Vor der schillernden farbenprächtigen Kulisse des europäischen und orientalischen Mittelalters erzählt der Autor die Geschichte des jungen Rob Jeremy Cole. Als Schüler eines fahrenden Baders erwirbt er sich Grundkenntnisse der Heilkunst, hört von seinem Lehrmeister von einer berühmten medizinischen Akademie im fernen Persien und begibt sich auf die abenteuerliche Reise in den Orient, um dort die begehrte Wissenschaft zu erlernen und ein anerkannter Medicus zu werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.02.2003Solch neumodisches Zeug zahlt doch heute keine Kasse!
Mit den Salben der Aufklärung gegen die Krankheit der Tradition: Der Arzt ist der letzte Held des historischen Romans / Von Wolfgang Schneider
Kaum ein anderes Genre entzweit lesende Gemüter so wie der historische Roman. Während es längst zum guten Ton gehört, über Krimis, Thriller und Science-fiction eben nicht die Nase zu rümpfen, läßt sich über ihn weiterhin ungestraft behaupten, man lese dergleichen "prinzipiell" nicht. So war es aber seit den Anfängen. Wo vom historischen Roman die Rede war, da sogleich auch von seinem Wert oder Unwert.
Bei allem Lob der Popkultur wird die wahrhaft populäre Kultur ausgenommen: jene Stapelware mit dem schlechten Papier und den allzu bunten Umschlägen, jene billigen, miesen Zeitmaschinen, die mit ihrem Kostümbudenzauber dennoch bestens zu funktionieren scheinen und dem Leser, vor allem aber der Leserin den kleinen Epochenwechsel für zwischendurch verschaffen. Solche geheimen, wenig erforschten Leseräusche sind das eine; der historische Roman von Rang das andere. Aber auch er steht nicht gerade im Ruch der Avantgarde. Seine Blütezeit war das neunzehnte Jahrhundert. Damals bildete er die Königsklasse des Erzählens, als Nachfolger des Historiendramas. Er war die Form, in der sich große Realisten wie Tolstoi, Flaubert oder Fontane bewähren wollten.
Helden und Taten, sensationelle Ereignisse und stärkste Gefühle, geboten in einem wohlgeordneten, weltverfügenden Erzählen - dergleichen mögen die Leser schätzen, aber genau hier errichtete die Moderne ihre Verbotsschilder. Sie trieb der Literatur die handlungskräftigen Subjekte aus; über der Mikropoesie des Alltags wurden Helden zu Antihelden. Autoren hatten ihre Wissensgrenzen einzugestehen und durften nicht länger so tun, als seien sie noch Herr des Geschehens. Die Moderne war eine Revolution der Form: Das "Was" des Erzählens wurde beinahe nebensächlich, es konnte ein Dubliner Jedermannstag sein. Um so verdächtiger das stoffliche Interesse des historischen Romans. Wo er auf der Höhe der Moderne sein wollte wie Döblins "Wallenstein", wurde er zwar sehr gelobt, von den Lesern aber ignoriert.
Spätere Bestseller wie Süskinds "Parfum", Ransmayrs "Die letzte Welt" oder Nadolnys "Entdeckung der Langsamkeit" verbinden Spannung mit Anspruch. Allerdings haben sie gegen den Anschein ihrer historischen Stoffe wenig mit dem traditionellen historischen Roman zu tun. Weder schildern sie Haupt- und Staatsaktionen, noch stellen sie geschichtliche Umbrüche aus der Perspektive "mittlerer Charaktere" dar, indem sie eine "Privathandlung" sinnfällig mit dem großen Strom der Historie verknüpfen, wie es der Begründer des Genres, Walter Scott, forderte. Vielmehr kaprizieren sie sich auf geschichtsabgewandte Einzelgänger und "Sonderfälle"; das Historische ist hier in besonderem Maß Kostüm und Kulisse.
