An einem wolkenlosen Tag in der Karibik verschwindet das Propellerflugzeug mit der 32-jährigen Seismologin Nelly an Bord plötzlich vom Radar. Nach monatelanger Suche werden Trümmerteile in den Wäldern Nicaraguas gefunden. Doch von Nelly weiter keine Spur. Zu Hause in Frankfurt kann ihre Freundin ihr rätselhaftes Verschwinden nicht verwinden. Sie reist nach Managua, quartiert sich in Nellys altem Zimmer ein, liest ihre zurückgelassenen Aufzeichnungen und Tagebücher und spricht mit den Menschen, die mit ihr zu tun hatten, getrieben von einer seltsamen Obsession, die abzulenken scheint von einem Geheimnis in ihrem eigenen Leben. Ihre Suche nach Nelly nimmt mehr und mehr die Züge einer Flucht an.
Der Mantel der Erde ist heiß und teilweise geschmolzen ist ein Roman über Fremdheit und Einsamkeit, über private und politische Gefährdungen, ein Roman über den Wunsch, zu verschwinden, und die Hoffnung, gesucht und geborgen zu werden, wenigstens in der Erinnerung, im Gespräch. Denn das Verschwinden setzt vielem ein Ende, nicht aber dem Erzählen.
Der Mantel der Erde ist heiß und teilweise geschmolzen ist ein Roman über Fremdheit und Einsamkeit, über private und politische Gefährdungen, ein Roman über den Wunsch, zu verschwinden, und die Hoffnung, gesucht und geborgen zu werden, wenigstens in der Erinnerung, im Gespräch. Denn das Verschwinden setzt vielem ein Ende, nicht aber dem Erzählen.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.04.2017Die Erde dreht sich
nicht um sich selbst
Nina Bußmanns neuer Roman lädt überzeugend dazu
ein, nach seiner verschwundenen Hauptfigur zu suchen
VON KARIN JANKER
Im Gegensatz zu Menschen verschwindet die Erde nicht einfach. Sie ist das Einzige, worauf man sich verlassen kann. Aus diesem Grund hatte Nelly sich entschieden, Geophysikerin zu werden. Sie wollte tektonische Anomalien und ihre Auswirkungen, also Erdbeben, untersuchen. „Ein sicheres Beschäftigungsverhältnis“, nannte sie das und war froh „sich in etwas zu vertiefen, das nichts mit Menschen zu tun hatte.“ Doch dann verschwindet Nelly und mit ihr jede Gewissheit.
Nelly ist die 32-jährige Hauptfigur in Nina Bußmanns neuem Roman „Der Mantel der Erde ist heiß und teilweise geschmolzen“. Oder anders: Nelly ist der Name jener Leerstelle, um die der Roman kreist. Denn auf die Frage, was Nelly für ein Mensch war, wird man bis zum Schluss keine Antwort, sondern nur Näherungswerte bekommen. Das ist eine Herausforderung an die Leser — aber eine, die sich am Ende lohnen wird. Nachdem ein Propellerflugzeug mit Nelly an Bord im Dschungel von Nicaragua abgestürzt ist, begibt sich die namenlose Ich-Erzählerin auf die Suche nach der Verschollenen. In Deutschland und Managua verfolgt sie Nellys Spuren, trägt Dokumente zusammen, spricht mit Nellys Mutter, ihrem Freund und Menschen, die mit ihr zu tun hatten, und hofft — ja, was eigentlich? Sie zu finden? Sie näher kennenzulernen? Oder schlicht ihre Neugier zu befriedigen?
Wirklich gut befreundet waren die beiden schließlich nicht. Sie haben sich aus den Augen verloren, als sie erwachsen wurden. Schon immer hatten sie wenig gemeinsam, nicht einmal das Studienfach: Während Nelly sich in Erdkruste und Plattentektonik hineinwühlte, versuchte die Erzählerin etwas über den Menschen zu erfahren und studierte Soziologie: „Wahrscheinlich hatte ich gehofft, etwas darüber herauszufinden, wie wir sind. Inzwischen hatte ich nur noch einen großen Selbstekel, wenn ich mir dabei zuschaute, wie ich die Protokolle meiner Gespräche verarbeitete, sie als Futter benutzte für mein Steckskelett aus Vorannahmen und Behauptungen. Man müsste eine ganz andere Form finden, rief ich, eine ganz andere Form.“
Nina Bußmann findet diese Form, indem sie mit der Selbstbezüglichkeit des Erzählens experimentiert. Wie schon ihr Erstling „Große Ferien“ ist auch ihr zweiter Roman klug konstruiert, und in jeder Zeile spürt man die Souveränität der Autorin im Umgang mit Sprache. Wie sie einen Ton jenseits des Gefälligen trifft und Fachwörter wie Widerhaken in ihre Sätze knotet. Mitunter verfremdet sie den Rhythmus der Sprache, sodass man als Leser immer wieder in Irrgänge läuft;oft ist nicht einmal klar, wer gerade spricht. Bußmann hat eine Abneigung gegen Phrasen; sie geht ihnen aber nicht einfach aus dem Weg, sondern entlarvt sie, wo sie ihr begegnen.
