Warum gibt es eigentlich Männer, und noch dazu so viele? Die Herstellung eines männlichen Organismus ist biologisch sehr aufwendig - weshalb auch etliche Arten ohne Männchen auskommen -, und schon ein einziger Mann könnte mit den bei einem Geschlechtsakt produzierten Samenzellen sämtliche Frauen in Europa befruchten. Mehr noch: Spätestens seit Klonschaf Dolly ist klar, dass Männer sogar zur Erzeugung von Nachwuchs im Grunde überflüssig sind. Ist der Mann also ein evolutionäres Auslaufmodell, ein Irrtum der Natur.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Viel Freundliches hat der Autor über das männliche, also sein eigenes, Geschlecht nicht zu sagen. Was den Mann zum Mann macht, das Y-Chromosom nämlich, sei eine ziemlich traurige Angelegenheit und der Mann daher nicht viel mehr als eine reduzierte Frau. Sein genetisches Ende ist bereits abzusehen, keine zehn Millionen Jahre mehr, so Jones' Spekulation, und es ist aus und vorbei mit dem eingebildet starken Geschlecht. Gegen viele der Anekdoten, die der Autor präsentiert, hat der Rezensent Christian Schwägerl wenig einzuwenden - wen Erektionsprobleme und die Gründe für den früheren Tod des Mannes interessieren, bitte sehr. Problematisch dagegen sei der Versuch, die Kolumnen, die dem Buch zugrunde liegen, nachträglich zu einer Generalthese zusammenzurühren. Was dabei herauskomme, sei jedenfalls kein sehr stabiles "Gedankengebäude" - und am Ende lande das streckenweise unterhaltsame Buch doch in der "Ratgeber"- Ecke.
© Perlentaucher Medien GmbH"
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Die Ursuppe auf dem Frühstückstisch verschüttet: Steve Jones vertagt den Krieg der Geschlechter / Von Christian Schwägerl
Der Penisneid, den Psychologen Frauen unterstellen, hat eine spiegelbildliche molekularbiologische Entsprechung gefunden. Folgen Männer der vernichtenden Analyse des britischen Genetikers Steve Jones, müssen sie sich in Zukunft in X-Neid ergehen. So stolz mancher Schwanzträger laut Lehrbuchpsychologie auf seinen Penis ist, so sehr sollte ihn beim elektronenmikroskopischen Blick auf dessen genetische Wurzel Selbstmitleid, ja Entsetzen befallen. Denn die Erbanlagen, aus denen beim Menschen die männlichen Geschlechtsorgane und die typisch männlichen Hormonkaskaden resultieren, sind auf einem Chromosom untergebracht, das laut Jones nicht nur mickrig und vom inspirierenden Genaustausch isoliert, sondern langfristig sogar zum evolutionsbiologischen Untergang verurteilt ist.
Wer wie Frauen über zwei X-Chromosomen verfügt, kann sich über bessere Überlebenskräfte freuen. Kaum haben sich die Männer einigermaßen von den Anfeindungen der feministischen Ideologie erholt, kommt ausgerechnet aus den eigenen Reihen der Versuch eines Todesstoßes. Der Mann, schreibt Steve Jones, sei nicht viel mehr als eine "reduzierte Frau". Der männliche Körper sei in einem aufwendigen, Lebensenergie verzehrenden Kampf dagegen begriffen, zur Urform des Weiblichen zurückzukehren. Der Kampf dagegen, Frau zu werden, erscheint indes auf lange Sicht aussichtslos, und folgt man Jones, wäre dies gar kein Verlust. Sowohl das Y-Chromosom als auch seine Träger werden sich dem Sog des Weiblichen nämlich nicht entziehen können, mutmaßt der Genetiker spekulationsfreudig.
Eine ganze Batterie von Verweiblichungskräften sieht er in der modernen Industriegesellschaft wirken, angefangen bei östrogenähnlichen Umweltgiften, die Männer unfruchtbar werden und Busen zukommen lassen, bis hin zu den Auswahlmechanismen von Schulen, Hochschulen und bald auch Unternehmen. Mit der Biotechnik erwachse Frauen ein Arsenal, um Männer als Fortpflanzungspartner überflüssig zu machen. Und selbst wenn der Mann die ihm im "Zeitalter der Frauen" bevorstehenden Attacken überleben sollte, sei es spätestens in zehn Millionen Jahren um ihn geschehen. Dann nämlich sei der Verfall des Y-Chromosoms so weit fortgeschritten, daß die Natur den Mann ersetzen und sich zwangsläufig etwas Neues einfallen lassen werde.
