder zu ihrem Herzmund und vor allem "ihrer beständigen Bereitschaft das Leben zu feiern". Der Hamburger Schulz kann einfach wahnsinnig gut erzählen. Da ist kein Wort zu viel, kein Ton ist falsch, es ist fast immer sehr, sehr lustig, was er erzählt, selbst wenn es sehr traurig ist und ein treuherziger Trinker namens Helmer zum Beispiel eben jene Bea verliert für immer und elf Jahre lang umsonst geliebt hat. Zum Trost schnell diese Biere hier: "Leuchtend wie Lampions die Humpen voll kühlem, cremig schäumendem Carlsberg Gold; drei Exemplare davon und du bist glücklich wie ein Ochse."
Man sollte in seinem Leben schon einige davon getrunken und dabei sehr genau beobachtet haben, um das so glaubhaft enthusiastisch beschreiben zu können. Es ist einer der Glücksmomente in den Büchern der deutschen Literatur dieses Frühjahrs.
VOLKER WEIDERMANN
Hermann Kant: "Kennung", Aufbau-Verlag, 250 Seiten, 19,95 Euro. Jan Faktor: "Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder Im Reich des Heiligen Hodensack-Bimbams von Prag", Kiepenheuer & Witsch, 636 Seiten, 24,95 Euro. Moritz Rinke: "Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel", Kiepenheuer & Witsch, 482 Seiten, 19,95 Euro. Benjamin Stein: "Die Leinwand", C. H. Beck, 400 Seiten, 19,95 Euro. Anne Weber: "Luft und Liebe", S. Fischer, 188 Seiten, 17,95 Euro. Frank Schulz: "Mehr Liebe", Galiani Berlin, 292 Seiten 19,95 Euro
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Hermann Kant erfindet sich ein Heldenleben, Moritz Rinke wird unter Symbolen begraben, Anne Weber verliert sich an den falschen Prinzen, und Frank Schulz trinkt und küsst und feiert: Die deutsche Literatur des Frühlings
Als Günter Grass vor zwei Wochen in einem Interview erzählte, er sei überrascht gewesen, dass Hermann Kant schon 1961 Berichte über ihn und seine Besuche in der DDR für die Stasi geliefert habe, da erschien, fast zeitgleich, Hermann Kants neuer Roman. Er heißt "Kennung", spielt im Jahr 1961 und erzählt die Geschichte eines Anwerbungsversuchs durch die Stasi. Linus Cord, ein junger, aufstrebender Literaturkritiker, soll einen ersten, scheinbar harmlosen Auftrag für die Staatssicherheit übernehmen und - er widersteht. Eine Heldengeschichte, geschrieben von einem der Top-Funktionäre der untergegangenen DDR, Präsident des Schriftstellerverbandes, Mitglied des Zentralkomitees der SED. Das Buch über seine Stasiakte, das 1995 erschien, ist 500 Seiten dick.
Was soll das? Was fällt dem Mann ein? Macht der sich lustig über uns? Ist Literatur dazu da? Zu lügen? Sich selbst zu verschönern? Das eigene Leben? Die Vergangenheit? Gute Literatur ist ohne Wahrheit nicht zu haben. Und das heißt nicht, dass hier etwa schnöde das Leben nacherzählt werden muss, so wie es ist und wie es war. Im Gegenteil. Es geht um eine Wahrhaftigkeit, die das Werk zusammenhalten muss, eine innere Notwendigkeit des Schreibens, die eine Notwendigkeit des Lesens nach sich zieht.
Das Buch Hermann Kants, der heute 83-jährig in Mecklenburg-Vorpommern lebt, ist keine Lüge. Es ist seine Geschichte, seine Art, die Geschichte zu sehen. Denn jener widerständige Linus Cord wird den Auftrag der Stasi schließlich doch annehmen. Nur tut er es nicht für sie, sondern für sich. Es geht auch zunächst nicht um Spitzeltätigkeiten, sondern um eine Recherche über die eigene Vergangenheit. Kant beginnt beinahe genial, mit dem immer noch so leichtfüßigen, überironischen Sprachfluss, den Endlossätzen, die immer wieder überraschend ein stimmiges Ende finden. Aber zum Schluss verspielt er beinahe alles. Denn die kantsche Ironie lässt eine letzte Ernsthaftigkeit nicht zu. Lässt den existentiellen Ernst, den die sich zuspitzende Situation für Cord bekommen müsste, nicht zu. Und er umstellt die Angst vor der Wahrheit mit Partizipialkonstruktionen und Witzchen. Klarer, ernsthafter geschrieben und gedacht, hätte das Buch vielleicht an einer ganzen Lebenskonstruktion rütteln können. An der des Autors selbst. Das hat Hermann Kant nicht gewagt.