In ihrem Roman begibt sich die 1980 geborene Schriftstellerin in Gelände, auf dessen Instabilität sich der Leser erst einmal einlassen muss. Der Erzählung ist nicht nur die Hauptfigur abhanden gekommen, sondern auch die Chronologie. So entwickelt sich eine Form multiperspektivischen Erzählens, in der sich die Uneindeutigkeit menschlicher Beziehungen spiegelt. Nicht einmal in die Erzählerin selbst mag man sich einfühlen, auch sie bleibt unzuverlässig, ihre Motivation vage.
Mäandernd kämpft sie sich durch die Hitze Managuas, ergibt sich ihrer Manie, sich ablenken zu lassen, und bedauert, dass sie die Letzte sei, die sich als Detektivin eigne. In Nicaragua führt diese Namenlose Gespräche mit Nellys früherer Vermieterin, einem möglichen Geliebten, der Frau des Piloten, in dessen Flugzeug sie saß, mit Nachbarn und Bekanntschaften. „Fetzen zusammensuchen“ nennt sie das. Immer wieder die gleiche Antwort: „Eigentlich habe ich sie kaum gekannt usw.“ Hielt man Nelly hier für eine jener Mitleidstouristinnen aus reichen Ländern, die vorgeblich kommen um zu helfen, aber in Wirklichkeit selbst vor irgendetwas auf der Flucht sind?
Anspielungsreiche Orte tauchen auf, vom magischen Macondo bis zum Mythos des Bermudadreiecks. Nicaragua ist für die Erzählerin offenbar, was im 19. Jahrhundert der Orient war: Projektionsfläche für Mythen. Mit denen durchkreuzt Bußmann ihren ansonsten naturalistischen Erzählstil. So kolportiert sie naturwissenschaftliche Artikel aus Lehrbüchern und Medienberichte über Entführungen und Gewaltverbrechen in Lateinamerika: die 43 ermordeten mexikanischen Studenten in Ayotzinapa, die tausenden Desaparecidos in Argentinien und jene Frauen, die Tag für Tag auf den Migrationsrouten zwischen Mittelamerika und den USA verloren gehen. „In so einer Gegend verschwindet es sich leicht.“
Ach ja, etwas fällt der Vermieterin dann doch ein: Nelly weinte manchmal am Telefon. Und an manchen Tagen verließ sie ihr Zimmer überhaupt nicht. Aber war das nicht bloß Müdigkeit, Heimweh, Sehnsucht nach Jakob, ihrem Freund? Der kam sie während ihrer Forschungsreise angeblich deshalb nie besuchen, weil er die Hitze nicht verträgt. Aber wie stand er dazu, dass Nelly vor Kurzem den Plan gefasst hatte, ein Kind aus Nicaragua zu adoptieren? Und dazu, dass er als ambitionierter, aber schlecht bezahlter Jungarchitekt von ihrem Geld lebte? Wurde er nicht misstrauisch, als sie ihre Rückkehr nach Deutschland wieder und wieder verschob?
Alle diese Fragen wird die Erzählerin Jakob nie stellen, sie ist tatsächlich eine schlechte Detektivin. So bleibt das Wesentliche stets implizit. Was aber ist dieses Wesentliche? Fast alle, mit denen sie spricht, haben „mit Erinnerungslücken und Erzählbarrieren zu kämpfen“. Als Soziologin weiß sie, dass man den Rest ergänzen muss. Das allerdings überlässt sie den Lesern. Nach und nach entsteht von Nelly so „das Bild einer schizoiden Persönlichkeit“, ein zersplittertes und als Mosaik wieder zusammengesetztes Bild einer jungen Frau. Und die Ahnung, dass von einem Menschen nichts Eindeutiges zurückbleibt, wenn er verloren geht. Nur diese Leere.
