In seinem einzigartigen Stil erzählt Radek Knapp von der unfreiwilligen Emigration des zwölfjährigen Walerian von Polen nach Wien. Seine Schulkarriere ist kurz und endet mit seinem Hinauswurf. Als ihn seine Mutter ebenfalls auf die Straße setzt, kostet er in seiner neuen Bleibe das Gefühl der Freiheit aus - und die Bekanntschaft mit Schimmelpilz. Er schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch und dringt in immer tiefere Schichten des Wiener Lebens vor. Dort stößt er auf wenig Sympathie für Menschen von jenseits der Grenze und lernt einiges über die Grenzen des guten Geschmacks und der Legalität. Irgendwann versteht er, dass "zuhause" überall sein kann - wenn es ihm gelingt, seinen eigenen Weg zu finden.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.03.2017Am
Würstlstand
Radek Knapp schwankt zwischen
Plauderei und Katastrophe
Eines Tages, Walerian schwänzt gerade wieder einmal den Besuch der Handelsakademie und hört stattdessen auf den Stufen des Musikvereins den Proben zu Beethovens Mondscheinsonate zu, setzt sich ein älterer Herr neben ihn, raucht einen Zigarillo und fragt den Jugendlichen, was er denn einmal werden wolle. Walerian hat kurz zuvor „Indiana Jones“ gesehen und ist angetan von dem Gedanken, ein Leben wie Harrison Ford zu führen, also kommt seine Antwort ohne Zögern: „Archäologe“. Und genau betrachtet hat er später genau diesen Beruf dann auch tatsächlich ergriffen, wenn auch die offizielle Bezeichnung für seine Tätigkeit zunächst Verkäufer am Würstelstand und anschließend Heizungsableser bei der Stadt Wien lauten wird.
Radek Knapp hat sich bereits in seinem Roman „Herrn Kukas Empfehlungen“ im Genre des Schelmenromans versucht. Nun erzählt Knapp, 1964 in Warschau geboren und im Alter von zwölf Jahren nach Wien gekommen, eine autobiografisch grundierte Geschichte erneut aus dem Blickwinkel eines vermeintlichen Taugenichts: Als Walerian ein Jahr alt ist, so wird es jedenfalls behauptet, liefert die Mutter das Kind bei den Großeltern über das Wochenende ab und kehrt elf Jahre später zurück. Kurz darauf beschließt sie, ein neues Leben anzufangen und reist mit Walerian nach Österreich aus. Alles steht auf Anfang. Für den Jungen ist die deutsche Sprache, eine von Knapps vielen nicht sonderlich originellen Übertreibungen, so schwierig zu lernen „wie allgemeine Relativitätstheorie“. Die einzigen Sätze, die er anfangs auf Deutsch sprechen kann, hat er in alten Kriegsfilmen aufgeschnappt.
Der Ich-Erzähler blickt die neue Welt mit großen, staunenden Augen an. Der Blick auf Strukturen, Rituale und gesellschaftliche Konstellationen ist der eines Grundfremden, der das uns allen Vertraute als exotisch wahrnimmt. Die Wiener werden bei Knapp zu Zootierchen, die es zu bestaunen und zu erforschen gilt. In der Schule kommt Walerian naturgemäß nicht zurecht. Als er der Mutter erzählt, dass er die Schule schmeißen wird, wird er umgehend vor die Tür gesetzt und beginnt seine Berufslaufbahn am Würstlstand. Die stärksten Passagen in Knapps Erzählung sind jene, in denen Walerian in den Wiener Wohnungen Alltagsarchäologie betreibt. „Ich war“, so heißt es, „bis jetzt davon ausgegangen, dass die Menschheit sich in zwei Sorten teilen würde: in Reiche und Arme oder meinetwegen in die Dummen und die Klugen. Aber das war falsch. Sie teilt sich in ,Menschen auf der Straße‘ und ,Menschen in den eigenen vier Wänden‘“.
Natürlich liegt hinter dem heiteren Tonfall des Ich-Erzählers ein ernsthaftes Problem verborgen: Heimatlosigkeit, Verlorenheit. Walerian ist, wie er selbst es ausdrückt, „in einer Reparaturphase“. In einem selbsttherapeutischen Appendix brechen aus dem erwachsenen Walerian jene Verlustbeschreibungen heraus, die der Heranwachsende in seinem hüpfenden Plauderton weghumorisiert hat: die Sehnsucht nach den Großeltern, nach der Übersichtlichkeit einer geborgenen Kindheit, nach der Sicherheit in einer vertrauten Sprache. Psychologisch mag das sehr plausibel sein, literarisch aber ist dieser Bruch in einem so schmalen Erzählraum nur schwer zu verkraften. „Der Mann, der Luft zum Frühstück aß“ ist ein merkwürdig unentschlossenes Buch, in dem die Komik zu häufig in Zoten kippt und die Tragik ohne Tiefe bleibt.
