Ben ist brillant - ein Mann mit Stil, gebildet und attraktiv, im besten Alter, beruflich erfolgreich. Dank seiner gesellschaftlichen und geschäftlichen Triumphe sowie seiner nicht seltenen Liebesabenteuer gelingt es ihm immer wieder, seine Kindheit als polnischer Jude während des Zweiten Weltkriegs zu verdrängen, Ben, perfekter Jongleur im Zentrum internationaler Hochfinanz, leidet unter einer gravierenden Schwäche: »Immer dann, wenn lebenswichtige Entscheidungen auf dem Spiel standen, kam er, der pünktlichste, zuverlässigste Mensch unter der Sonne, zu spät.« Selbst eine große Liebe kann den Weg, den das Schicksal für ihn vorgesehen hat, nicht ändern.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.09.1996Zu spät
Louis Begley erfindet seinen Gatsby · Von Hubert Spiegel
Ein Mann kommt nach Paris, richtet sich ein, großzügig und komfortabel, aber keineswegs prunkvoll. Innerhalb kurzer Zeit verfügt er über glänzende Geschäftsbeziehungen. Bald ist er ein angesehener Gast der Pariser Gesellschaft: ebenso charmant wie gebildet, einflußreich, aber diskret. Über seiner Vergangenheit allerdings liegt ein undurchdringlicher Schleier. Man spürt, daß hier einer anders ist. Das macht ihn noch interessanter.
Der Fremde hat Affären, und irgendwann trifft er auf die Frau eines jungen Mannes aus guter Familie, dessen Karriere er zu fördern beginnt. Er wird der Gönner des jungen Anwaltes und der Liebhaber seiner Frau. Der betrogene Ehemann entdeckt die Liaison, und nun wird es dramatisch. Am Ende hat der Fremde eine Ehe, sein eigenes und das Leben seiner Geliebten zerstört und begeht Selbstmord.
Die Handlung von Louis Begleys neuem Roman könnte aus einem französischen Gesellschaftsroman des 19. Jahrhunderts stammen: Aufstieg und Fall eines Parvenüs, der alles darum gibt, seine zweifelhafte Herkunft zu verbergen und die Schatten seiner Vergangenheit abzuschütteln, ein Spiel von Hochstaplertum und Ehebruch, Liebe und Verrat, Leidenschaft und Treulosigkeit. Balzac oder Maupassant hätten Begleys "Mann, der zu spät kam" zum Anlaß für ein Sittengemälde genommen und jene im Verschwinden begriffene Gesellschaft gezeichnet, zu der der Fremde gehören will und nicht gehören kann.
Aber Begleys Roman, sein zweiter, der 1992 im Original erschienen ist, und jetzt als drittes Buch des New Yorker Anwaltes ins Deutsche übersetzt wurde, spielt gegen Ende der sechziger Jahre unseres Jahrhunderts und interessiert sich nicht besonders für Sitten- und Gesellschaftsbilder. Die Jeunesse dorée der amerikanischen Ostküste und die feine Pariser Gesellschaft, die Welt der Hochfinanz und der internationalen Geschäftsbeziehungen, die den Hintergrund dieses Romans abgeben, werden in einer seltsamen Mischung aus Desinteresse und genauester Beobachtung beschrieben. Wenn Begley von den Hosen amerikanischer Geschäftsleute sagt, daß sie sich "sehnsüchtig nach den Schuhen streckten, aber nie ganz hinunterreichten", werden einige Vorzüge dieses Autors offenbar, der seine Beobachtungen mit großer Schärfe macht und mit ebenso großer Ironie und Leichtigkeit wiedergibt.