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"Ich bin schuldig und bleibe es auch. Unsere Scheißpartei hat die Leute um die Möglichkeit gebracht, unter normalen Verhältnissen erwachsen zu werden. Darauf hätten sie aber ein Recht gehabt", heißt es in dem neuen Roman des 1951 in Prag geborenen Autors Jan Faktor. Das Buch trägt den Titel "Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder Im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag" und ist ein echtes Berserkerbuch aus dem Bergwerk der Wahrhaftigkeit. Es geht um Sex und Liebe, Anpassertum, Widerstand und Gläubigkeit in einem sozialistischen Staat, um die Macht des körperlichen Begehrens in einem von unsichtbaren Beobachtern umstellten Universum. Es beginnt in einer Art Sorglosigkeit: "Wir - die Kleinen wie die Großen - lebten damals in Prag, ohne darunter sonderlich zu leiden, in einer totalitären Gesellschaft." Der Ich-Erzähler Georg wächst in einem summenden, zwischen Überliebe und Depression schwankenden jüdischen Frauenhaushalt mit Mutter und zahlreichen Tanten auf und redet für sein Leben gern, so dass ihm im Kindergarten an besonders plapperhaften Tagen der Mund mit einem Klebestreifen verschlossen wird. Und am Anfang dieses fulminanten Buches wünscht man sich auch mal kurz einen Klebestreifen über den Mund des Autors, der seine Geschichten nur so hervorsprudelt. Aber man verliebt sich schnell in die kraftvolle Sprache, in den unmäßigen, manchmal scheinbar unkontrollierten Fluss der Geschichten. Die Sorglosigkeit ist schnell vorüber. Das Jahr 1968 reißt die Geschichte dieser Stadt und dieses Buches entzwei. Die Tage des sowjetischen Einmarsches erscheinen zunächst unspektakulär. Doch "wie hoch wir eigentlich verloren hatten, bekamen wir erst nach und nach zu spüren. Und irgendwann mit voller Härte."
Jan Faktor schont niemanden, als Letztes den Ich-Erzähler Georg in seinem unmäßigen Bekenntnisdrang. Es ist keine Heldengeschichte, eher die Geschichte eines Taumelns und Suchens, und auch von den miesesten Spitzeln und opportunistischen Parteigängern der Macht erzählt Faktor mit ungeheurem Interesse an den Wurzeln des Bösen. Das Zitat vom Anfang stammt von Georgs blindem Lebensfreund und Wunschvater Kláda, der 1989 auf sein Leben in Reue zurückblickt. Über seine Genossen von einst sagt er: "Von mir aus sollen die Leute ruhig stur bleiben. Das kollektive Wissen ist sowieso hartnäckig." Und wird mit Büchern wie diesem wie durch einen dröhnenden Wahrheitslautsprecher eindringlich verstärkt.
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Dagegen liest sich dieses ehrgeizige Buch wie am Reißbrett der kleinen Symbolschule entworfen. Der 42-jährige Dramatiker Moritz Rinke aus Worpswede hat einen Jahrhundertroman über Worpswede geschrieben. Und - ja, Sie haben recht, es geht um Kunst und Nationalsozialismus, geht um Rilke, Wolken und das Moor. Held des Buches ist der erfolglose Künstler Paul Wendland, der einst aus Worpswede nach Berlin geflüchtet ist. Jetzt kehrt er zurück, denn das Haus seiner Kindheit versinkt im Moor. Nein, es versinkt nicht einfach, es droht entzweizubrechen, dieses deutsche Haus, in einen West- und einen Ostflügel. Und mit dem Haus stürzen die Erinnerungen. An den Großvater, den sie den "Rodin des Nordens" nannten und der ein Nazi war und auch sonst ein schlechter Mensch. An die Mutter, die heute auf Fuerteventura lebt und eine Achtundsechzigerin ist, wie sie sein muss, wenn man sie als Symbol verwenden möchte. Der Latte-Macchiato-Künstler selbst, der aussieht, redet, lebt wie der Prenzlauer-Berg-Standard-Künstler der letzten Jahre und der doch dann als ärmliches Klischee seiner selbst wenigstens unbedingt lustig sein müsste, satirisch überzeichnet, lächerlich, großartig, gewöhnlichkeitsterroristisch. Aber nein, nein, nein, er soll nur sein, wie er eben ist - sehr langweilig.