Bußmanns Erzählweise knüpft an eine Logik der Unschärfe an, die man in der Mathematik und den Naturwissenschaften als „Fuzzy-Logik“ bezeichnet. Die angeblich exakten Wissenschaften haben anerkannt, dass es Dinge jenseits des binären Systems als Einsen und Nullen, aus Wahr oder Falsch gibt. „Fussifizierung“ nennt man den Versuch, Wissenslücken mittels dieser unscharfen Logik zu schließen. Nina Bußmann betreibt die Fussifizierung ihrer Protagonistin und macht die Einsicht, dass unser Ich nicht kohärent ist und es deshalb nicht möglich ist, einen Menschen wirklich zu kennen, literarisch produktiv. Es gibt nicht nur Einsen und Nullen.
„Erst seit sie weg ist, habe ich sie richtig kennenlernen können. Das ist ja immer so“, sagt die Erzählerin einmal. Nina Bußmanns Erzähl-Experiment entbindet von vermeintlichen Eindeutigkeiten und führt auf instabiles Terrain. Die Erfahrung dieser Instabilität ist das Geschenk, das ihr Roman seinen Lesern macht.
Diese Autorin hat eine Abneigung
gegen Phrasen. Sie geht ihnen
aber nicht einfach aus dem Weg
Die Logik der Unschärfe, die in
diesem Roman herrscht, nennen
Mathematiker „Fuzzy-Logik“
„Fuzzy-Logikerin“: Nina Bußmann
Foto: Heike Steinweg/Suhrkamp Verlag
Nina Bußmann: Der Mantel der Erde ist heiß und teilweise geschmolzen. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 329 Seiten, 22 Euro. E-Book 18,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
nicht um sich selbst
Nina Bußmanns neuer Roman lädt überzeugend dazu
ein, nach seiner verschwundenen Hauptfigur zu suchen
VON KARIN JANKER
Im Gegensatz zu Menschen verschwindet die Erde nicht einfach. Sie ist das Einzige, worauf man sich verlassen kann. Aus diesem Grund hatte Nelly sich entschieden, Geophysikerin zu werden. Sie wollte tektonische Anomalien und ihre Auswirkungen, also Erdbeben, untersuchen. „Ein sicheres Beschäftigungsverhältnis“, nannte sie das und war froh „sich in etwas zu vertiefen, das nichts mit Menschen zu tun hatte.“ Doch dann verschwindet Nelly und mit ihr jede Gewissheit.
Nelly ist die 32-jährige Hauptfigur in Nina Bußmanns neuem Roman „Der Mantel der Erde ist heiß und teilweise geschmolzen“. Oder anders: Nelly ist der Name jener Leerstelle, um die der Roman kreist. Denn auf die Frage, was Nelly für ein Mensch war, wird man bis zum Schluss keine Antwort, sondern nur Näherungswerte bekommen. Das ist eine Herausforderung an die Leser — aber eine, die sich am Ende lohnen wird. Nachdem ein Propellerflugzeug mit Nelly an Bord im Dschungel von Nicaragua abgestürzt ist, begibt sich die namenlose Ich-Erzählerin auf die Suche nach der Verschollenen. In Deutschland und Managua verfolgt sie Nellys Spuren, trägt Dokumente zusammen, spricht mit Nellys Mutter, ihrem Freund und Menschen, die mit ihr zu tun hatten, und hofft — ja, was eigentlich? Sie zu finden? Sie näher kennenzulernen? Oder schlicht ihre Neugier zu befriedigen?
Wirklich gut befreundet waren die beiden schließlich nicht. Sie haben sich aus den Augen verloren, als sie erwachsen wurden. Schon immer hatten sie wenig gemeinsam, nicht einmal das Studienfach: Während Nelly sich in Erdkruste und Plattentektonik hineinwühlte, versuchte die Erzählerin etwas über den Menschen zu erfahren und studierte Soziologie: „Wahrscheinlich hatte ich gehofft, etwas darüber herauszufinden, wie wir sind. Inzwischen hatte ich nur noch einen großen Selbstekel, wenn ich mir dabei zuschaute, wie ich die Protokolle meiner Gespräche verarbeitete, sie als Futter benutzte für mein Steckskelett aus Vorannahmen und Behauptungen. Man müsste eine ganz andere Form finden, rief ich, eine ganz andere Form.“
Nina Bußmann findet diese Form, indem sie mit der Selbstbezüglichkeit des Erzählens experimentiert. Wie schon ihr Erstling „Große Ferien“ ist auch ihr zweiter Roman klug konstruiert, und in jeder Zeile spürt man die Souveränität der Autorin im Umgang mit Sprache. Wie sie einen Ton jenseits des Gefälligen trifft und Fachwörter wie Widerhaken in ihre Sätze knotet. Mitunter verfremdet sie den Rhythmus der Sprache, sodass man als Leser immer wieder in Irrgänge läuft;oft ist nicht einmal klar, wer gerade spricht. Bußmann hat eine Abneigung gegen Phrasen; sie geht ihnen aber nicht einfach aus dem Weg, sondern entlarvt sie, wo sie ihr begegnen.