Die Studentenunruhen liegen ein Jahr zurück, als Ben nach Paris kommt, und während er das Pariser Büro einer angesehenen Wall-Street-Bank führt und die tragisch endende Affäre mit der verheirateten Véronique Decaze beginnt, wird in den Vereinigten Staaten gegen den Vietnam-Krieg demonstriert. Obwohl der Roman überwiegend in Paris und nur zum geringeren Teil in New York spielt, sind es die Daten amerikanischer Politik, die Begley als Eckpfeiler seiner Chronologie heranzieht, einer Chronologie, deren Anfangspunkt ein Datum markiert, das nie genannt wird. Das einzige Ereignis der europäischen Politik, das in diesem Buch auftaucht, ist zugleich eine Anspielung auf den Nullpunkt dieser Chronologie: Willy Brandts Kniefall vor dem Denkmal für die Toten des Warschauer Ghettos.
Ben liest davon in einer brasilianischen Zeitung und "schüttelt sich". Die Lektüre ruft eine physiologische Reaktion hervor, denn sie rührt an einen Bereich, den Ben hinter einem "bronzenen Tor" verschlossen wissen wollte: seine Kinderjahre und die Erinnerung daran. "Das große Lager, in dem alle Scham und Verletzlichkeit seines Lebens aufbewahrt waren, sollte verriegelt sein: ein privates Kuriositätenkabinett, dessen erniedrigte, verschmähte Laren und Penaten nur ein einziger Besucher anstarren würde - er selbst. Nur Neuerwerbungen und kunstvolle Fälschungen würden ausgestellt werden." Und so ist das Leben, dessen Facetten Louis Begley zusammenträgt, eine Abfolge von Pastiches und Camouflagen, tragisch in ihrem Ende, aber meisterhaft in der Ausführung. Denn Ben, der Mann, der zu spät kam, lernte das Lügen in Zeiten des Krieges.
Die Kindheit, die Ben fehlt, weil seine Erinnerungen "unaussprechlich oder ausgelöscht" sind, ist die große Leerstelle in diesem Buch. Es gibt kaum einen Hinweis auf Bens Vergangenheit. Der Leser erfährt lediglich, daß Ben aus der "Prähistorie der europäischen Kriegszeit" nach Amerika gekommen ist und nun seinen ganzen Eifer dareinsetzt, sich selbst neu zu erfinden, gemäß dem Ideal des Landes, das ihn aufgenommen hat. Die Erziehung, die der junge Mann aus Polen sich in der neuen Welt verordnet, kennt nur ein Ziel: die Vergangenheit zu überwinden und alles zu tilgen, was darauf hinweisen könnte, daß er anders ist als seine Umgebung.
Begley kann jedoch darauf zählen, daß der Leser weiß, was Ben in seiner Kindheit widerfahren ist. "Lügen in Zeiten des Krieges", Begleys erster, 1991 im Original und drei Jahre später auch auf deutsch erschienener Roman, hat die Geschichte dieser Kindheit erzählt. "Der Mann, der zu spät kam" läßt sich als Fortsetzung von Begleys erstem Roman lesen, als Entwurf eines Lebens, das von der Erfahrung der Judenverfolgung gezeichnet ist. Begley schildert, was aus dem jüdischen Jungen Maciek hätte werden können, der durch Vorsicht und Verstellung der Verfolgung durch die Nazis in Polen entgeht und dabei Lüge und Verrat als wichtigste Voraussetzung des eigenen Überlebens kennenlernt.
Die Folge dieser Erfahrungen ist ein unüberwindliches Mißtrauen gegen sich selbst, das sich zum Selbsthaß steigert. "Verdorrt, verdüstert und verzweifelt", unfähig zu lieben, unwürdig, Liebe zu empfangen - so sieht Ben sich selbst, und dieses Bild scheint ihm um so wahrhaftiger, je besser er es vor den Augen anderer zu verbergen versteht.