Die alte Mischung von Pulverdampf und Liebe funktioniert nicht mehr. Die vaterländische Betroffenheit, auf die das Genre einst rechnen konnte, die Selbstvergewisserung einer Nation in ihren großen Männern und Ereignissen - all das ist vorbei und kommt wohl auch nicht wieder. So ist die Darstellung der Geschichte dem historischen Roman zum Problem geworden. Die Helden sind ihm verlorengegangen.
Aber doch nicht ganz! Eine zivile Form von Heroismus gibt es, die auffällig an den Platz der geschichtemachenden Männlichkeit getreten ist: Es ist der Arzt und Heiler, der Kämpfer an der Körperfront, der den Krankheiten und Seuchen immer wieder Geländegewinne abtrotzt. Dem historischen Roman ermöglicht diese Figur eine so einfache wie bezwingende Strukturierung: der Arzt als Vertreter der Aufklärung gegen die Dunkelmänner aller Epochen. Man braucht nicht lange nach Beispielen zu suchen. Einer der größten Bucherfolge unserer Zeit ist Noah Gordons "Der Medicus". Allein die deutsche Übersetzung hat sich über fünf Millionen Mal verkauft. So wundert es nicht, daß Gordon sich und seinen Lesern das Erfolgsrezept gleich noch in einem halben Dutzend Nachfolgewerken verschrieben hat - und daß sich zahlreiche Nachahmer gefunden haben. Aber das Original scheint in seiner epischen Zugkraft unübertroffen.
"Der Medicus" bietet auf vielen Seiten vor allem deftige Alltagsgeschichte des Mittelalters. Als Gehilfe eines reisenden Baders zieht der früh verwaiste Rob Cole durch die Provinzflecken Englands; man verkauft eine mit Urin gepanschte Wundermedizin und hilft, wo man helfen kann. Allzu oft jedoch stößt man an die Grenzen der bescheidenen Möglichkeiten. Eines Tages hört Rob von der Akademie in Isfahan und beschließt, nach Persien zu reisen, um dort vom Wissen des großen Heilkundigen Ibn Sina (eine historisch verbürgte Gestalt) zu profitieren. Viele Kapitel erzählen von Robs aufopferndem Einsatz gegen Krankheiten wie Pest und Pocken; historische Behandlungsmethoden (Amputationen, Kastrationen) werden zum Schaudern des Lesers eindringlich beschrieben.
Die Gegnerschaft von Klerus und Ärzteschaft ist eine durchgehende Konfliktlinie des "Medicus". Schon der alte Bader ist ständig in Gefahr, als Hexer belangt zu werden. Erst recht Rob bekommt es bei seinen Körperforschungen mit einer Internationale des frommen Terrors zu tun. Mögen sich die Inhalte der religiösen Lehren unterscheiden, die Struktur der Verfolgungslust scheint immer dieselbe. Englische Priester wie persische Mullahs sehen den Ärzten scharf auf die Finger; niemand soll in den Willen Gottes eingreifen. Im Orient wie im Okzident behindert das Sündenbewußtsein den chirurgischen Fortschritt, weil es das Sezieren menschlicher Leichen verbietet. Nicht ohne Grund spielt im Roman die simple Blinddarmentzündung eine wichtige Rolle; immer wieder sterben Menschen an der mysteriösen "Seitenkrankheit". Hier wird das kirchliche Forschungsverbot auf plausibelste Weise zum Ärgernis, auch für den Leser, der schließlich erleichtert aufseufzt, wenn Rob das Tabu bricht und in heimlicher Nacht einen Verstorbenen aufschneidet. So kommt er dem vereiterten Wurmfortsatz auf die Spur.
Als wäre er ein Zeitgenosse Voltaires, spricht Rob vom Mittelalter als den "Jahrhunderten finsteren Unwissens" - im Jahr 1040. So wie Ecos Rosenroman dem Leser mit William von Baskerville eine Art Sherlock Holmes an die Hand gibt, der die moderne Vernunft gegen die pittoresken Schauerlichkeiten des Mittelalters zur Geltung bringt, wirkt auch die Hauptfigur des "Medicus" bereits von Kopf bis Fuß durchsäkularisiert. Aber es ist müßig, dem Buch Anachronismen vorzuwerfen. In der Zeitmischung besteht seit je der Trick des historischen Romans; er projiziert die Bewußtseinslagen späterer Epochen auf die Bühnen der Vorwelt.