Dabei gibt es in dem Roman immer wieder skurrile Plötzlichkeitsauftritte sonderbarer Menschen und beinahe unglaublicher Geschichten. Rinke kann schon schreiben, das ist es nicht. Nur das Absurde, das Sonderbare, das Eigenwillige und Neue, das verschenkt er wie nebenbei. Das erzählt er nicht, deutet es nur an. Weil er überehrgeizig dieser Jahrhundertgeschichte folgen will. Doch der Leser weiß schon längst, wohin das alles führen wird. Er ist immer schon im Ziel, wenn sich der Autor japsend mit seinem Rucksack voller Symbole auf dem Rücken erst mühsam heranschleppt.
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Wie aufregend und schön liest sich dagegen das Rätsel- und Verhüllungsbuch von Benjamin Stein, "Die Leinwand". Auch dieser Roman ist aufwendig konstruiert. So aufwendig, dass man schon am Anfang die Lust verlieren könnte: Das Buch hat zwei Titelseiten. Man kann von beiden Seiten zu lesen beginnen. Es werden zwei Geschichten erzählt, und erst in der Mitte treffen sie aufeinander. Solche Gimmick-Literatur hat ja immer etwas Nervtötend-Pseudooriginelles. Wie schön ist doch ein klassisches Buch mit einem Anfang und einem Ende, denkt man sich. Doch es lohnt unbedingt, sich darauf einzulassen. Eine Geschichte handelt von dem jüdischen Journalisten Jan Wechsler, der sich nicht an seine Vergangenheit erinnert. Der sich ein neues Leben ausgedacht hat, nachdem er die Autobiographie des Holocaust-Überlebenden Minsky als Lüge enttarnt hatte. Ein Koffer, plötzlich vor seiner Tür, wirft ihn in sein altes Leben zurück. Auf dem Weg in seine eigene Vergangenheit verliert er seine Familie und alle Gewissheiten seines Lebens. Eine Horrorgeschichte des Selbstzweifels und der schwankenden Identitäten. "Ich stehe vor einer schwarzpolierten Wand und starre ins Nichts."
Fängt man von der anderen Seite des Buches an, liest man die Geschichte Amnon Zichronis, der im jüdisch-orthodoxen Viertel Jerusalems aufwächst und, nachdem er trotz Verbots heimlich "Das Bildnis des Dorian Gray" gelesen hat, die Stadt und seine Familie verlassen muss, um in Zürich, bei seinem gemäßigt orthodoxen Onkel, aufzuwachsen. Zichroni ist die Gegenfigur zu Wechsler. Er hat die unheimliche Gabe, intensive Erinnerungen anderer Menschen zu empfinden, als wären es seine eigenen. Das hört sich jetzt sehr spiritistisch an, ist aber einfach religiös. Und Steins Buch lehrt, dass, wenn man die unglaublichsten Begebenheiten mit innerer Überzeugung erzählen kann, sich der Leser die Frage nach der Wahrscheinlichkeit gar nicht erst stellt. Zichroni schließlich ist es auch, der jenen Minsky ermuntert, die Geschichte seines Überlebens aufzuschreiben. Jene Geschichte, die Wechsler später als Fiktion enttarnen wird. Ist sie womöglich doch wahr?
In der Mitte des Buches treffen die beiden jüdischen Identitätsjongleure zu einem spektakulären Showdown aufeinander. Es scheint, als kennten sie sich schon lange. Vielleicht ein ganzes Leben lang.
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Sooo. Und hier mal bitte: nur Liebe und Verzweiflung. Ganz ohne deutsche Geschichtsbeschwernis. Die Geschichte von Anne Weber: "Luft und Liebe" heißt sie. Der Ton, die Melodie, die Worte, das hat sofort so etwas Singendes, Hohes, Poetisch-Schönes. Vor fünfundzwanzig Jahren ist Weber von Offenbach nach Paris gezogen. Sie schreibt ihre Bücher auf Deutsch, und dann schreibt sie sie noch mal auf Französisch auf. Wenn man es weiß, hört man das in jedem Satz. Weiß man es nicht, ahnt man es immerhin. Manchmal klingt ihre Prosa ein wenig wie die von Peter Handke. Die Erzählerin ihres neuen Buches hat ein gutes Vorhaben: eine glückliche Liebesgeschichte erzählen. Als Vorarbeit nimmt sie sich vor, erst mal eine zu erleben. Leider scheitert sie schon daran. Es könnte alles herrlich sein. Ein unwahrscheinlicher Liebesprinz drängt in ihr Leben, bietet ein Schloss im Süden und ein romantisches Leben. Sie, 42, hat vor allem einen Wunsch: ein Kind. Prinzessin "kurz vor dem Verfallsdatum" nennt sie sich selbst. Es kommt zu Zeugungspanik. Alle Mittel der Fortpflanzungsmedizin werden eingesetzt. Doch ein Kind kommt nicht. Der Prinz ist in Wahrheit ein erbärmlicher Lügenhans. Er selbst hat verhindert, dass ein Kind entsteht. Er wird zum Lebensunglück der Prinzessin, zur Strafe für eine Frau, die gern in Luft und Träumen lebt. "Kann es sein, dass das Leben keinen anderen Sinn hat, als erzählt zu werden und im Erzählt-Werden immer wieder neu zu entstehen?", fragt sie sich. Das wäre allerdings sehr wenig. Wäre ja ein kleiner Sinn, ein Schriftstellersinn. Mit Buch statt Kindern. Wäre ein bisschen zu leise vielleicht. Anne Webers Buch ist laut und schön.