Um seinen Helden von innen wie von außen beschreiben zu können, bemüht Begley eine Erzählkonstruktion, die ihm gute Dienste leistet, aber auch einige Probleme mit sich bringt. Begley läßt Bens Geschichte von einem Ich-Erzähler berichten, der sie aus seinen eigenen Erinnerungen und Briefen von und an Ben rekonstruiert. Eine wichtige Rolle spielen dabei die "Notaben", Aufzeichnungen, Notiz- und Tagebücher, die Ben seinem Freund und Testamentsvollstrecker Jack hinterlassen hat und die in den Text eingeflochten werden. Zuweilen ergänzen sie Erinnerungen Jacks oder füllen Lücken und schildern Begebenheiten, von denen Jack nichts gewußt hat. Vor allem aber zeigen sie Ben, wie ihn niemand kannte: "verloren und entwurzelt", gefangen in einer verzweifelten Einsamkeit, die jede Regung erstickt und ihr Opfer im entscheidenden Augenblick lähmt: "Immer dann, wenn lebenswichtige Entscheidungen auf dem Spiel standen, kam er, der pünktlichste und zuverlässigste Mensch unter der Sonne, zu spät . . .".
Um Ben so zeigen zu können, wie seine Umgebung ihn sieht, braucht Begley Jack, und er unternimmt eine Menge, um aus seinem Erzähler eine richtige Romanfigur zu machen: Er gewährt ihm eine vornehme Ostküsten-Herkunft, verheiratet ihn, schenkt ihm Kinder und einen Beruf als Wissenschaftsjournalist. Er versieht ihn sogar mit einer literarischen Vergangenheit. Der Bericht über Ben ist Jacks zweites Buch, und wie bei seinem weit zurückliegenden ersten Roman, den er nach einem Segelunfall seines Bruders schrieb, ist der Tod eines ihm Nahestehenden der Impuls seines Schreibens.
Begley liebt literarische Anspielungen. Wenn Jack sich von Ben an Marlow, Joseph Conrads Erzähler in "Herz der Finsternis" erinnert fühlt, wenn Ben Gedichte von Aragon zitiert, auf Joyce und Yeats anspielt und zum Teil, wie bei Rilke und Pierre Jean Jouve, weitreichende Paralellen zwischen den Figuren aufscheinen, legt der Autor literarische Fährten und weist, hierin nicht so diskret wie sonst, mit dem Finger auf die Tradition, in der er gesehen werden möchte. Um so erstaunlicher ist es, daß Begley kein Wort über F. Scott Fitzgeralds "Der große Gatsby" verliert, mit dem sein Buch kaum weniger gemeinsam hat als mit Rilkes eifrig zitiertem "Malte Laurids Brigge".
Wie Malte im Paris der Jahrhundertwende sieht Ben sich mit den Schrecken der Moderne konfrontiert. Aber während Maltes Erinnerungsbilder sich "schließlich zu einer dänischen Kindheit mit Spitzenkragen und Sahnecreme" fügen, sind Bens Erinnerungen "unaussprechlich oder ausgelöscht". Er fühlt sich zwar "weniger wirr" als Malte, aber ihm steht weniger zu Gebot: "Ich bin wie Tarzan, ein komischer Affenmann, dem die Kindheit fehlt, aber ich weiß nicht, wie man von Baum zu Baum schwingen und sich von einer Jane lieben lassen kann."
Ben, der Mann, der zu spät kam, ist ein Anti-Malte und ein Gatsby aus Polen. Wie Fitzgerald, dessen Lebensthema von der "zweiten Chance" hier aufgenommen wird, erzählt Begley von einer Liebe mit falschem Zeitplan und die klassische amerikanische Geschichte eines Mannes, der sich selbst erfindet und nach großartigen Anfangserfolgen kläglich scheitert. Aber anders als Malte, der unter dem Schock der "immensen Wirklichkeit" der Stadt Paris "Verlorenes aus der Kindheit" wiedergewinnt, hat Ben seine Kindheit unter dem Schrecken der Judenvernichtung in Europa für immer verloren. Der einzige Schrecken, den das moderne Paris für Ben bereithalten kann, ist eine Erfahrung, die von der Großstadt nicht hervorgerufen, sondern nur wie ein Echo zurückgeworfen wird. Es ist die Erfahrung einer alles verschlingenden Einsamkeit, die Begley mit jener großen Lakonie und bewegenden Intensität schildert, die schon seinen ersten Roman auszeichnete.