Heute leben wir im Zeitalter der therapeutischen Zuversicht; der Patient erwartet vom Arzt Heilung. Vor den großen historischen Fortschritten der Medizin beschränkte sich die Rolle des Arztes jedoch oft auf die Prognose, so Rudolf Käser in seiner Studie "Arzt, Tod und Text". Nicht daß er viele heilte, machte seine Anerkennung aus, sondern daß er sich nie irrte. Wird der Mensch leben, oder muß er sterben? Der Arzt wußte, wie die Zeichen standen; er war der "Semiotiker des Todes". Erst in der Neuzeit wird er zu seinem entschiedensten Gegner und zum Schöpfer des Weiterlebens. Darin, so Käser, komme der epochale medizinische Paradigmenwechsel von der bloßen Diagnose zur Therapie zum Ausdruck. Gordons Roman ist genau in diesem Sinn konzipiert. Rob beeindruckt zunächst durch seine niemals fehlgehende Gabe der Prognose. Er braucht einem Kranken nur die Hand zu halten, um zu wissen, wie lange er noch zu leben hat. Doch dann erfährt er eine Berufung zum Neuen, als hätte Gott ihm gesagt: "Bei der Erschaffung des Menschen habe ich Fehler begangen, und ich beauftrage dich, einige meiner Fehler zu beheben." Rob entwirft sich selbst als humanen Helfer und verläßt zu diesem Zweck die europäische Kultur des Mittelalters mit ihren Beschränkungen: als Bildungsreisender und als wandelnder Anachronismus. Sein bescheidener Satz "Ich will nur ein Medicus sein" vibriert bereits vom Pathos der Aufklärung.
Der Siegeszug des medizinischen Materialismus im achtzehnten Jahrhundert machte Schluß mit den Rückzugsgefechten der Physikotheologie. Die Interaktion von Seele und Körper war nicht länger metaphysisch, sondern schlicht durch Nervenphysiologie zu erklären. Die unsterbliche Seele verflüchtigte sich; die Hirnphysiologie wurde zur Einbruchsstelle der Freigeisterei. Der Arzt wurde zum Politikum. Genau dieses Thema hat Per Olov Enquist - gegenwärtig vielleicht der bedeutendste Verfasser historischer Romane - in seinem vielgerühmten Werk "Der Besuch des Leibarztes" dargestellt. Es ist die große Geschichte von Struensee, dem mutigen Philanthropen, der 1768 aus dem freigeistigen Altona als Leibarzt an den Hof des psychisch kranken Christian VII. gerufen wird und dort aufsteigt zum Geheimen Kabinettsminister. Er nutzt das Machtvakuum, um die faulen Stellen am dänischen Staatskörper - ziemlich viele - mit den Salben der Aufklärung zu kurieren. Damals hatte die "Linke" noch großartige Themen zu besetzen: Toleranz, Gedanken- und Pressefreiheit, Aufhebung der Leibeigenschaft, Reform des Gesundheitswesens, Abschaffung der Adelspfründe. Vernunft und Humanität - als episches Theater der Aufklärungszeit sind die schönen Ideen nach wie vor bühnenwirksam. Bei Enquist wird der historische Roman zum Refugium der engagierten Literatur. Freilich geht auch im Roman die aufklärerische Rechnung nicht auf. Die Triebhaftigkeit macht einen Strich hindurch. Denn da ist noch die sexuell unerfüllte junge Königin, und Struensee ist nicht nur ein philosophischer Kopf, sondern ein ganzer Mensch und Mann. Den Leser freut's, denn er bekommt eine opulente Liebesgeschichte serviert.
