Am 20. Februar 1973 starb in Sofia, völlig verarmt, Dimitar Pesev - vergessen auch von jenen, die ihm das Leben verdankten. Dreißig Jahre zuvor, im März 1943, erfuhr der damalige stellvertretende Parlamentspräsident Dimitar Pesev durch Freunde, daß die Deportation der 48.000 Juden Bulgariens unmittelbar bevorstehe. Da handelte er. In einer halb furchtsamen, halb leidenschaftlichen Aktion brachte er den Zaren Boris III. und seine Regierung dazu, den Befehl zu erteilen, daß die in Richtung Auschwitz abfahrbereiten Züge auf keinen Fall die Bahnhöfe verlassen dürften. Pesev war der einzige einflußreiche Mensch im mit Deutschland verbündeten Bulgarien, der sich der stillschweigenden Billigung der "Endlösung" widersetzte. Er stellte sich gegen die Nazis und siegte. Die bulgarischen Juden wurden gerettet. Im August 1943 starb der Zar. Pesev trat nun für die Integration Bulgariens ins westliche Lager ein und beschuldigte die kommunistischen Partisanen in aller Öffentlichkeit, Bulgarien der Sowjetunion in die Hände liefern zu wollen. Das sollte Pesev teuer zu stehen kommen, als die Rote Armee das Land besetzte. Antisowjetischen Verhaltens angeklagt, wurde Pesev zu fünfzehn Jahren Gefängnis verurteilt und entkam nur knapp dem Gulag. Den Rest seines Lebens verbrachte er unter Hausarrest. Gabriele Nissim hat die Rettung der bulgarischen Juden genau dokumentiert: "Niemand hat dem Nazismus in seinem unerbittlichen Kriege gegen die Juden eine so schwere Niederlage zugefügt". Erst in jüngster Zeit wurde Pesev in Israel und in Bulgarien öffentlich geehrt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.02.2001Der ausgestoßene Retter
Wie Dimitar Pesev 1943 die Deportation von 48 000 Juden stoppte
Gabriele Nissim: Der Mann, der Hitler stoppte. Dimitar Pesev und die Rettung der bulgarischen Juden. Aus dem Italienischen von Peter Klöss. Siedler Verlag, Berlin 2000. 319 Seiten, 48,- Mark.
Die Geschichte Dimitar Pesevs ließe sich als die Geschichte eines tragischen Helden erzählen: Pesev zeigte 1943 im richtigen Moment Mut und Anstand. Er rettete damit 48 000 bulgarische Juden vor dem Abtransport in die Vernichtungslager der Nationalsozialisten. Nach dem Einmarsch der sowjetischen Armee in Bulgarien im Herbst 1944 wurde er verhaftet und in einem Schauprozeß zu 15 Jahren Haft verurteilt. Er wurde zwar nach eineinhalb Jahren freigelassen, doch bis zu seinem Tod im Februar 1973 war er ein vom Regime Ausgestoßener, der nicht in seinem Beruf arbeiten durfte. Lange Jahre lebte er mit der Angst vor einer neuerlichen Verhaftung und mußte mit ansehen, wie sich der Generalsekretär der bulgarischen KP, Todor Schiwkow, mit der Rettung der bulgarischen Juden brüstete.
Gabriele Nissim will Pesev mit seinem Buch das verdiente Denkmal setzen, doch er widersteht der Versuchung, eine Heldengeschichte zu schreiben. Nissim beschreibt ausführlich, wie Pesev vom liberalen Demokraten aus Enttäuschung über die Parteienherrschaft zum Anhänger eines autoritären Regimes wurde, wie er sich für die von Hitler propagierte "Neue Ordnung" Europas begeisterte und für den Beitritt Bulgariens zum Dreimächtepakt stimmte, der das Land im Zweiten Weltkrieg an die Seite Deutschlands führte.
Als stellvertretender Vorsitzender des Parlaments leitete Pesev im November 1940 eine Sitzung, in der über antijüdische "Rassengesetze" debattiert wurde. Diese Gesetze kamen auf deutschen Druck hin zustande; fast die gesamte politische Elite stimmte ihnen zu, obwohl es in Bulgarien - anders als im Nachbarland Rumänien - keine antisemitische Tradition gab. Nissim versucht herauszufinden, was Pesev antrieb. Daher verurteilt er ihn auch dann nicht, wenn er über dessen Begeisterung für Hitler schreibt. Vielmehr schildert er ausführlich die politische Entwicklung Bulgariens bis 1945 und zeigt, wie sich Pesevs Haltung im Lauf der Zeit veränderte.
In seinem Bemühen, Pesev und seine Zeit dem heutigen Leser verständlich zu machen, schießt Nissim freilich einige Male über das Ziel hinaus. Die meisten seiner Vergleiche zu aktuellem Geschehen wirken aufgesetzt und unangebracht. Es scheint, als vertraue Nissim an manchen Stellen der Kraft seines eigenen Textes nicht.