In ihrem Roman begibt sich die 1980 geborene Schriftstellerin in Gelände, auf dessen Instabilität sich der Leser erst einmal einlassen muss. Der Erzählung ist nicht nur die Hauptfigur abhanden gekommen, sondern auch die Chronologie. So entwickelt sich eine Form multiperspektivischen Erzählens, in der sich die Uneindeutigkeit menschlicher Beziehungen spiegelt. Nicht einmal in die Erzählerin selbst mag man sich einfühlen, auch sie bleibt unzuverlässig, ihre Motivation vage.
Mäandernd kämpft sie sich durch die Hitze Managuas, ergibt sich ihrer Manie, sich ablenken zu lassen, und bedauert, dass sie die Letzte sei, die sich als Detektivin eigne. In Nicaragua führt diese Namenlose Gespräche mit Nellys früherer Vermieterin, einem möglichen Geliebten, der Frau des Piloten, in dessen Flugzeug sie saß, mit Nachbarn und Bekanntschaften. „Fetzen zusammensuchen“ nennt sie das. Immer wieder die gleiche Antwort: „Eigentlich habe ich sie kaum gekannt usw.“ Hielt man Nelly hier für eine jener Mitleidstouristinnen aus reichen Ländern, die vorgeblich kommen um zu helfen, aber in Wirklichkeit selbst vor irgendetwas auf der Flucht sind?
Anspielungsreiche Orte tauchen auf, vom magischen Macondo bis zum Mythos des Bermudadreiecks. Nicaragua ist für die Erzählerin offenbar, was im 19. Jahrhundert der Orient war: Projektionsfläche für Mythen. Mit denen durchkreuzt Bußmann ihren ansonsten naturalistischen Erzählstil. So kolportiert sie naturwissenschaftliche Artikel aus Lehrbüchern und Medienberichte über Entführungen und Gewaltverbrechen in Lateinamerika: die 43 ermordeten mexikanischen Studenten in Ayotzinapa, die tausenden Desaparecidos in Argentinien und jene Frauen, die Tag für Tag auf den Migrationsrouten zwischen Mittelamerika und den USA verloren gehen. „In so einer Gegend verschwindet es sich leicht.“
Ach ja, etwas fällt der Vermieterin dann doch ein: Nelly weinte manchmal am Telefon. Und an manchen Tagen verließ sie ihr Zimmer überhaupt nicht. Aber war das nicht bloß Müdigkeit, Heimweh, Sehnsucht nach Jakob, ihrem Freund? Der kam sie während ihrer Forschungsreise angeblich deshalb nie besuchen, weil er die Hitze nicht verträgt. Aber wie stand er dazu, dass Nelly vor Kurzem den Plan gefasst hatte, ein Kind aus Nicaragua zu adoptieren? Und dazu, dass er als ambitionierter, aber schlecht bezahlter Jungarchitekt von ihrem Geld lebte? Wurde er nicht misstrauisch, als sie ihre Rückkehr nach Deutschland wieder und wieder verschob?
Alle diese Fragen wird die Erzählerin Jakob nie stellen, sie ist tatsächlich eine schlechte Detektivin. So bleibt das Wesentliche stets implizit. Was aber ist dieses Wesentliche? Fast alle, mit denen sie spricht, haben „mit Erinnerungslücken und Erzählbarrieren zu kämpfen“. Als Soziologin weiß sie, dass man den Rest ergänzen muss. Das allerdings überlässt sie den Lesern. Nach und nach entsteht von Nelly so „das Bild einer schizoiden Persönlichkeit“, ein zersplittertes und als Mosaik wieder zusammengesetztes Bild einer jungen Frau. Und die Ahnung, dass von einem Menschen nichts Eindeutiges zurückbleibt, wenn er verloren geht. Nur diese Leere.
Bußmanns Erzählweise knüpft an eine Logik der Unschärfe an, die man in der Mathematik und den Naturwissenschaften als „Fuzzy-Logik“ bezeichnet. Die angeblich exakten Wissenschaften haben anerkannt, dass es Dinge jenseits des binären Systems als Einsen und Nullen, aus Wahr oder Falsch gibt. „Fussifizierung“ nennt man den Versuch, Wissenslücken mittels dieser unscharfen Logik zu schließen. Nina Bußmann betreibt die Fussifizierung ihrer Protagonistin und macht die Einsicht, dass unser Ich nicht kohärent ist und es deshalb nicht möglich ist, einen Menschen wirklich zu kennen, literarisch produktiv. Es gibt nicht nur Einsen und Nullen.