CHRISTOPH SCHRÖDER
Radek Knapp: Der Mann, der Luft zum Frühstück aß. Erzählung. Deuticke Verlag, Wien 2017. 124 Seiten, 16 Euro. E-Book 11,99 Euro
Die Wiener werden zu
Zootierchen, die es
zu bestaunen und erforschen gilt
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Würstlstand
Radek Knapp schwankt zwischen
Plauderei und Katastrophe
Eines Tages, Walerian schwänzt gerade wieder einmal den Besuch der Handelsakademie und hört stattdessen auf den Stufen des Musikvereins den Proben zu Beethovens Mondscheinsonate zu, setzt sich ein älterer Herr neben ihn, raucht einen Zigarillo und fragt den Jugendlichen, was er denn einmal werden wolle. Walerian hat kurz zuvor „Indiana Jones“ gesehen und ist angetan von dem Gedanken, ein Leben wie Harrison Ford zu führen, also kommt seine Antwort ohne Zögern: „Archäologe“. Und genau betrachtet hat er später genau diesen Beruf dann auch tatsächlich ergriffen, wenn auch die offizielle Bezeichnung für seine Tätigkeit zunächst Verkäufer am Würstelstand und anschließend Heizungsableser bei der Stadt Wien lauten wird.
Radek Knapp hat sich bereits in seinem Roman „Herrn Kukas Empfehlungen“ im Genre des Schelmenromans versucht. Nun erzählt Knapp, 1964 in Warschau geboren und im Alter von zwölf Jahren nach Wien gekommen, eine autobiografisch grundierte Geschichte erneut aus dem Blickwinkel eines vermeintlichen Taugenichts: Als Walerian ein Jahr alt ist, so wird es jedenfalls behauptet, liefert die Mutter das Kind bei den Großeltern über das Wochenende ab und kehrt elf Jahre später zurück. Kurz darauf beschließt sie, ein neues Leben anzufangen und reist mit Walerian nach Österreich aus. Alles steht auf Anfang. Für den Jungen ist die deutsche Sprache, eine von Knapps vielen nicht sonderlich originellen Übertreibungen, so schwierig zu lernen „wie allgemeine Relativitätstheorie“. Die einzigen Sätze, die er anfangs auf Deutsch sprechen kann, hat er in alten Kriegsfilmen aufgeschnappt.
Der Ich-Erzähler blickt die neue Welt mit großen, staunenden Augen an. Der Blick auf Strukturen, Rituale und gesellschaftliche Konstellationen ist der eines Grundfremden, der das uns allen Vertraute als exotisch wahrnimmt. Die Wiener werden bei Knapp zu Zootierchen, die es zu bestaunen und zu erforschen gilt. In der Schule kommt Walerian naturgemäß nicht zurecht. Als er der Mutter erzählt, dass er die Schule schmeißen wird, wird er umgehend vor die Tür gesetzt und beginnt seine Berufslaufbahn am Würstlstand. Die stärksten Passagen in Knapps Erzählung sind jene, in denen Walerian in den Wiener Wohnungen Alltagsarchäologie betreibt. „Ich war“, so heißt es, „bis jetzt davon ausgegangen, dass die Menschheit sich in zwei Sorten teilen würde: in Reiche und Arme oder meinetwegen in die Dummen und die Klugen. Aber das war falsch. Sie teilt sich in ,Menschen auf der Straße‘ und ,Menschen in den eigenen vier Wänden‘“.
Natürlich liegt hinter dem heiteren Tonfall des Ich-Erzählers ein ernsthaftes Problem verborgen: Heimatlosigkeit, Verlorenheit. Walerian ist, wie er selbst es ausdrückt, „in einer Reparaturphase“. In einem selbsttherapeutischen Appendix brechen aus dem erwachsenen Walerian jene Verlustbeschreibungen heraus, die der Heranwachsende in seinem hüpfenden Plauderton weghumorisiert hat: die Sehnsucht nach den Großeltern, nach der Übersichtlichkeit einer geborgenen Kindheit, nach der Sicherheit in einer vertrauten Sprache. Psychologisch mag das sehr plausibel sein, literarisch aber ist dieser Bruch in einem so schmalen Erzählraum nur schwer zu verkraften. „Der Mann, der Luft zum Frühstück aß“ ist ein merkwürdig unentschlossenes Buch, in dem die Komik zu häufig in Zoten kippt und die Tragik ohne Tiefe bleibt.