Struensee ist vor allem ein "philosophischer Arzt", wie er im Buch der Aufklärung steht. Er hängt der Vorstellung vom Menschen "als einer Maschine" an; die theologische Idee der Höllenstrafe nach dem Tod findet er albern: "Der Mensch wird in diesem Leben genügend bestraft. Tugendhaft ist für mich derjenige, der das Nützliche tut." "Ich bin nur Arzt" - der Satz des Medicus kehrt als Formel Struensees wieder. Nur Arzt - unter den Voraussetzungen der Epoche ist das jedoch sehr viel, denn hier wird die Krankheit zur Metapher. "Krankheit gibt es überall. Ganz Kopenhagen ist krank . . ." Struensees Widersacher, der intrigante Reaktionär Guldberg, ist ein Lustfeind und religiöser Eiferer. Vor allem aber ist der kleinwüchsige Ränkeschmied ein Feind der Mediziner. Er haßt sie, weil sie ihm, dem chronisch Kranken, nicht helfen können. "Er verachtete deshalb auch die Ärzte. Struensee war Arzt." Der eigentliche Grund für seine Verachtung ist ein anderer: Die Ärzte sind die Protagonisten jener Aufklärung, die "einen Hebel unter dem Haus der Welt ansetzt".
Diese leitmotivische Formulierung findet sich bereits im Roman "Der fünfte Winter des Magnetiseurs" von 1964, der nach dem Bestseller-Erfolg des "Leibarztes" jüngst auch ins Deutsche übersetzt wurde. Obwohl fast vier Jahrzehnte zwischen den beiden Werken liegen, besitzen sie eine erstaunliche Nähe. Im "fünften Winter des Magnetiseurs" stellte Enquist seine Meisterschaft des historisch-dokumentarischen Erzählens erstmals unter Beweis, im "Besuch des Leibarztes" hat er sie vollendet. Auch der frühe Roman spielt in der Epoche der Aufklärung. Hier wird jedoch nicht eine dezidierte Lichtgestalt in den Mittelpunkt gerückt, sondern ein veritabler Dunkelmann. Der Magnetiseur Meisner ist eine noch dubiosere Gestalt als sein historisches Vorbild Franz Anton Mesmer, der Erfinder des "animalischen Magnetismus". Er ist eine Romanfigur, die aufregend schillert zwischen wissenschaftlichem Grenzgängertum und cagliostrohaftem Betrug. Während sich bei Struensee beste Absichten mit einem Mangel an Menschenkenntnis verbinden, ist es beim Wunderheiler Meisner, der im Winter 1793 in der bayerischen Stadt Seefond eine schwunghafte therapeutische Praxis führt, genau umgekehrt: Er hat das Charisma des geborenen Sektenführers. Alle kommen sie zu ihm, gelangweilte Ehefrauen, einfältige Bürger und glücklose Kaufleute, alle erhoffen sich Heilung und Heil; Meisner sucht Macht über Menschen. Dabei ist Seefond keineswegs ein Hort des Wunderglaubens, sondern ein fortschrittliches Musterstädtchen mit sanierten Straßen und vorbildlichem Armenhaus. Aber Wohlstand und Aufklärung haben die metaphysische Sehnsucht nur vorübergehend ruhiggestellt.
Meisners Gegenfigur ist der junge Mediziner Steiner, ein steinharter Rationalist. "Mit uns Ärzten kommt Ordnung in die Welt", ist seine zeitgemäße Devise; er will die Wundertäter zur Strecke bringen. Nur leider kann er den Menschen nicht helfen. Die Patientin, die unter Meisners magnetischen Händen zu euphorischer Gesundheit erblühte, welkt in Steiners Behandlung wieder hin zu einem Häufchen Elend und muß schließlich ins Irrenhaus gebracht werden. Der Scharlatan vollbringt wahre Wunder, der ehrliche Arzt bleibt machtlos, so die ironische Pointe.