Der 1894 geborene Pesev arbeitete in den Jahren der instabilen bulgarischen Demokratie der zwanziger und dreißiger Jahre in Sofia als Rechtsanwalt. Zum Politiker wurde er erst nach dem Putsch von 1934, als in Bulgarien ein rechtes autoritäres Regime errichtet wurde. Weil er allen zuvor tonangebenden Parteien fernstand, wurde er 1935 zum Justizminister ernannt. Pesev blieb nur etwas mehr als ein halbes Jahr im Amt, weil er sich mit seinem Beharren auf Rechtsstaatlichkeit im Militär und in der Königsfamilie Feinde machte.
Die Entlassung änderte nichts an seiner Loyalität zum autoritären Regime und zur Monarchie. 1938 wurde er als Abgeordneter seiner Heimatstadt Kjustendil in das bulgarische Parlament gewählt. Gegen den Wunsch der Regierung wurde er zum stellvertretenden Vorsitzenden des Parlaments. Aus zwei Gründen unterstützte er die Annäherung Bulgariens an das "Dritte Reich": Er hoffte (wie die große Mehrheit der Bulgaren), daß Hitler die Ansprüche seines Landes auf die Dobrudscha, Thrakien und Makedonien unterstützen würde, und er sah in Deutschland ein Bollwerk gegen den Bolschewismus.
Aus Dankbarkeit über die "Rückgabe" der Dobrudscha stimmte Pesev wie viele seiner Freunde Ende 1940 den antijüdischen Gesetzen zu, die er eigentlich ablehnte. Es bedurfte eines Anstoßes von außen, damit er im März 1943 - unmittelbar vor der geplanten Deportation der bulgarischen Juden - seiner innerlichen Ablehnung Taten folgen ließ. Indem Pesev daraufhin zahlreiche Parlamentsabgeordnete und große Teile der Öffentlichkeit mobilisierte, erreichte er, daß der bulgarische König Boris III. und seine Regierung den Transport von 48 000 Menschen in den sicheren Tod trotz massiven Drucks aus Deutschland stoppten.
Nissim hat die Biographie eines Mannes geschrieben, dessen Leben gegen seinen Willen von den großen totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts, dem Faschismus und dem Kommunismus, geprägt war. Wie viele seiner Zeitgenossen - Rechte wie Linke - neigte Pesev aus Furcht vor der einen Ideologie zeitweilig der anderen zu, doch im Unterschied zu vielen anderen brachte er Kraft und Mut auf, sich dem Verbrechen zu widersetzen. Am Beispiel Pesevs wird deutlich, wie schnell es geschehen konnte, daß man aus verständlichen und ehrenwerten Motiven ein Bündnis mit dem Teufel einging - und wie schwer es war, sich diesen Fehler einzugestehen.
REINHARD VESER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie Dimitar Pesev 1943 die Deportation von 48 000 Juden stoppte
Gabriele Nissim: Der Mann, der Hitler stoppte. Dimitar Pesev und die Rettung der bulgarischen Juden. Aus dem Italienischen von Peter Klöss. Siedler Verlag, Berlin 2000. 319 Seiten, 48,- Mark.
Die Geschichte Dimitar Pesevs ließe sich als die Geschichte eines tragischen Helden erzählen: Pesev zeigte 1943 im richtigen Moment Mut und Anstand. Er rettete damit 48 000 bulgarische Juden vor dem Abtransport in die Vernichtungslager der Nationalsozialisten. Nach dem Einmarsch der sowjetischen Armee in Bulgarien im Herbst 1944 wurde er verhaftet und in einem Schauprozeß zu 15 Jahren Haft verurteilt. Er wurde zwar nach eineinhalb Jahren freigelassen, doch bis zu seinem Tod im Februar 1973 war er ein vom Regime Ausgestoßener, der nicht in seinem Beruf arbeiten durfte. Lange Jahre lebte er mit der Angst vor einer neuerlichen Verhaftung und mußte mit ansehen, wie sich der Generalsekretär der bulgarischen KP, Todor Schiwkow, mit der Rettung der bulgarischen Juden brüstete.
Gabriele Nissim will Pesev mit seinem Buch das verdiente Denkmal setzen, doch er widersteht der Versuchung, eine Heldengeschichte zu schreiben. Nissim beschreibt ausführlich, wie Pesev vom liberalen Demokraten aus Enttäuschung über die Parteienherrschaft zum Anhänger eines autoritären Regimes wurde, wie er sich für die von Hitler propagierte "Neue Ordnung" Europas begeisterte und für den Beitritt Bulgariens zum Dreimächtepakt stimmte, der das Land im Zweiten Weltkrieg an die Seite Deutschlands führte.
