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Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.06.2013

Unter dem Fallschirm
des Glücks
Sloan Wilsons Roman „Der Mann im grauen Flanell“
aus dem Jahr 1955 setzt den Angestellten ein Denkmal
VON NICO BLEUTGE
Wer dieses Buch in die Hand nimmt, muss sich von der Hoffnung auf Glück verabschieden. Schon der Umschlag zeigt die triste Gleichheit chromglänzender Rolltreppen. Und darauf die zahllosen Angestellten in ihren frisch gebügelten Anzügen. „Die Uniform von heute“, heißt es einmal, „als hätte jemand eine Verordnung erlassen“. Keine Aussicht auf ein ausgeglichenes Leben, kein erfüllter Moment jenseits der Arbeit. Gleichwohl ist Sloan Wilsons Roman von 1955 mehr als nur Angestelltenliteratur. Mit seinen Genreszenen und Rückblenden versucht sich Wilson an einem Portrait der amerikanischen Nachkriegszeit. Und bietet nicht weniger als Unterhaltung – im guten wie im schlechten Sinne.
  Es ist die Welt der Empfangshallen und Aufzüge, der Großraumbüros und Schreibtische, der Karteikarten und klackernden Schreibmaschinen, die der amerikanische Autor vor dem Leser ausbreitet (von Eike Schönfeld neu in ein gut lesbares Deutsch übersetzt). Tom Rath arbeitet bei einer privaten Stiftung, die Wissenschaft und Kunst unterstützt. Mit seiner Frau Betsy und den drei Kindern wohnt er in einer kleinen Stadt in Connecticut. Gerade einmal 33 Jahre alt, hat er doch die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs im Rücken und eine Maxime für sein Leben entwickelt: „ ,Träume von Pracht und Herrlichkeit’, sagte er, ,ich habe mein ganzes Leben damit verbracht, sie zu überwinden’“.
  Doch Betsy ist das kleine Haus zu schäbig – und so richtig zufrieden scheint auch Tom nicht. Nach dem Tod von Toms reicher Großmutter zieht die Familie in das Haus der alten Dame in einem Vorort von New York. Alle Hoffnungen ruhen auf Toms neuer Stelle bei einer großen Radio- und Fernsehgesellschaft. Aber die lähmende Kraft des Arbeitslebens lässt nicht nach.
  Mit der Empathie eines Psychiaters beschreibt Sloan Wilson Toms und Betsys Versuche, die Lethargie der „müden Dreißiger“, wie Toms Arzt es einmal beschreibt, zu überwinden. Es ist ein Geflecht aus Arbeitsdruck, Konkurrenz, tief sitzenden Erinnerungen und Sorgen über die Zukunft, das ein Erleben der Gegenwart unmöglich macht. „Entfremdung“ würden die Soziologen nennen, was für Tom ein Leben „in grundverschiedenen Welten“ ist.
  Vor allem die Erinnerungen an den Krieg, in dem Tom als Fallschirmjäger in Italien und im Pazifik unterwegs war, brechen ein ums andere Mal unter dem dünnen Boden der Wahrnehmung auf. Und ihre Wirkung könnte verheerender kaum sein: Hat die soldatische Seinsweise mit ihrem Kampf ums Überleben und den vielen Toten den jungen Tom an die Nullgrenze aller moralischen Vorstellungen gebracht, so ist gerade jenes Gefühl des „Eigentlich ist alles egal“ mit dafür verantwortlich, dass er der auszehrenden Müdigkeit des Alltags nur schwer etwas entgegenhalten kann.
  Billy Wilder hat die Welt der Angestellten nur wenige Jahre später in seinem Film „Das Appartement“ in Bildern aufgefaltet. Auch Sloan Wilson verdankt den Ideen und Techniken Hollywoods viel. Er orientiert sich weniger an den avancierten Romankonzepten, wie sie von Joyce oder Faulkner herkommen, vielmehr bindet er den Roman an die Möglichkeiten des Unterhaltungskinos. „Wie ein Film“ mutet Tom sein Leben bisweilen an, und das „Drehbuch“, von dem er immer wieder spricht, bestimmt nicht nur seine Gedanken, sondern auch die Struktur des Romans. Durchaus geschickt baut Wilson zunächst eine Dramaturgie auf, die von der Zuspitzung lebt. Toms Skrupel und seine allzu ehrgeizige Frau, ein neuer Chef und Verpflichtungen aus einer Affäre im Krieg, dazu ein ehemaliger Hausangestellter der Großmutter, der Anspruch auf das Erbe erhebt – alles sieht danach aus, als würde Tom auf eine Katastrophe zuschlittern.
  Aber Sloan Wilson hat sich beim Schreiben von Betsys Sehnsucht nach einem besseren Leben anstecken lassen. Der trennscharfe Blick auf das verwaltete Leben verliert sich zunehmend in kitschnahen Erinnerungen und Dialogen. Hier liegt Tom mit seiner Geliebten im Krieg unter den zerfetzten Damastvorhängen einer Ruine, dort sitzt er mit seiner Frau im Mondschein und philosophiert über die Welt. Als hätte Wilson die Verfilmung schon vorausgesehen, die der Regisseur Nunnally Johnson kurz nach dem Erscheinen des Buches übernehmen sollte. Vor allem aber löst er alle Konflikte schön artig auf. Am Ende steht der unvermeintliche Richter und beschwört die „schlichte Gerechtigkeit“.
  Es hat seine eigene Ironie, dass Tom bei seinem neuen Arbeitgeber ausgerechnet ein Projekt für „psychische Gesundheit“ betreuen soll. Sloan Wilson hat in dem Roman versucht, die psychische Großwetterlage der USA in den 1950er Jahren auszuleuchten. Leider hat er sich bei seinen Sätzen zu sehr von den einfachen psychologischen Kunstmitteln seiner Zeit beeinflussen lassen.
  Wer die leicht süßliche Atmosphäre von Filmen mit Ava Gardner oder Gregory Peck mag (der in der Verfilmung auch die Hauptrolle spielt), könnte mit diesem Roman glücklich werden. Wer aber den gesellschaftskritischen Impuls ernst nimmt, mit dem das Buch einsetzt, der wird sich nach der Lektüre eher fühlen wie Tom beim Blick aus seinem Bürofenster: „als wäre sein Fallschirm mitten in der Luft hängen geblieben, auf halbem Weg zwischen Flugzeug und Erde“.
Leider hält Sloane Wilson den
trennscharfen Blick auf das
verwaltete Leben nicht durch
      
