Pedro Badrán erzählt die Geschichte eines vom Abriss bedrohten Hotels am Strand von Cartagena de Indias und damit die Geschichte all derer, die mit dem Hotel verbunden sind: Gäste, Eigentümer, Angestellte und Fans der mythischen Gestalt Tony Lafont, des Mannes mit der magischen Kamera, der verschwand und auf dessen Rückkehr alle warten.Die Hauptpersonen sind eine geheimnisvolle hübsche Jongleurin, die auf der Suche nach Tony Lafont ist; ein junger Mann, der auf der Strasse Glück bringende Eulen aus Draht herstellt und sich im Hotel einnistet, wo er an Amöbenruhr erkrankt; Tony Lafonts Freund Charlie, der die Rezeption des Hotels betreut; Claudia Soraya, eine Touristin aus dem Landesinnern, die eine Liebschaft mit Tony Lafont hatte und im Meer ertrunken ist; der nur durch seine Polaroidfotos und Aufzeichnungen präsente Tony Lafont, der das ganze Universum, das er in dem Hotel verkörpert sieht, mit 3652 Fotos zu fassen kriegen will.Pedro Badrán hat mit diesem Roman die kolumbianische Hafenstadt Cartagena als literarischen Ort entdeckt und dabei die ganze Magie der Karibik eingefangen, das Licht, die Fülle der Farben und Klänge, die Sinnlichkeit, die Würde der Armut, die einzigartige Atmosphäre von Verfall und Poesie, die Zugewandtheit der Menschen zum Leben und die Traurigkeit der Tropen. Tony Lafont notiert in seinem Logbuch die in einer leidvollen Geschichte erworbene Weisheit, nach der die Menschen der Karibik leben: »Sich keine Hoffnungen machen und nicht zu verzweifeln.«Ein magisches Wort, nach dem in dem Buch gesucht wird, ist funámbulo. Und das sind die Romanhelden allemal: Funambulisten, Seiltänzer - Menschen, die sich, etwas weltfremd, aber lebensnah, stets am Rand der Existenz bewegen, und das auf eine fast spielerische Art. Es sind Lebenskünstler, besser gesagt, Überlebenskünstler, die sich wie Schlafwandler in ihrer heiklen Situation behaupten.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.05.2019Abwarten und Rum trinken im Schatten der Bäume
Pedro Badrán erzählt von einem abgewirtschafteten Hotel in Cartagena: "Der Mann mit der magischen Kamera"
Es gibt Bücher, die es ihren Lesern schwermachen, Texte, in die sie nur schwer hineinkommen und noch schwerer wieder herausfinden. Der in der Schweizer edition 8 erschienene Roman des Kolumbianers Pedro Badrán ist so ein Buch. Wer den Einstieg schafft und den Überblick nicht verliert im Gewirr einander überkreuzender Zeitebenen und Erzählstimmen, wird reich belohnt. Doch vorher sind Hürden zu überwinden, von denen nicht klar wird, ob sie aufs Konto des Autors oder der Übersetzung gehen: So wie wenn gleich zu Anfang von betäubender Stille die Rede ist, die Ohrensausen erzeugt, während im nächsten Satz die Brandung des Meeres gegen die Felsen donnert. Ja, was denn nun? Oder wenn ein an Amöbenruhr leidender Typ namens Charlie ständig zur Toilette rennt und gleichzeitig mit seiner Partnerin Sex hat - beides ist nur schwer miteinander zu vereinbaren.
Worum geht es? Im Mittelpunkt des trotz solcher Ungereimtheiten höchst lesenswerten Romans steht keine Person, sondern ein Haus. Genauer gesagt: ein verkommenes Strandhotel an der Karibikküste Kolumbiens, in Cartagena, das seiner durch Verfall bedingten Schließung entgegengeht, trotzdem oder gerade deshalb aber ein letztes Aufgebot skurriler Gäste in seinen bröckelnden Mauern beherbergt. Deren vollständige Aufzählung, geschweige denn Charakterisierung würde den Rahmen dieser Rezension sprengen. Es sind Zukurzgekommene oder Gescheiterte, Späthippies und Hobos, die sich im Patio des Hotels versammeln, um ihren in die Jahre gekommenen Traum von Drogen, Sex und Rock 'n' Roll zu verwirklichen, der irgendwann von Kalifornien nach Kolumbien überschwappte, wo Rumba, Bolero und Vallenato die Rockmusik ersetzten. Sie alle warten auf die Rückkehr eines legendär gewordenen Gastes namens Tony Lafont, der in der New Yorker Kunstszene Karriere gemacht haben oder im nahe gelegenen Barranquilla als Parkwächter arbeiten soll - eins schließt das andere nicht aus. "Warten auf Godot" sozusagen, denn bevor er Cartagena für immer verließ, fotografierte Tony das Hotel mit all seinen Gästen und dem gesamten Inventar, von Klobürsten über Tassen und Teller bis zu den staubigen Mandelbäumen, in deren Schatten er Domino spielte und Rum trank. Ein grandioses Projekt, genial wie alles Einfache, das schwer zu machen ist, denn was Tony Lafont vorschwebte, war der so heroische wie aussichtslose Versuch, der Zeit in die Arme zu fallen, um sie daran zu hindern, das zu tun, was sie seit jeher tut - sie rauscht vorbei. "Ich will, dass sich meine Spur verliert und ich nur durch meine Fotos lebe, von denen Michel sagen wird, sie seien Eintrittskarten ins Nirwana, aber was meiner Arbeit fehle, sei ein Sinn, nichts hat Sinn, meistens rackern wir uns nur ab und haben nichts davon, ist doch so, und vielleicht kommt der Tag, an dem ich 999 Fotos haben werde, wenn ich bei Nummer 1000 ankomme, muss ich sofort das Foto 1001 schießen, weißt du, warum?"