Als stellvertretender Vorsitzender des Parlaments leitete Pesev im November 1940 eine Sitzung, in der über antijüdische "Rassengesetze" debattiert wurde. Diese Gesetze kamen auf deutschen Druck hin zustande; fast die gesamte politische Elite stimmte ihnen zu, obwohl es in Bulgarien - anders als im Nachbarland Rumänien - keine antisemitische Tradition gab. Nissim versucht herauszufinden, was Pesev antrieb. Daher verurteilt er ihn auch dann nicht, wenn er über dessen Begeisterung für Hitler schreibt. Vielmehr schildert er ausführlich die politische Entwicklung Bulgariens bis 1945 und zeigt, wie sich Pesevs Haltung im Lauf der Zeit veränderte.
In seinem Bemühen, Pesev und seine Zeit dem heutigen Leser verständlich zu machen, schießt Nissim freilich einige Male über das Ziel hinaus. Die meisten seiner Vergleiche zu aktuellem Geschehen wirken aufgesetzt und unangebracht. Es scheint, als vertraue Nissim an manchen Stellen der Kraft seines eigenen Textes nicht.
Der 1894 geborene Pesev arbeitete in den Jahren der instabilen bulgarischen Demokratie der zwanziger und dreißiger Jahre in Sofia als Rechtsanwalt. Zum Politiker wurde er erst nach dem Putsch von 1934, als in Bulgarien ein rechtes autoritäres Regime errichtet wurde. Weil er allen zuvor tonangebenden Parteien fernstand, wurde er 1935 zum Justizminister ernannt. Pesev blieb nur etwas mehr als ein halbes Jahr im Amt, weil er sich mit seinem Beharren auf Rechtsstaatlichkeit im Militär und in der Königsfamilie Feinde machte.
Die Entlassung änderte nichts an seiner Loyalität zum autoritären Regime und zur Monarchie. 1938 wurde er als Abgeordneter seiner Heimatstadt Kjustendil in das bulgarische Parlament gewählt. Gegen den Wunsch der Regierung wurde er zum stellvertretenden Vorsitzenden des Parlaments. Aus zwei Gründen unterstützte er die Annäherung Bulgariens an das "Dritte Reich": Er hoffte (wie die große Mehrheit der Bulgaren), daß Hitler die Ansprüche seines Landes auf die Dobrudscha, Thrakien und Makedonien unterstützen würde, und er sah in Deutschland ein Bollwerk gegen den Bolschewismus.
Aus Dankbarkeit über die "Rückgabe" der Dobrudscha stimmte Pesev wie viele seiner Freunde Ende 1940 den antijüdischen Gesetzen zu, die er eigentlich ablehnte. Es bedurfte eines Anstoßes von außen, damit er im März 1943 - unmittelbar vor der geplanten Deportation der bulgarischen Juden - seiner innerlichen Ablehnung Taten folgen ließ. Indem Pesev daraufhin zahlreiche Parlamentsabgeordnete und große Teile der Öffentlichkeit mobilisierte, erreichte er, daß der bulgarische König Boris III. und seine Regierung den Transport von 48 000 Menschen in den sicheren Tod trotz massiven Drucks aus Deutschland stoppten.
Nissim hat die Biographie eines Mannes geschrieben, dessen Leben gegen seinen Willen von den großen totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts, dem Faschismus und dem Kommunismus, geprägt war. Wie viele seiner Zeitgenossen - Rechte wie Linke - neigte Pesev aus Furcht vor der einen Ideologie zeitweilig der anderen zu, doch im Unterschied zu vielen anderen brachte er Kraft und Mut auf, sich dem Verbrechen zu widersetzen. Am Beispiel Pesevs wird deutlich, wie schnell es geschehen konnte, daß man aus verständlichen und ehrenwerten Motiven ein Bündnis mit dem Teufel einging - und wie schwer es war, sich diesen Fehler einzugestehen.
REINHARD VESER
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Martin Messmer begrüßt es sehr, dass die bisher ungeklärte Frage, wer für die Rettung von 50000 bulgarischen Juden im Zweiten Weltkrieg verantwortlich war, nun endlich geklärt scheint. Gerüchte habe es zwar viele gegeben (mal soll es Zar Boris III. gewesen sein, mal Todor Schiwkow), aber Nissims Ausführungen über den damaligen Justizminister Bulgariens Dimitar Pesev geben nach Ansicht des Rezensenten eine plausible Antwort auf das lange ungeklärte Rätsel. Dabei habe sich der Autor an eine "äußerst anspruchsvolle " Aufgabe herangewagt: Pesev lebte nach dem Krieg nicht nur fast völlig vergessen und verarmt in Sofia. Er galt, so der Rezensent, in den Nachkriegsjahren ungerechtfertigter Weise sogar als Faschist. Dass Nessim nun "präzise, objektiv und sensibel" sich dieses Schicksals angenommen hat und damit auch einen Beitrag zur Rehabilitierung Pesevs leistet, ringt dem Rezensenten einigen Respekt ab.
© Perlentaucher Medien GmbH
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