Zehn Millionen Jahre sind eine lange Zeit. Vielleicht reicht dieser Zeitraum auch aus, um ein Buch über die Geschlechter hervorzubringen, in dem biologische Fakten und gesellschaftliche Folgerungen etwas sinnstiftender verwoben werden als in "Der Mann". Sein biologischer Blickwinkel zeichnet Jones, der am University College London tätig ist, aus, es ist ihm gelungen, das Geschlechterthema zugleich ernsthafter und unterhaltsamer aufzubereiten als die aus Magazinen und Ratgebern quellende Lifestyle- und Küchenpsychologie-Prosa. Von der Genetik und der Evolutionsgeschichte ausgehend, erkundet Jones in anekdotenreichen Schlaglichtern Phänomene des Mannseins. Er beschreibt, wie das Männliche in der Natur auf unterschiedlichste Weise entstanden ist und fortbesteht, gesteuert durch Chromosomen, einzelne Gene oder sogar nur durch Umweltfaktoren. Er wundert sich, warum in vielen Kulturen eine Vorliebe von Eltern für Söhne bestehe, obwohl diese sich durch eine Neigung zu Glatze, Bierbauch, Herzinfarkt, Mord und Selbstmord auszeichnen. Den Tücken der Erektion geht Jones ebenso nach wie der lebensverlängernden Wirkung der Kastration und den unehelichen Wirrungen in den meisten Stammbäumen.
Bei dieser populärwissenschaftlichen Hommage, in der Jones sein Talent als Wissenschaftskolumnist der Tageszeitung "Daily Telegraph" vorführt, bleibt es aber, ja es entsteht der Eindruck, hier sei das Material vieler Kolumnen miteinander verrührt, aber nicht wirklich zu einem Gedankengebäude aufbereitet worden.
Für manchen mag es tröstlich sein, daß die Serie aus Mißverständnissen, Konflikten und Zerwürfnissen, die er beim Rendezvous, am Frühstückstisch oder vor dem Scheidungsrichter durchmacht, bereits vor zwei Milliarden Jahren in der Ursuppe begonnen hat, als sich die Keimzellen des Lebens in zwei Gruppen aufteilten, eine weibliche mit größeren und eine männliche mit kleineren Zellen, deren Interessen nie wieder dieselben sein sollten. Doch was könnte der Mann, dem seine Ehefrau nun vorhält, er sei laut Jones biologisch gesehen das schwächere Geschlecht, anders antworten als: Darüber sprechen wir in zehn Millionen Jahren wieder! Spekulationen über solche Zeiträume können unterhaltsam sein, wie zuletzt die Fernsehserie "Die Zukunft ist wild" gezeigt hat, man sollte sie aber nicht mit dem Brustton der Gewißheit vortragen.
Erst nach der Drucklegung für die englische Ausgabe wurde die vollständige Sequenz des Y-Chromosoms von David Page, einem Forscher des Massachusetts Institute of Technology, veröffentlicht, mit einigen positiven Überraschungen. Obwohl das Y-Chromosom nicht wie alle anderen Chromosomen einen Tauschpartner für neue Gene hat, kann es Mutationen und Fehler im Programm korrigieren. Jones' theoretische Grundlage für den X-Neid, allein von der Größe eines Chromosoms auf seine Bedeutung zu schließen, erscheint spätestens nach der Publikation der Y-Sequenz als äußerst fragwürdig. Die zweite, noch schlimmere Falle besteht darin, Alltagsphänomene und langfristige biologische Trends in einem Atemzug abzuhandeln. Ein solches Vorhaben gelingt in der Populärwissenschaft nur, wenn man eine durchdachte Hypothese aufzubieten hat, wie dies etwa Richard Dawkins in den achtziger Jahren mit dem Konzept der "egoistischen Gene" gelungen ist. Der Mann als "Irrtum der Natur", wie es in Untertitel und Einleitung des Buches heißt, trägt nicht, denn die Natur kennt keine Irrtümer. Daß sich das Y-Chromosom verkleinert hat, muß zudem noch lange nicht für Verfall sprechen, es kann sich auch um eine Überlebensstrategie handeln. Jones' Schlußsentenz, das Y-Chromosom sei vielleicht überbewertet und ohnehin müßten sich Gene häufig der gesellschaftlichen Wirklichkeit beugen, läßt den Leser nach dreihundert Seiten Y-Prosa etwas ratlos zurück.
Um dem vorzubeugen, kratzt Jones am Ende doch die Kurve hin zum Ratgeber: Nur wenn Männer es mit weniger Alkohol und Gewalt, mit mehr Kooperation und Fürsorglichkeit versuchten, könnten sie sich gesellschaftlich behaupten. Wie Männer aber in die gesellschaftliche Vormachtstellungen gekommen sind, über die Frauen nun einige Jahrzehnte lang geklagt haben, welche verhaltensbiologischen Mechanismen hinter dem Männerphänomen des Krieges und der Eroberung stecken, welche gesellschaftlichen Normen den Mann der Gegenwart prägen und wie das Zeitalter der Frauen aussehen würde, darüber schweigt Jones sich leider aus. Da das Thema wichtig ist und sich nachhaltige Machtverschiebungen von Männern zu Frauen andeuten, werden andere den von Jones verdienstvoll aufgenommenen Faden weiterspinnen. Die nächsten hundert Jahre biologischer und verhaltenspsychologischer Grundlagenforschung werden zeigen, ob sich eine überzeugende Theorie der Geschlechter finden läßt. Im Jahr 10 002 004 könnte es allerdings schon zu spät dafür sein.
Steve Jones: "Der Mann". Ein Irrtum der Natur? Deutsch von Sebastian Vogel. Rowohlt Verlag, Reinbek 2003. 334 S., geb., 19,90 [Euro].
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