Louis Begley: "Der Mann, der zu spät kam." Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Christa Krüger. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1996. 284 S., geb., 39,80 DM.
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Louis Begley erfindet seinen Gatsby · Von Hubert Spiegel
Ein Mann kommt nach Paris, richtet sich ein, großzügig und komfortabel, aber keineswegs prunkvoll. Innerhalb kurzer Zeit verfügt er über glänzende Geschäftsbeziehungen. Bald ist er ein angesehener Gast der Pariser Gesellschaft: ebenso charmant wie gebildet, einflußreich, aber diskret. Über seiner Vergangenheit allerdings liegt ein undurchdringlicher Schleier. Man spürt, daß hier einer anders ist. Das macht ihn noch interessanter.
Der Fremde hat Affären, und irgendwann trifft er auf die Frau eines jungen Mannes aus guter Familie, dessen Karriere er zu fördern beginnt. Er wird der Gönner des jungen Anwaltes und der Liebhaber seiner Frau. Der betrogene Ehemann entdeckt die Liaison, und nun wird es dramatisch. Am Ende hat der Fremde eine Ehe, sein eigenes und das Leben seiner Geliebten zerstört und begeht Selbstmord.
Die Handlung von Louis Begleys neuem Roman könnte aus einem französischen Gesellschaftsroman des 19. Jahrhunderts stammen: Aufstieg und Fall eines Parvenüs, der alles darum gibt, seine zweifelhafte Herkunft zu verbergen und die Schatten seiner Vergangenheit abzuschütteln, ein Spiel von Hochstaplertum und Ehebruch, Liebe und Verrat, Leidenschaft und Treulosigkeit. Balzac oder Maupassant hätten Begleys "Mann, der zu spät kam" zum Anlaß für ein Sittengemälde genommen und jene im Verschwinden begriffene Gesellschaft gezeichnet, zu der der Fremde gehören will und nicht gehören kann.
Aber Begleys Roman, sein zweiter, der 1992 im Original erschienen ist, und jetzt als drittes Buch des New Yorker Anwaltes ins Deutsche übersetzt wurde, spielt gegen Ende der sechziger Jahre unseres Jahrhunderts und interessiert sich nicht besonders für Sitten- und Gesellschaftsbilder. Die Jeunesse dorée der amerikanischen Ostküste und die feine Pariser Gesellschaft, die Welt der Hochfinanz und der internationalen Geschäftsbeziehungen, die den Hintergrund dieses Romans abgeben, werden in einer seltsamen Mischung aus Desinteresse und genauester Beobachtung beschrieben. Wenn Begley von den Hosen amerikanischer Geschäftsleute sagt, daß sie sich "sehnsüchtig nach den Schuhen streckten, aber nie ganz hinunterreichten", werden einige Vorzüge dieses Autors offenbar, der seine Beobachtungen mit großer Schärfe macht und mit ebenso großer Ironie und Leichtigkeit wiedergibt.
Die Studentenunruhen liegen ein Jahr zurück, als Ben nach Paris kommt, und während er das Pariser Büro einer angesehenen Wall-Street-Bank führt und die tragisch endende Affäre mit der verheirateten Véronique Decaze beginnt, wird in den Vereinigten Staaten gegen den Vietnam-Krieg demonstriert. Obwohl der Roman überwiegend in Paris und nur zum geringeren Teil in New York spielt, sind es die Daten amerikanischer Politik, die Begley als Eckpfeiler seiner Chronologie heranzieht, einer Chronologie, deren Anfangspunkt ein Datum markiert, das nie genannt wird. Das einzige Ereignis der europäischen Politik, das in diesem Buch auftaucht, ist zugleich eine Anspielung auf den Nullpunkt dieser Chronologie: Willy Brandts Kniefall vor dem Denkmal für die Toten des Warschauer Ghettos.