Die Geschichte eines fragwürdigen Genies und Massenverführers hat parabelhafte Züge. Wie die "philosophischen Ärzte" der Epoche denkt auch Meisner daran, seine Methoden ins Politische zu erweitern. Er arbeitet an einer Schrift "über die Führung des Staates". Eine süffige Liebeshandlung wie im "Besuch des Leibarztes" gibt es in diesem Roman über die Dialektik der Aufklärung übrigens nicht. Anfang der sechziger Jahre, als das Buch entstand, war das kulinarische Fabulieren verpönt. Diesem Roman eignet noch die modernistische Strenge, die sich die avancierten Erzähler damals verordneten.
Enquists Romane lassen sich als philosophische Partituren lesen. Die Figuren stehen zueinander wie Antithesen, ohne dabei zu blassen Allegorien zu verkommen. Zur Kunst dieses Autors gehört es, zwischen distanzierendem historischen Bericht und szenischer Darstellung immer wieder geschickt zu wechseln. Vor allem im "Leibarzt" treibt er sein Spiel mit dem guten, alten Erzählertonfall. Gerade weil es sich um überlieferte Wirklichkeiten handelt, kann man die alten Tricks des Fiktiven benutzen, die im Fiktiven selbst fadenscheinig geworden sind.
Auf andere Weise versucht Patricia Duncker das Genre auf die Höhe der Zeit zu bringen. In "James Miranda Barry" kreuzt sie den historischen Roman mit dem Geist der Gender Studies. Barry ist eine authentische Figur des neunzehnten Jahrhunderts. Von der ehrgeizigen Mutter, die sich mit den Beschränkungen eines Frauenlebens nicht abfinden will, wird dem talentierten Mädchen im Alter von elf Jahren eine männliche Identität verpaßt. Man steckt sie in eine Uniform und schickt sie zur Universität. Später wird Barry einer der bekanntesten Militärärzte des britischen Empires; der Roman begleitet "ihn" durch Schlachten, Epidemien und Revolutionen und führt den Leser in einem prallen Bilderbogen von London nach Afrika, Malta und Jamaica. Auch Barry ist ein von der Aufklärung befeuerter Mediziner. In den Tropenhospitälern führt er hygienische Maßregeln ein und sorgt für frische Luft in schwülen Krankenzimmern. Bei den Herren der alten Schule - Fraktion Aderlaß - macht Barry sich unbeliebt, weil er gelegentlich eine Kräuterhexe und deren Brennnesselextrakte zu Rate zieht.
Die Ärzte des historischen Romans haben an doppelter Front zu kämpfen: nicht nur gegen eine rückständige Geistlichkeit, sondern ebenso gegen die "seelenlose" Schulmedizin. Auch diese Konfliktstruktur läßt sich ins Zeitalter der Aufklärung zurückspiegeln, wie Guido Dieckmanns Roman über Samuel Hahnemann (1755 bis 1843), den Begründer der Homöopathie, beweist. Von Kirchenmännern wie von der medizinischen Orthodoxie wird Hahnemann denunziert: als gefährlicher Schwarzkünstler, Scharlatan oder Ketzer. Zünftige Apotheker wollen ihm das Arzneimischen verbieten. Aber Hahnemann beruft sich selbst auf Vernunft und Wissenschaft, wenn es den Mesmerismus und andere Formen einer ausschweifenden Therapiekultur abzuwehren gilt. Oder wenn die schulmedizinische Ratlosigkeit lebensgefährlich wird: Da müssen Patienten zwecks Reinigung ihrer Därme walnußgroße "Purgierkugeln" aus Blei schlucken. Wer nicht gleich erstickt, siecht hin an der Bleivergiftung. Dieckmanns Buch erscheint als etwas biedere Variante des Ecoschen Geheimbundromans; das Rosenkreuzertum und eine geheime, allseits gesuchte Spätschrift des Paracelsus sorgen für mysteriöse Momente.