„Erst seit sie weg ist, habe ich sie richtig kennenlernen können. Das ist ja immer so“, sagt die Erzählerin einmal. Nina Bußmanns Erzähl-Experiment entbindet von vermeintlichen Eindeutigkeiten und führt auf instabiles Terrain. Die Erfahrung dieser Instabilität ist das Geschenk, das ihr Roman seinen Lesern macht.
Diese Autorin hat eine Abneigung
gegen Phrasen. Sie geht ihnen
aber nicht einfach aus dem Weg
Die Logik der Unschärfe, die in
diesem Roman herrscht, nennen
Mathematiker „Fuzzy-Logik“
„Fuzzy-Logikerin“: Nina Bußmann
Foto: Heike Steinweg/Suhrkamp Verlag
Nina Bußmann: Der Mantel der Erde ist heiß und teilweise geschmolzen. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 329 Seiten, 22 Euro. E-Book 18,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.07.2017Nichts verschwindet
Deutsche Literatur mit Anklängen an Conrad und Camus: Nina Bußmanns Roman "Der Mantel der Erde ist heiß und teilweise geschmolzen".
In Nina Bußmanns Debütroman "Große Ferien" (2014) schien es, als könnte ein einziges Motiv metaphorisch oder poetologisch gelesen und zum Interpretationsschlüssel dieses gewandten und geheimnisdurchzogenen Romans werden: das Unkraut, das der Protagonist zu jäten versucht und nicht gänzlich vertilgen kann. Zwei wiederholte Sätze gaben den Ton an: "Man sieht nicht, wie das Kraut wächst. Über Nacht ist es da." Auch im Roman war etwas plötzlich da und schien sich zu verselbständigen: die Beziehung zwischen einem Lehrer und einem Schüler, und im Kopf der Leser wucherte die Frage, was vor sich ging zwischen den beiden. Schien die lästige Frage beseitigt, trieb anderswo eine weitere aus.
Auch im zweiten Roman der 1980 geborenen Autorin sind die Fragen "Warum?" und "Was war geschehen?" entscheidend für die Struktur, in denen die Handlung verläuft. "Der Mantel der Erde ist heiß und teilweise geschmolzen" folgt einer unbenannten Erzählerin bei der Suche nach ihrer verschollenen Freundin Nelly. Während ihrer Tätigkeit als Seismologin am "Isthmus von Zentralamerika, im Süden Nicaraguas" machte sich Nelly mit einem befreundeten (vielleicht geliebten) Ingenieur in einer Cessna zu einem Flug in die Karibik auf - und kehrte nie zurück. Eine Wissenschaftsreise an einen entlegenen Forschungsort? Ein Wochenendausflug in ein Liebesnest? Ein kleistscher Doppelselbstmord?
Mit geschickter Balance hält der Roman solche Fragen in den Leserköpfen am Leben, indem er sie in der Erzählerin am Leben hält. Der scheinbar kapriziöse Romantitel dient dabei zur Charakterisierung dieser ebenfalls bald launisch impulsiven, bald rätselhaft apathischen Erzählerin. Sein an die aphoristischen Titel Herta Müllers erinnernder Klang hat darüber hinaus inhaltliche Bewandtnis, deren geheimnisvolle Aussage einige sehr elegant verfolgte Reflexionen über den seltsam sich wandelnden Planeten ermöglicht, auf dem wir leben. Zum Beispiel, wenn die Erzählerin gegen Ende des Romans sämtliche wissenschaftlichen Aufzeichnungen durchforstet hat, die ihre Bekannte hinterließ, und versucht, mit akribischer Obsession Erinnerungssplitter zusammenzukleben: "Die Erde würde nicht verschwinden. Ich hörte es Nelly noch sagen", erinnert sie sich. "Materie ändert ihre Zusammensetzung, aber sie löst sich nicht einfach auf." Nichts verschwindet, auch nicht die Verschwundenen. Vielleicht ist die Erzählerin deshalb versessen auf eine Suche, die wenig aussichtsreich scheint; sie ist überzeugt: "Wer verschwindet, will gesucht werden."