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Das Schönste an den Geschichten von Frank Schulz sind seine Bierbeschreibungen. Was jetzt nicht heißt, dass die sonst irgendwie dürftig wären oder langweilig oder unsinnlich. Im Gegenteil. Seine aktuellen Liebesgeschichten sind geradezu sensationell sinnlich, manchmal ins Alkoholisch-Übersinnliche schwappend. Es geht um Liebe, und zwar ausschließlich. Liebe zu einer Brotverkäuferin. Zu einem verrückten Großvater. Hoffnungslose Liebe zu einer Bea ein Leben lang. Zu ihrer Art, das Wort "schön" auszusprechen zum Beispiel, oder zu ihrem Herzmund und vor allem "ihrer beständigen Bereitschaft das Leben zu feiern". Der Hamburger Schulz kann einfach wahnsinnig gut erzählen. Da ist kein Wort zu viel, kein Ton ist falsch, es ist fast immer sehr, sehr lustig, was er erzählt, selbst wenn es sehr traurig ist und ein treuherziger Trinker namens Helmer zum Beispiel eben jene Bea verliert für immer und elf Jahre lang umsonst geliebt hat. Zum Trost schnell diese Biere hier: "Leuchtend wie Lampions die Humpen voll kühlem, cremig schäumendem Carlsberg Gold; drei Exemplare davon und du bist glücklich wie ein Ochse."
Man sollte in seinem Leben schon einige davon getrunken und dabei sehr genau beobachtet haben, um das so glaubhaft enthusiastisch beschreiben zu können. Es ist einer der Glücksmomente in den Büchern der deutschen Literatur dieses Frühjahrs.
VOLKER WEIDERMANN
Hermann Kant: "Kennung", Aufbau-Verlag, 250 Seiten, 19,95 Euro. Jan Faktor: "Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder Im Reich des Heiligen Hodensack-Bimbams von Prag", Kiepenheuer & Witsch, 636 Seiten, 24,95 Euro. Moritz Rinke: "Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel", Kiepenheuer & Witsch, 482 Seiten, 19,95 Euro. Benjamin Stein: "Die Leinwand", C. H. Beck, 400 Seiten, 19,95 Euro. Anne Weber: "Luft und Liebe", S. Fischer, 188 Seiten, 17,95 Euro. Frank Schulz: "Mehr Liebe", Galiani Berlin, 292 Seiten 19,95 Euro
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Hundertprozentig überzeugt zeigt sich Thomas E. Schmidt nicht vom Romandebüt des Dramatikers Moritz Rinke, das er als "amüsante Klischee-Choreografie" bezeichnet, als "Spiel mit ehrgeizigen Selbstbildern". Vor allem ist das Buch für ihn ein "dezidierter Non-Berlin-Roman". Denn sein Held zieht, wie wir lesen, aus einem verkrachten Berliner Boheme-Leben hinaus in den "seltsamen Kunst-Ort" Worpswede - ins Moor, wo dem Kritiker alsbald auch die Füße nass werden: aus dem Moor blubbert nämlich Moritz Rinkes Familiengeschichte herauf. Geschickt sieht Schmidt diesen Autor sodann erfundene Familiengeschichte mit der realen Historie Worpswedes und seiner Künstler verknüpfen. Sieht, wie hier tatsächlich jemand durch ein Jahrhundert (das schreckliche 20. nämlich) und vor allem durch sich selber fällt. Rinke sei kein begnadeter Erzähler, schreibt der Kritiker auch, doch er schaffe es, Szenen zu verdichten, sie im richtigen Moment abzubrechen oder ins Absurde laufen zu lassen. Was Schmidt in diesem Buch allerdings fehlt, ist epische Raffinesse und die Kraft zur Lakonie.
© Perlentaucher Medien GmbH
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