"Was ich aber von Anfang an bis zu Ende mit ganz seltenem Anteil durchgelesen habe, ist ,Hahnemann' - ein Leben, von dem ich kaum etwas wußte und das mich in dieser Darstellung tief ergriffen hat", schrieb Thomas Mann 1934 in einem Brief. Er meinte mit diesem Lob die Lebensbeschreibung des Homöopathen von Martin Gumpert, die im selben Jahr erschienen war und auch noch für Guido Dieckmann die Hauptquelle abgibt. Gumpert war selbst Arzt; Thomas Mann lernte den jüdischen Emigranten 1937 persönlich in New York kennen und sah ihn in den folgenden Jahren gern als Gast bei sich. Und, wie so oft, er verarbeitete ihn zu einer literarischen Figur - zu einem "philosophischen Arzt". Gumpert ist das Modell des heilkundigen Gefängnisvorstehers Mai-Sachme im Abschlußband von "Joseph und seine Brüder", dieser grandiosen Mischung aus Mythos, Märchen und monumentalem Historienroman. Mai-Sachme mag ein ägyptischer Bürger der Pharaonenzeit sein; geistig ist auch er ein Bewohner der Aufklärung, ein behutsamer Materialist, der diplomatische Zugeständnisse an die alten magischen Praktiken macht. Und wie es sich für einen "philosophischen Arzt" gehört, widmet er seine freie Zeit der Schriftstellerei.
Es handelt sich nicht nur um eine geglückte Figur, sondern auch um die positivste Darstellung eines Arztes im Gesamtwerk Thomas Manns, was um so bemerkenswerter ist, als sich durch die Romane und Erzählungen Manns ein langer Reigen von Arztfiguren zieht. Aber all diese "Kapazitäten" sind fast ausnahmslos Karikaturen, Dilettanten, zwielichtige Gestalten und hilflose Helfer. Sie sind zu sehr Zeitgenossen, um als Modell und Ideengeber zu taugen wie Josephs Mentor Mai-Sachme, der dem zukünftigen "Ernährer" die Initiation in pragmatisches Denken und nützliches Handeln verschafft. Die Figur des menschenfreundlichen Arztes, die Thomas Mann 1940, in menschenunfreundlichster Zeit, entwarf, hätte in seinen Gegenwartsromanen keinen Platz gehabt. Nur in historischen Kulissen hat er der Aufklärung so schöne Zugeständnisse gemacht.
Während der Arzt zu einer Leitfigur und Identifikationsgestalt im historischen Roman des zwanzigsten Jahrhunderts wurde, hatten die wahren Nachfolger der "philosophischen Ärzte" längst den Schritt vom Skeptizismus zum Nihilismus vollzogen. Nicht der von der Aufklärung befeuerte Menschenfreund, sondern der "zynische Mediziner", der sie verhöhnt, wird zum Protagonisten der Moderne. Aber über Dr. Benn oder Dr. Céline ist bisher noch kein historischer Roman geschrieben worden.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mit den Salben der Aufklärung gegen die Krankheit der Tradition: Der Arzt ist der letzte Held des historischen Romans / Von Wolfgang Schneider
Kaum ein anderes Genre entzweit lesende Gemüter so wie der historische Roman. Während es längst zum guten Ton gehört, über Krimis, Thriller und Science-fiction eben nicht die Nase zu rümpfen, läßt sich über ihn weiterhin ungestraft behaupten, man lese dergleichen "prinzipiell" nicht. So war es aber seit den Anfängen. Wo vom historischen Roman die Rede war, da sogleich auch von seinem Wert oder Unwert.
Bei allem Lob der Popkultur wird die wahrhaft populäre Kultur ausgenommen: jene Stapelware mit dem schlechten Papier und den allzu bunten Umschlägen, jene billigen, miesen Zeitmaschinen, die mit ihrem Kostümbudenzauber dennoch bestens zu funktionieren scheinen und dem Leser, vor allem aber der Leserin den kleinen Epochenwechsel für zwischendurch verschaffen. Solche geheimen, wenig erforschten Leseräusche sind das eine; der historische Roman von Rang das andere. Aber auch er steht nicht gerade im Ruch der Avantgarde. Seine Blütezeit war das neunzehnte Jahrhundert. Damals bildete er die Königsklasse des Erzählens, als Nachfolger des Historiendramas. Er war die Form, in der sich große Realisten wie Tolstoi, Flaubert oder Fontane bewähren wollten.