Ben liest davon in einer brasilianischen Zeitung und "schüttelt sich". Die Lektüre ruft eine physiologische Reaktion hervor, denn sie rührt an einen Bereich, den Ben hinter einem "bronzenen Tor" verschlossen wissen wollte: seine Kinderjahre und die Erinnerung daran. "Das große Lager, in dem alle Scham und Verletzlichkeit seines Lebens aufbewahrt waren, sollte verriegelt sein: ein privates Kuriositätenkabinett, dessen erniedrigte, verschmähte Laren und Penaten nur ein einziger Besucher anstarren würde - er selbst. Nur Neuerwerbungen und kunstvolle Fälschungen würden ausgestellt werden." Und so ist das Leben, dessen Facetten Louis Begley zusammenträgt, eine Abfolge von Pastiches und Camouflagen, tragisch in ihrem Ende, aber meisterhaft in der Ausführung. Denn Ben, der Mann, der zu spät kam, lernte das Lügen in Zeiten des Krieges.
Die Kindheit, die Ben fehlt, weil seine Erinnerungen "unaussprechlich oder ausgelöscht" sind, ist die große Leerstelle in diesem Buch. Es gibt kaum einen Hinweis auf Bens Vergangenheit. Der Leser erfährt lediglich, daß Ben aus der "Prähistorie der europäischen Kriegszeit" nach Amerika gekommen ist und nun seinen ganzen Eifer dareinsetzt, sich selbst neu zu erfinden, gemäß dem Ideal des Landes, das ihn aufgenommen hat. Die Erziehung, die der junge Mann aus Polen sich in der neuen Welt verordnet, kennt nur ein Ziel: die Vergangenheit zu überwinden und alles zu tilgen, was darauf hinweisen könnte, daß er anders ist als seine Umgebung.
Begley kann jedoch darauf zählen, daß der Leser weiß, was Ben in seiner Kindheit widerfahren ist. "Lügen in Zeiten des Krieges", Begleys erster, 1991 im Original und drei Jahre später auch auf deutsch erschienener Roman, hat die Geschichte dieser Kindheit erzählt. "Der Mann, der zu spät kam" läßt sich als Fortsetzung von Begleys erstem Roman lesen, als Entwurf eines Lebens, das von der Erfahrung der Judenverfolgung gezeichnet ist. Begley schildert, was aus dem jüdischen Jungen Maciek hätte werden können, der durch Vorsicht und Verstellung der Verfolgung durch die Nazis in Polen entgeht und dabei Lüge und Verrat als wichtigste Voraussetzung des eigenen Überlebens kennenlernt.
Die Folge dieser Erfahrungen ist ein unüberwindliches Mißtrauen gegen sich selbst, das sich zum Selbsthaß steigert. "Verdorrt, verdüstert und verzweifelt", unfähig zu lieben, unwürdig, Liebe zu empfangen - so sieht Ben sich selbst, und dieses Bild scheint ihm um so wahrhaftiger, je besser er es vor den Augen anderer zu verbergen versteht.
Um seinen Helden von innen wie von außen beschreiben zu können, bemüht Begley eine Erzählkonstruktion, die ihm gute Dienste leistet, aber auch einige Probleme mit sich bringt. Begley läßt Bens Geschichte von einem Ich-Erzähler berichten, der sie aus seinen eigenen Erinnerungen und Briefen von und an Ben rekonstruiert. Eine wichtige Rolle spielen dabei die "Notaben", Aufzeichnungen, Notiz- und Tagebücher, die Ben seinem Freund und Testamentsvollstrecker Jack hinterlassen hat und die in den Text eingeflochten werden. Zuweilen ergänzen sie Erinnerungen Jacks oder füllen Lücken und schildern Begebenheiten, von denen Jack nichts gewußt hat. Vor allem aber zeigen sie Ben, wie ihn niemand kannte: "verloren und entwurzelt", gefangen in einer verzweifelten Einsamkeit, die jede Regung erstickt und ihr Opfer im entscheidenden Augenblick lähmt: "Immer dann, wenn lebenswichtige Entscheidungen auf dem Spiel standen, kam er, der pünktlichste und zuverlässigste Mensch unter der Sonne, zu spät . . .".