Sloan Wilson: Der Mann im grauen Flanell.
Roman. Aus dem Englischen von Eike Schönfeld.
Mit einem Nachwort von Jonathan Franzen.
DuMont Buchverlag,
Köln 2013. 446 Seiten,
22 Euro.
Auch Wilsons Protagonist ist einer der vielen Berufspendler in New Yorks Grand Central Station.
FOTO: REUTERS
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.07.2013

Der Angestellte, der siebzehn Menschen tötete

Ein Typus kehrt zurück: Sloan Wilsons Familienroman "Der Mann im grauen Flanell" erzählt von einem Kriegsheimkehrer, dessen Geheimnis nach und nach gelüftet wird. Jetzt liegt eine neue Ausgabe des Klassikers vor, kommentiert von Jonathan Franzen.

Im Jahr 1955, als Sloan Wilsons Roman "Der Mann im grauen Flanell" erschien, wurde der Titel rasch zum Synonym für die Uniformität der Pendler. Damals sehr erfolgreich und mit Gregory Peck in der Hauptrolle verfilmt, kann man das Buch jetzt in einer neuen Übersetzung wiederentdecken. Erzählt wird von einem Paar aus der Vorstadt New Yorks. Täglich fährt Tom mit der Bahn in die Metropole, um im grauen Heer der Arbeitenden zu verschwinden. Er arbeitet viel und immer mehr. Betsy, seine Frau, kümmert sich um die Kinder und träumt bald den amerikanischen Traum von einem neuen Haus in einer besseren Gegend. Bald zieht man tatsächlich um, und die Visionen dieser klassischen amerikanischen Nachkriegsfamilie scheinen in Erfüllung zu gehen.