CHRISTOPH SCHRÖDER
Radek Knapp: Der Mann, der Luft zum Frühstück aß. Erzählung. Deuticke Verlag, Wien 2017. 124 Seiten, 16 Euro. E-Book 11,99 Euro
Die Wiener werden zu
Zootierchen, die es
zu bestaunen und erforschen gilt
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
"Eine Erzählung wider den tierischen Ernst, in einer Sprache geschrieben, die sich locker, süffisant und prall zeigt, gepaart mit Weisheit und Klugheit." Gallus Frei-Tomic, Literaturblatt, 19.07.17
"Ein Migrantenroman in humoristischem Gewand, eine ironische Entwicklungsgeschichte, in der der Protagonist nach einem dramatischen Entwurzelungserlebnis allmählich wieder zu sich selbst findet. ... Eine Erzählung, die ein brisantes Thema - Migration - in ein beschwingtes Stück Entspannungsliteratur verwandelt. So etwas zustande zu bringen, ist eine ganz eigene Kunst." Günter Kaindlstorfer, Ö1 ex libris, 11.06.17
"Was mich an Radek Knapp immer so freut: Er hat einen unglaublich trockenen Witz. ... Ein schmales, liebevolles Buch." Elke Heidenreich, SRF "Literaturclub", 24.05.17
"Ein weiteres, skurriles Wunderwerk dieses genialen Erzählers." Werner Krause, Kleine Zeitung, 26.03.17
"Radek Knapp ist ein Meister der Pointe und des bösen Humors." Christian Schacherreiter, Oberösterreichische Nachrichten, 25.03.17
"Was dem Erzähler im Exil an Erfreulichem, an Widrigkeiten, an Verwunderlichem und auch an eher Unspektakulärem begegnet, schildert Knapp auf humoristische Weise. ... Im Tonfall erinnert Radeks Erzählung an den großen polnischen Satiriker Slawomir Mrozek." Thomas Rothschild, Die Presse, 11.03.17
"Radek Knapp erzählt Walerians Geschichte, wie wir es von ihm kennen: Ironisch, flott und witzig. Dennoch klingt hier ein tief melancholischer Grundton an. ... Eine Migrantenerzählung für Inländer erklärt." Kristina Pfoser, Ö1-Morgenjournal, 20.02.17
"Knapps Spezialität: Die migrantische Schelmengeschichte, liebevoll, gut gelaunt und lakonisch erzählt. ... Klischees entlarvt knapp stets treffsicher mit Ironie. ... Mit 'Der Mann, der Luft zum Frühstück aß' präsentiert sich Knapp einmal mehr als Fachmann für das, was im weitesten Sinn als 'Heimatangelegenheiten' bezeichnet werden kann - für Dagebliebene und Zugezogene. Eine erfrischende, augenzwinkernde Geschichte der Selbstermächtigung." Paula Pfoser, ORF.at, 17.02.17
"Knapp findet eine Sprache, die die zauberhafte Naivität der jungen Jahre und eine (früh-)reife Lakonie zusammenführt, sodass Mut und Humor zugleich sprechen." Friedrich Reip, Galore, Februar 2017
"Was fremd sein bedeutet, weiß Radek Knapp. Dass er mit so viel Humor und Wärme darüber schreiben kann, macht sein kleines Buch groß." Elke Heidenreich
"Ein Migrantenroman in humoristischem Gewand, eine ironische Entwicklungsgeschichte, in der der Protagonist nach einem dramatischen Entwurzelungserlebnis allmählich wieder zu sich selbst findet. ... Eine Erzählung, die ein brisantes Thema - Migration - in ein beschwingtes Stück Entspannungsliteratur verwandelt. So etwas zustande zu bringen, ist eine ganz eigene Kunst." Günter Kaindlstorfer, Ö1 ex libris, 11.06.17
"Was mich an Radek Knapp immer so freut: Er hat einen unglaublich trockenen Witz. ... Ein schmales, liebevolles Buch." Elke Heidenreich, SRF "Literaturclub", 24.05.17
"Ein weiteres, skurriles Wunderwerk dieses genialen Erzählers." Werner Krause, Kleine Zeitung, 26.03.17
"Radek Knapp ist ein Meister der Pointe und des bösen Humors." Christian Schacherreiter, Oberösterreichische Nachrichten, 25.03.17
"Was dem Erzähler im Exil an Erfreulichem, an Widrigkeiten, an Verwunderlichem und auch an eher Unspektakulärem begegnet, schildert Knapp auf humoristische Weise. ... Im Tonfall erinnert Radeks Erzählung an den großen polnischen Satiriker Slawomir Mrozek." Thomas Rothschild, Die Presse, 11.03.17
"Radek Knapp erzählt Walerians Geschichte, wie wir es von ihm kennen: Ironisch, flott und witzig. Dennoch klingt hier ein tief melancholischer Grundton an. ... Eine Migrantenerzählung für Inländer erklärt." Kristina Pfoser, Ö1-Morgenjournal, 20.02.17
"Knapps Spezialität: Die migrantische Schelmengeschichte, liebevoll, gut gelaunt und lakonisch erzählt. ... Klischees entlarvt knapp stets treffsicher mit Ironie. ... Mit 'Der Mann, der Luft zum Frühstück aß' präsentiert sich Knapp einmal mehr als Fachmann für das, was im weitesten Sinn als 'Heimatangelegenheiten' bezeichnet werden kann - für Dagebliebene und Zugezogene. Eine erfrischende, augenzwinkernde Geschichte der Selbstermächtigung." Paula Pfoser, ORF.at, 17.02.17
"Knapp findet eine Sprache, die die zauberhafte Naivität der jungen Jahre und eine (früh-)reife Lakonie zusammenführt, sodass Mut und Humor zugleich sprechen." Friedrich Reip, Galore, Februar 2017
"Was fremd sein bedeutet, weiß Radek Knapp. Dass er mit so viel Humor und Wärme darüber schreiben kann, macht sein kleines Buch groß." Elke Heidenreich