Ein metaphysisches Unterfangen, wenn man so will, aber erst in dem Augenblick, da der Erzähler sich in eine Sackgasse manövriert und die Handlung auf der Stelle tritt, rücken Menschen und Dinge an ihren richtigen Platz, der Text nimmt Fahrt auf und erzeugt einen Sog, dem die Leser sich nicht mehr entziehen können. So besehen, hat der von palästinensischen Immigranten abstammende Pedro Badrán den lateinamerikanischen Roman nicht bloß um eine postmoderne Variante bereichert, sondern eine alte Geschichte neu erzählt, die von Sindbads Abenteuern über Coleridges "Ancient Mariner" bis zu Gert Loschütz' "Dunkler Gesellschaft" durch die Literarhistorie geistert.
HANS CHRISTOPH BUCH
Pedro Badrán: "Der Mann mit der magischen Kamera". Roman aus Cartagena de Indias.
Aus dem kolumbianischen Spanisch von Peter und Rainer Schultze-Kraft. edition 8, Zürich 2019. 224 S., geb., 22,20 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Pedro Badrán erzählt von einem abgewirtschafteten Hotel in Cartagena: "Der Mann mit der magischen Kamera"
Es gibt Bücher, die es ihren Lesern schwermachen, Texte, in die sie nur schwer hineinkommen und noch schwerer wieder herausfinden. Der in der Schweizer edition 8 erschienene Roman des Kolumbianers Pedro Badrán ist so ein Buch. Wer den Einstieg schafft und den Überblick nicht verliert im Gewirr einander überkreuzender Zeitebenen und Erzählstimmen, wird reich belohnt. Doch vorher sind Hürden zu überwinden, von denen nicht klar wird, ob sie aufs Konto des Autors oder der Übersetzung gehen: So wie wenn gleich zu Anfang von betäubender Stille die Rede ist, die Ohrensausen erzeugt, während im nächsten Satz die Brandung des Meeres gegen die Felsen donnert. Ja, was denn nun? Oder wenn ein an Amöbenruhr leidender Typ namens Charlie ständig zur Toilette rennt und gleichzeitig mit seiner Partnerin Sex hat - beides ist nur schwer miteinander zu vereinbaren.
Worum geht es? Im Mittelpunkt des trotz solcher Ungereimtheiten höchst lesenswerten Romans steht keine Person, sondern ein Haus. Genauer gesagt: ein verkommenes Strandhotel an der Karibikküste Kolumbiens, in Cartagena, das seiner durch Verfall bedingten Schließung entgegengeht, trotzdem oder gerade deshalb aber ein letztes Aufgebot skurriler Gäste in seinen bröckelnden Mauern beherbergt. Deren vollständige Aufzählung, geschweige denn Charakterisierung würde den Rahmen dieser Rezension sprengen. Es sind Zukurzgekommene oder Gescheiterte, Späthippies und Hobos, die sich im Patio des Hotels versammeln, um ihren in die Jahre gekommenen Traum von Drogen, Sex und Rock 'n' Roll zu verwirklichen, der irgendwann von Kalifornien nach Kolumbien überschwappte, wo Rumba, Bolero und Vallenato die Rockmusik ersetzten. Sie alle warten auf die Rückkehr eines legendär gewordenen Gastes namens Tony Lafont, der in der New Yorker Kunstszene Karriere gemacht haben oder im nahe gelegenen Barranquilla als Parkwächter arbeiten soll - eins schließt das andere nicht aus. "Warten auf Godot" sozusagen, denn bevor er Cartagena für immer verließ, fotografierte Tony das Hotel mit all seinen Gästen und dem gesamten Inventar, von Klobürsten über Tassen und Teller bis zu den staubigen Mandelbäumen, in deren Schatten er Domino spielte und Rum trank. Ein grandioses Projekt, genial wie alles Einfache, das schwer zu machen ist, denn was Tony Lafont vorschwebte, war der so heroische wie aussichtslose Versuch, der Zeit in die Arme zu fallen, um sie daran zu hindern, das zu tun, was sie seit jeher tut - sie rauscht vorbei. "Ich will, dass sich meine Spur verliert und ich nur durch meine Fotos lebe, von denen Michel sagen wird, sie seien Eintrittskarten ins Nirwana, aber was meiner Arbeit fehle, sei ein Sinn, nichts hat Sinn, meistens rackern wir uns nur ab und haben nichts davon, ist doch so, und vielleicht kommt der Tag, an dem ich 999 Fotos haben werde, wenn ich bei Nummer 1000 ankomme, muss ich sofort das Foto 1001 schießen, weißt du, warum?"
Ein metaphysisches Unterfangen, wenn man so will, aber erst in dem Augenblick, da der Erzähler sich in eine Sackgasse manövriert und die Handlung auf der Stelle tritt, rücken Menschen und Dinge an ihren richtigen Platz, der Text nimmt Fahrt auf und erzeugt einen Sog, dem die Leser sich nicht mehr entziehen können. So besehen, hat der von palästinensischen Immigranten abstammende Pedro Badrán den lateinamerikanischen Roman nicht bloß um eine postmoderne Variante bereichert, sondern eine alte Geschichte neu erzählt, die von Sindbads Abenteuern über Coleridges "Ancient Mariner" bis zu Gert Loschütz' "Dunkler Gesellschaft" durch die Literarhistorie geistert.
HANS CHRISTOPH BUCH
Pedro Badrán: "Der Mann mit der magischen Kamera". Roman aus Cartagena de Indias.
Aus dem kolumbianischen Spanisch von Peter und Rainer Schultze-Kraft. edition 8, Zürich 2019. 224 S., geb., 22,20 [Euro].
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