Um Ben so zeigen zu können, wie seine Umgebung ihn sieht, braucht Begley Jack, und er unternimmt eine Menge, um aus seinem Erzähler eine richtige Romanfigur zu machen: Er gewährt ihm eine vornehme Ostküsten-Herkunft, verheiratet ihn, schenkt ihm Kinder und einen Beruf als Wissenschaftsjournalist. Er versieht ihn sogar mit einer literarischen Vergangenheit. Der Bericht über Ben ist Jacks zweites Buch, und wie bei seinem weit zurückliegenden ersten Roman, den er nach einem Segelunfall seines Bruders schrieb, ist der Tod eines ihm Nahestehenden der Impuls seines Schreibens.
Begley liebt literarische Anspielungen. Wenn Jack sich von Ben an Marlow, Joseph Conrads Erzähler in "Herz der Finsternis" erinnert fühlt, wenn Ben Gedichte von Aragon zitiert, auf Joyce und Yeats anspielt und zum Teil, wie bei Rilke und Pierre Jean Jouve, weitreichende Paralellen zwischen den Figuren aufscheinen, legt der Autor literarische Fährten und weist, hierin nicht so diskret wie sonst, mit dem Finger auf die Tradition, in der er gesehen werden möchte. Um so erstaunlicher ist es, daß Begley kein Wort über F. Scott Fitzgeralds "Der große Gatsby" verliert, mit dem sein Buch kaum weniger gemeinsam hat als mit Rilkes eifrig zitiertem "Malte Laurids Brigge".
Wie Malte im Paris der Jahrhundertwende sieht Ben sich mit den Schrecken der Moderne konfrontiert. Aber während Maltes Erinnerungsbilder sich "schließlich zu einer dänischen Kindheit mit Spitzenkragen und Sahnecreme" fügen, sind Bens Erinnerungen "unaussprechlich oder ausgelöscht". Er fühlt sich zwar "weniger wirr" als Malte, aber ihm steht weniger zu Gebot: "Ich bin wie Tarzan, ein komischer Affenmann, dem die Kindheit fehlt, aber ich weiß nicht, wie man von Baum zu Baum schwingen und sich von einer Jane lieben lassen kann."
Ben, der Mann, der zu spät kam, ist ein Anti-Malte und ein Gatsby aus Polen. Wie Fitzgerald, dessen Lebensthema von der "zweiten Chance" hier aufgenommen wird, erzählt Begley von einer Liebe mit falschem Zeitplan und die klassische amerikanische Geschichte eines Mannes, der sich selbst erfindet und nach großartigen Anfangserfolgen kläglich scheitert. Aber anders als Malte, der unter dem Schock der "immensen Wirklichkeit" der Stadt Paris "Verlorenes aus der Kindheit" wiedergewinnt, hat Ben seine Kindheit unter dem Schrecken der Judenvernichtung in Europa für immer verloren. Der einzige Schrecken, den das moderne Paris für Ben bereithalten kann, ist eine Erfahrung, die von der Großstadt nicht hervorgerufen, sondern nur wie ein Echo zurückgeworfen wird. Es ist die Erfahrung einer alles verschlingenden Einsamkeit, die Begley mit jener großen Lakonie und bewegenden Intensität schildert, die schon seinen ersten Roman auszeichnete.
Louis Begley: "Der Mann, der zu spät kam." Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Christa Krüger. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1996. 284 S., geb., 39,80 DM.
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