Auch wenn Nelly in der lebensweltlichen Gegenwart der Erzählerin abwesend ist, schwebt ihre Vergangenheit über jedem Moment dieses Romans. Während wir der eher driftenden als gerichteten Suche folgen, lesen wir von den Ausformungen des Flüchtens, die Nellys Leben durchwoben, wie sie sich aus der Umgebung der "Sandsteinbauten des Barockstädtchens, an dessen Rand Nelly aufgewachsen war", in die Erforschung von Katastrophen, Theorien über Erdbeben und Erdentstehung stürzte; oder wie sie im Studentenheim die Erzählerin kennenlernte: "Beide hatten wir es eilig, fortzukommen." Auch die Erzählerin ist eine Flüchtende, selbst wenn ihre Flucht als Suche getarnt ist und sie ihr Leben als Soziologin in Frankfurt zurücklässt und ihrer verlorenen Freundin nach Nicaragua folgt.
Auf feinsinnige Weise entwirft Nina Bußmann eine Freundschaft, über die immer im Ungefähren bleibt, wie eng sie wirklich war, so wie sie es bleiben muss, wenn ein Teil einer Freundschaft erodiert ist. Subtil entwirft die Autorin Porträts von zwei sich nicht unähnlichen Frauen und erweist sich als äußerst kluge Handwerkerin, der mit jedem Satz bewusst scheint, dass es nicht unbedingt nötig ist, Figuren nach außen zu stülpen und durch heftige Psychologisierung zu entkernen, um tiefgründige Einblicke in Menschenleben und Beziehungen zu erhalten. Stattdessen vertraut sie auf die aussagekräftige Wahl der Perspektive auf die jeweiligen Geschehnisse.
Besonders in den Szenen in Nicaragua gleitet die Erzählerin bisweilen ab in "eine manische Freude am Detail", in ausschweifende Beschreibungen von Kleinstdingen, die von einem verwunderten Blick auf die Fremde erzählen, aber vor allem von einem verwundeten. Denn auch sie hat nicht mehr oft Gesellschaft.
In den Betrachtungen dieses scheinbar Beiläufigen, im "Asphaltgeflimmer", im "Zuckerbunt der Häuserfassaden", steckt immer Poesie - und Elegie. Die Erzählerin scheint sich an die winzigsten Dinge zu klammern, vielleicht in der Hoffnung, Spuren ihrer Freundin zu finden, vielleicht aber auch nur als Ablenkung von sich selbst.
So zeugt der Roman von einem erfrischenden und beherzten Umgang mit den Vermächtnissen von Realismus und Moderne (sowie ihrem Töchterchen Postmoderne). In der duftenden und farbengrellen Weise, die Oberflächen aufs dichteste zu beschreiben, um den Beschreibern eine komplexe Tiefe zu verleihen, mag man erinnert sein an eine Reihe von Gegenwartsautorinnen und -autoren, die meisterhaft die Welt unter ihr Sprachmikroskop legen - um nur im Suhrkamp-Camp zu bleiben: Lisa Kränzler, Ulf Erdmann Ziegler, Ralf Rothmann. So weit das Realismus-Erbe. Aus den Erzähltraditionen von Moderne und Postmoderne setzt Bußmann aber höchst effektive Momente von Irritation und Irrläufen, vom Unbeantworteten und Unerklärlichen fort. Durch diesen zweiten fulminanten Roman fährt sie gekonnt außerhalb der Spur jener Gegenwartsliteratur, die einer (vermeintlich) ungewisser gewordenen Gegenwart durch realistisch auserzählte Literatur ein Schnippchen schlagen will. Bußmann steht in einer früheren, einer unangenehmeren, aber komplexeren Erzähltradition, die ihre Anklänge sucht in den menschlichen und moralischen Irrfahrten Joseph Conrads und dem kartenhauseinstürzenden und sinnentleerten Treiben von Albert Camus (deren Texte referenziert werden).
Den enormen Drive, den der Roman trotz Ausbleibens von Antworten zu jeder Zeit besitzt, die Stimmungslage aus Spannung und Vorahnung, die über allem schwelt, sie entstehen wie in den Filmen Michelangelo Antonionis, besonders "L'Avventura" (1960), wo ebenfalls eine junge Frau verschwindet, ohne wiedergefunden zu werden. Die gefährliche Verletzlichkeit und die Brüchigkeit von Selbst und Identität, die Antonionis Filme und Bußmanns Romane durchzieht, speisen sich gerade aus der Vermeidung von ständiger Bedeutungsfindung, aus der Verweigerung einfacher Antworten.
Diese Eigensinnigkeit bedeutet aber keinen Schlag ins Gesicht all jener, die sich als lesend Suchende durch die Romanwelt bewegen. Im Gegenteil: Das Vorenthalten von Lösungen verleiht noch dem kleinsten Objekt, dem nebensächlichsten Wort dieses Narrativs eine Besonderheit und eine beinahe allegorische Dimension, durch die das Erzählte vor Bedeutung zu zittern scheint. Häufig aber liest man diese Bedeutung nicht aus dem Text heraus, sondern in ihn hinein. Somit ist sie eine Bedeutung, die man beim Lesen, über die Bande des Textes gespielt, an sich selbst entdeckt. Das Gefühl, man schaue lesend in einen tiefen Spiegel - das stiftet nur große Literatur.