Aber dann, in der ersten Nacht im neuen Haus, in welchem Tom seine Kindheit verbracht hatte, sagt er diesen irritierenden Satz: "Seltsam, dass ich nur Fremde und Freunde töten darf." Betsy fragt nach, aber Tom ist müde, er ist immer müde, er hat ja auch viel zu tun. Wir Leser wissen zu diesem Zeitpunkt des Romans mehr als Betsy, weshalb uns der Satz weniger irritiert als sie. Wir sind dabei, in Toms Kopf, als ihn die Erinnerungen einholen.

Als Fallschirmspringer im Krieg hat er seinen Freund sterben sehen und wurde darüber fast verrückt - er schulterte die Leiche, wanderte lange damit herum und bestand darauf, dass man sie wiederbelebt. Siebzehn Menschen hat Tom getötet. Zugleich verbrachte er in einer Urlaubszeit zwischen zwei Einsätzen die glücklichste Zeit seines Lebens, mit einer Frau namens Maria aus Rom. Es gibt aus dieser Verbindung sogar einen Sohn, wie er durch viele Zufälle erst jetzt, mit 33, erfährt, als er um finanzielle Unterstützung gebeten wird. Manchmal, wenn er an seinem Schreibtisch sitzt und gerade nichts zu tun ist, denkt er über diese alten Zeiten nach, diese bizarre Verschmelzung von höchstem Glück und schlimmstem Leid. Tom und Betsy aber leben sich auseinander. Und vielleicht, denkt man, ist Tom sogar ein Pulverfass.

Man wartet nach diesem seltsamen Satz vom Töten darauf, dass er durchdreht in diesem weichgespülten Familien- und Arbeitsidyll; dass er vielleicht ein "Kriegszitterer" ist - das Wort fällt einmal, aus dem Munde eines Teilnehmers eines älteren Krieges, als das Wort "Trauma" noch unpopulär war. Toms Vater hatte ein solches Schicksal ereilt.

Aber nichts dergleichen passiert in diesem ruhigen, immer nur kurz aufgewühlten, durchweg anziehend geschmeidig und lebendig erzählten Roman. Und bei genauem Hinschauen ist er auch gar nicht so weichgespült, aber eben auch nicht schrill und revolutionär wie die zur selben Zeit schreibenden Beatniks um Kerouac und Ginsberg. Auch Wilson interessiert das große Thema der Zeit und aller Zeiten: die drohende Zwangshaft durch Konformität. "The Man in the Gray Flannel Suit" wurde dafür zum geflügelten Wort. Sein Roman hat tatsächlich mit den Jahren edlen Staub angesetzt, ist aber von ungebrochener erzählerischer Kraft.

Man merkt ihm seine Herkunft an, die fünfziger Jahre in New York, zwischen den Tintenlöschern und tippenden Sekretärinnen der Bürowelt des Mannes an der Arbeitsfront einerseits, zwischen Windpockenkindern seiner überforderten Frau im Fürsorgestrudel einer miefigen Vorstadt andererseits. Aber gerade das macht den Charme der Lektüre aus. Sie konfrontiert uns mit den veränderten Maßstäben der Gegenwart und der Frage, ob heute wirklich alles so anders ist. Der Fünfziger-Jahre-Traum ist aber meilenweit entfernt, und dies hier das Buch, das einen daran erinnert.

Sloan Wilson, der 2003 mit 83 Jahren in Virginia starb, fünfzehn Bücher und vier Kinder hinterließ, zeigt seinem Publikum den Weg in die Ehrlichkeit, den dieses Paar schließlich vorsichtig beschreitet. Oder nennen wir es etwas böse: Geständniszwang. Am Ende kommt alles klar auf den Tisch, es gibt keine Geheimnisse mehr. Und so scheint aus diesem Roman schon sachte das neue Vaterbild der sechziger Jahre heraus: Tom beschließt, trotz Karriereverlockung kein Arbeitstier zu werden, nicht Opfer des Konsumrauschs, sondern mehr Zeit für die Familie zu haben. Und natürlich für die Lokalpolitik.