Helden und Taten, sensationelle Ereignisse und stärkste Gefühle, geboten in einem wohlgeordneten, weltverfügenden Erzählen - dergleichen mögen die Leser schätzen, aber genau hier errichtete die Moderne ihre Verbotsschilder. Sie trieb der Literatur die handlungskräftigen Subjekte aus; über der Mikropoesie des Alltags wurden Helden zu Antihelden. Autoren hatten ihre Wissensgrenzen einzugestehen und durften nicht länger so tun, als seien sie noch Herr des Geschehens. Die Moderne war eine Revolution der Form: Das "Was" des Erzählens wurde beinahe nebensächlich, es konnte ein Dubliner Jedermannstag sein. Um so verdächtiger das stoffliche Interesse des historischen Romans. Wo er auf der Höhe der Moderne sein wollte wie Döblins "Wallenstein", wurde er zwar sehr gelobt, von den Lesern aber ignoriert.
Spätere Bestseller wie Süskinds "Parfum", Ransmayrs "Die letzte Welt" oder Nadolnys "Entdeckung der Langsamkeit" verbinden Spannung mit Anspruch. Allerdings haben sie gegen den Anschein ihrer historischen Stoffe wenig mit dem traditionellen historischen Roman zu tun. Weder schildern sie Haupt- und Staatsaktionen, noch stellen sie geschichtliche Umbrüche aus der Perspektive "mittlerer Charaktere" dar, indem sie eine "Privathandlung" sinnfällig mit dem großen Strom der Historie verknüpfen, wie es der Begründer des Genres, Walter Scott, forderte. Vielmehr kaprizieren sie sich auf geschichtsabgewandte Einzelgänger und "Sonderfälle"; das Historische ist hier in besonderem Maß Kostüm und Kulisse.
Die alte Mischung von Pulverdampf und Liebe funktioniert nicht mehr. Die vaterländische Betroffenheit, auf die das Genre einst rechnen konnte, die Selbstvergewisserung einer Nation in ihren großen Männern und Ereignissen - all das ist vorbei und kommt wohl auch nicht wieder. So ist die Darstellung der Geschichte dem historischen Roman zum Problem geworden. Die Helden sind ihm verlorengegangen.
Aber doch nicht ganz! Eine zivile Form von Heroismus gibt es, die auffällig an den Platz der geschichtemachenden Männlichkeit getreten ist: Es ist der Arzt und Heiler, der Kämpfer an der Körperfront, der den Krankheiten und Seuchen immer wieder Geländegewinne abtrotzt. Dem historischen Roman ermöglicht diese Figur eine so einfache wie bezwingende Strukturierung: der Arzt als Vertreter der Aufklärung gegen die Dunkelmänner aller Epochen. Man braucht nicht lange nach Beispielen zu suchen. Einer der größten Bucherfolge unserer Zeit ist Noah Gordons "Der Medicus". Allein die deutsche Übersetzung hat sich über fünf Millionen Mal verkauft. So wundert es nicht, daß Gordon sich und seinen Lesern das Erfolgsrezept gleich noch in einem halben Dutzend Nachfolgewerken verschrieben hat - und daß sich zahlreiche Nachahmer gefunden haben. Aber das Original scheint in seiner epischen Zugkraft unübertroffen.