JAN WILM
Nina Bußmann: "Der Mantel der Erde ist heiß und teilweise geschmolzen". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 329 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Deutsche Literatur mit Anklängen an Conrad und Camus: Nina Bußmanns Roman "Der Mantel der Erde ist heiß und teilweise geschmolzen".
In Nina Bußmanns Debütroman "Große Ferien" (2014) schien es, als könnte ein einziges Motiv metaphorisch oder poetologisch gelesen und zum Interpretationsschlüssel dieses gewandten und geheimnisdurchzogenen Romans werden: das Unkraut, das der Protagonist zu jäten versucht und nicht gänzlich vertilgen kann. Zwei wiederholte Sätze gaben den Ton an: "Man sieht nicht, wie das Kraut wächst. Über Nacht ist es da." Auch im Roman war etwas plötzlich da und schien sich zu verselbständigen: die Beziehung zwischen einem Lehrer und einem Schüler, und im Kopf der Leser wucherte die Frage, was vor sich ging zwischen den beiden. Schien die lästige Frage beseitigt, trieb anderswo eine weitere aus.
Auch im zweiten Roman der 1980 geborenen Autorin sind die Fragen "Warum?" und "Was war geschehen?" entscheidend für die Struktur, in denen die Handlung verläuft. "Der Mantel der Erde ist heiß und teilweise geschmolzen" folgt einer unbenannten Erzählerin bei der Suche nach ihrer verschollenen Freundin Nelly. Während ihrer Tätigkeit als Seismologin am "Isthmus von Zentralamerika, im Süden Nicaraguas" machte sich Nelly mit einem befreundeten (vielleicht geliebten) Ingenieur in einer Cessna zu einem Flug in die Karibik auf - und kehrte nie zurück. Eine Wissenschaftsreise an einen entlegenen Forschungsort? Ein Wochenendausflug in ein Liebesnest? Ein kleistscher Doppelselbstmord?
Mit geschickter Balance hält der Roman solche Fragen in den Leserköpfen am Leben, indem er sie in der Erzählerin am Leben hält. Der scheinbar kapriziöse Romantitel dient dabei zur Charakterisierung dieser ebenfalls bald launisch impulsiven, bald rätselhaft apathischen Erzählerin. Sein an die aphoristischen Titel Herta Müllers erinnernder Klang hat darüber hinaus inhaltliche Bewandtnis, deren geheimnisvolle Aussage einige sehr elegant verfolgte Reflexionen über den seltsam sich wandelnden Planeten ermöglicht, auf dem wir leben. Zum Beispiel, wenn die Erzählerin gegen Ende des Romans sämtliche wissenschaftlichen Aufzeichnungen durchforstet hat, die ihre Bekannte hinterließ, und versucht, mit akribischer Obsession Erinnerungssplitter zusammenzukleben: "Die Erde würde nicht verschwinden. Ich hörte es Nelly noch sagen", erinnert sie sich. "Materie ändert ihre Zusammensetzung, aber sie löst sich nicht einfach auf." Nichts verschwindet, auch nicht die Verschwundenen. Vielleicht ist die Erzählerin deshalb versessen auf eine Suche, die wenig aussichtsreich scheint; sie ist überzeugt: "Wer verschwindet, will gesucht werden."
Auch wenn Nelly in der lebensweltlichen Gegenwart der Erzählerin abwesend ist, schwebt ihre Vergangenheit über jedem Moment dieses Romans. Während wir der eher driftenden als gerichteten Suche folgen, lesen wir von den Ausformungen des Flüchtens, die Nellys Leben durchwoben, wie sie sich aus der Umgebung der "Sandsteinbauten des Barockstädtchens, an dessen Rand Nelly aufgewachsen war", in die Erforschung von Katastrophen, Theorien über Erdbeben und Erdentstehung stürzte; oder wie sie im Studentenheim die Erzählerin kennenlernte: "Beide hatten wir es eilig, fortzukommen." Auch die Erzählerin ist eine Flüchtende, selbst wenn ihre Flucht als Suche getarnt ist und sie ihr Leben als Soziologin in Frankfurt zurücklässt und ihrer verlorenen Freundin nach Nicaragua folgt.