Das ist freilich gegen Ende alles irgendwie zu schön, zu einfach, die inneren Konflikte werden zu schnell entsorgt, ganz anders als etwa in den Romanen eines Richard Yates, der seine Figuren und Themen komplexer anlegte und die Idylle vermied. Und Jonathan Franzen, selbst ein Spezialist für Familienromane, stellt in seinem Nachwort auch leicht amüsiert fest, Wilsons Roman handele von der Rettung eines schuldbeladenen Mannes durch seine großartige Frau, die ihn ebenjenen Weg in schonungslose Ehrlichkeit lehrt.

Man sollte sich fragen, warum in den letzten Jahren dieser Typ Mann aus den fünfziger Jahren, der Kriegsheimkehrer mit nach und nach gelüftetem Geheimnis, wieder auf Interesse stößt. Die Verfilmung von Richard Yates' 1961 erschienenem Roman "Revolutionary Road" (2008) oder die Serie "Mad Men" (auch hier kommt die Hauptfigur Don Draper aus einem Krieg) treffen offenbar einen Nerv. Sie pendeln wie Sloan Wilsons Roman gemächlich zwischen Geschäftswelt und Vorort, zwischen traditionellem Rollenbild und neuen Lebensentwürfen. Unterschätzen sollte man sie nicht. Sie erzählen von Übergangsphasen, deren Fluss vom Alten, Unbearbeiteten gebremst wird. Die Wunden der Kriege, Generationen später noch spürbar, sind hier noch frisch. Der Mann, das Alphatier, eckt mit seinen dort eingeübten Tugenden an. Sie gehen einen noch an, diese Romane aus den Fünfzigern - wenn sie so gut erzählt sind wie Sloan Wilsons Roman. Franzen beschreibt sehr schön das paradoxe Phänomen, dass man möglicherweise mit Tränen in den Augen liest und sich zugleich über diese Regung ärgere, weil man sich bedürftig nach Idyllen zeigt. Aber genau darin liegt die Stärke Sloan Wilsons, der seine Figuren liebt und nicht zynisch vorführt.

"Der Mann im grauen Flanell" ist darüber hinaus gerade wegen der verkrusteten Rollenbilder und des Zeitkolorits wie "eine Spritztour in einem Oldsmobile; man ist verblüfft über seinen Komfort, seine Geschwindigkeit und seine Fahrweise; vertraute Anblicke wirken frisch, wenn man sie durch seine kleinen Fenster sieht", so Franzen. Eike Schönfeld hat diesen Roman souverän übertragen und auch Wörter wie "Drahttongerät" untergebracht, die wie Keile zwischen der "Public Relation Abteilung" stehen und das Altmodische im Neubeginn der fünfziger Jahre markieren. Vor allem aber erweist sich Sloan Wilson als ordnungsliebender, seinen Stoff sehr genau arrangierender Erzähler, dem man gern folgt. Zu jeder Figur gibt es eine Gegenfigur, die drohend zeigt, wohin ein Verhalten führt. Arbeitssucht als Krankheit findet man hier schon formuliert. Wilson erzählt von den abwesenden Vätern und von jenen, die sie hinterlassen. Das sind Konflikte, wie man sie heute in anderen Spielarten kennt. Die Katastrophenerwartung freilich erfüllt sich eher in den Randgeschichten dieses Romans. Dass der Hauptstrang den Glücksweg einschlägt, sollte man diesem Roman aber nicht vorwerfen, lieber schätzen, dass er insgesamt unsentimental bleibt. Kein leichter Parcours bei diesem Stoff.

ANJA HIRSCH.

Sloan Wilson: "Der Mann im grauen Flanell". Roman.

Aus dem Amerikanischen von Eike Schönfeld. Mit einem Nachwort von Jonathan Franzen. Dumont Verlag, Köln 2013. 446 S. geb., 22,- [Euro].

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