Auf feinsinnige Weise entwirft Nina Bußmann eine Freundschaft, über die immer im Ungefähren bleibt, wie eng sie wirklich war, so wie sie es bleiben muss, wenn ein Teil einer Freundschaft erodiert ist. Subtil entwirft die Autorin Porträts von zwei sich nicht unähnlichen Frauen und erweist sich als äußerst kluge Handwerkerin, der mit jedem Satz bewusst scheint, dass es nicht unbedingt nötig ist, Figuren nach außen zu stülpen und durch heftige Psychologisierung zu entkernen, um tiefgründige Einblicke in Menschenleben und Beziehungen zu erhalten. Stattdessen vertraut sie auf die aussagekräftige Wahl der Perspektive auf die jeweiligen Geschehnisse.
Besonders in den Szenen in Nicaragua gleitet die Erzählerin bisweilen ab in "eine manische Freude am Detail", in ausschweifende Beschreibungen von Kleinstdingen, die von einem verwunderten Blick auf die Fremde erzählen, aber vor allem von einem verwundeten. Denn auch sie hat nicht mehr oft Gesellschaft.
In den Betrachtungen dieses scheinbar Beiläufigen, im "Asphaltgeflimmer", im "Zuckerbunt der Häuserfassaden", steckt immer Poesie - und Elegie. Die Erzählerin scheint sich an die winzigsten Dinge zu klammern, vielleicht in der Hoffnung, Spuren ihrer Freundin zu finden, vielleicht aber auch nur als Ablenkung von sich selbst.
So zeugt der Roman von einem erfrischenden und beherzten Umgang mit den Vermächtnissen von Realismus und Moderne (sowie ihrem Töchterchen Postmoderne). In der duftenden und farbengrellen Weise, die Oberflächen aufs dichteste zu beschreiben, um den Beschreibern eine komplexe Tiefe zu verleihen, mag man erinnert sein an eine Reihe von Gegenwartsautorinnen und -autoren, die meisterhaft die Welt unter ihr Sprachmikroskop legen - um nur im Suhrkamp-Camp zu bleiben: Lisa Kränzler, Ulf Erdmann Ziegler, Ralf Rothmann. So weit das Realismus-Erbe. Aus den Erzähltraditionen von Moderne und Postmoderne setzt Bußmann aber höchst effektive Momente von Irritation und Irrläufen, vom Unbeantworteten und Unerklärlichen fort. Durch diesen zweiten fulminanten Roman fährt sie gekonnt außerhalb der Spur jener Gegenwartsliteratur, die einer (vermeintlich) ungewisser gewordenen Gegenwart durch realistisch auserzählte Literatur ein Schnippchen schlagen will. Bußmann steht in einer früheren, einer unangenehmeren, aber komplexeren Erzähltradition, die ihre Anklänge sucht in den menschlichen und moralischen Irrfahrten Joseph Conrads und dem kartenhauseinstürzenden und sinnentleerten Treiben von Albert Camus (deren Texte referenziert werden).
Den enormen Drive, den der Roman trotz Ausbleibens von Antworten zu jeder Zeit besitzt, die Stimmungslage aus Spannung und Vorahnung, die über allem schwelt, sie entstehen wie in den Filmen Michelangelo Antonionis, besonders "L'Avventura" (1960), wo ebenfalls eine junge Frau verschwindet, ohne wiedergefunden zu werden. Die gefährliche Verletzlichkeit und die Brüchigkeit von Selbst und Identität, die Antonionis Filme und Bußmanns Romane durchzieht, speisen sich gerade aus der Vermeidung von ständiger Bedeutungsfindung, aus der Verweigerung einfacher Antworten.
Diese Eigensinnigkeit bedeutet aber keinen Schlag ins Gesicht all jener, die sich als lesend Suchende durch die Romanwelt bewegen. Im Gegenteil: Das Vorenthalten von Lösungen verleiht noch dem kleinsten Objekt, dem nebensächlichsten Wort dieses Narrativs eine Besonderheit und eine beinahe allegorische Dimension, durch die das Erzählte vor Bedeutung zu zittern scheint. Häufig aber liest man diese Bedeutung nicht aus dem Text heraus, sondern in ihn hinein. Somit ist sie eine Bedeutung, die man beim Lesen, über die Bande des Textes gespielt, an sich selbst entdeckt. Das Gefühl, man schaue lesend in einen tiefen Spiegel - das stiftet nur große Literatur.
JAN WILM
Nina Bußmann: "Der Mantel der Erde ist heiß und teilweise geschmolzen". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 329 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Den enormen Drive, den der Roman ... besitzt, die Stimmungslage aus Spannung und Vorahnung, die über allem schwelt, sie entstehen wie in den Filmen Michelangelo Antonionis ...« Jan Wilm Frankfurter Allgemeine Zeitung 20170720