"Der Medicus" bietet auf vielen Seiten vor allem deftige Alltagsgeschichte des Mittelalters. Als Gehilfe eines reisenden Baders zieht der früh verwaiste Rob Cole durch die Provinzflecken Englands; man verkauft eine mit Urin gepanschte Wundermedizin und hilft, wo man helfen kann. Allzu oft jedoch stößt man an die Grenzen der bescheidenen Möglichkeiten. Eines Tages hört Rob von der Akademie in Isfahan und beschließt, nach Persien zu reisen, um dort vom Wissen des großen Heilkundigen Ibn Sina (eine historisch verbürgte Gestalt) zu profitieren. Viele Kapitel erzählen von Robs aufopferndem Einsatz gegen Krankheiten wie Pest und Pocken; historische Behandlungsmethoden (Amputationen, Kastrationen) werden zum Schaudern des Lesers eindringlich beschrieben.
Die Gegnerschaft von Klerus und Ärzteschaft ist eine durchgehende Konfliktlinie des "Medicus". Schon der alte Bader ist ständig in Gefahr, als Hexer belangt zu werden. Erst recht Rob bekommt es bei seinen Körperforschungen mit einer Internationale des frommen Terrors zu tun. Mögen sich die Inhalte der religiösen Lehren unterscheiden, die Struktur der Verfolgungslust scheint immer dieselbe. Englische Priester wie persische Mullahs sehen den Ärzten scharf auf die Finger; niemand soll in den Willen Gottes eingreifen. Im Orient wie im Okzident behindert das Sündenbewußtsein den chirurgischen Fortschritt, weil es das Sezieren menschlicher Leichen verbietet. Nicht ohne Grund spielt im Roman die simple Blinddarmentzündung eine wichtige Rolle; immer wieder sterben Menschen an der mysteriösen "Seitenkrankheit". Hier wird das kirchliche Forschungsverbot auf plausibelste Weise zum Ärgernis, auch für den Leser, der schließlich erleichtert aufseufzt, wenn Rob das Tabu bricht und in heimlicher Nacht einen Verstorbenen aufschneidet. So kommt er dem vereiterten Wurmfortsatz auf die Spur.
Als wäre er ein Zeitgenosse Voltaires, spricht Rob vom Mittelalter als den "Jahrhunderten finsteren Unwissens" - im Jahr 1040. So wie Ecos Rosenroman dem Leser mit William von Baskerville eine Art Sherlock Holmes an die Hand gibt, der die moderne Vernunft gegen die pittoresken Schauerlichkeiten des Mittelalters zur Geltung bringt, wirkt auch die Hauptfigur des "Medicus" bereits von Kopf bis Fuß durchsäkularisiert. Aber es ist müßig, dem Buch Anachronismen vorzuwerfen. In der Zeitmischung besteht seit je der Trick des historischen Romans; er projiziert die Bewußtseinslagen späterer Epochen auf die Bühnen der Vorwelt.
Heute leben wir im Zeitalter der therapeutischen Zuversicht; der Patient erwartet vom Arzt Heilung. Vor den großen historischen Fortschritten der Medizin beschränkte sich die Rolle des Arztes jedoch oft auf die Prognose, so Rudolf Käser in seiner Studie "Arzt, Tod und Text". Nicht daß er viele heilte, machte seine Anerkennung aus, sondern daß er sich nie irrte. Wird der Mensch leben, oder muß er sterben? Der Arzt wußte, wie die Zeichen standen; er war der "Semiotiker des Todes". Erst in der Neuzeit wird er zu seinem entschiedensten Gegner und zum Schöpfer des Weiterlebens. Darin, so Käser, komme der epochale medizinische Paradigmenwechsel von der bloßen Diagnose zur Therapie zum Ausdruck. Gordons Roman ist genau in diesem Sinn konzipiert. Rob beeindruckt zunächst durch seine niemals fehlgehende Gabe der Prognose. Er braucht einem Kranken nur die Hand zu halten, um zu wissen, wie lange er noch zu leben hat. Doch dann erfährt er eine Berufung zum Neuen, als hätte Gott ihm gesagt: "Bei der Erschaffung des Menschen habe ich Fehler begangen, und ich beauftrage dich, einige meiner Fehler zu beheben." Rob entwirft sich selbst als humanen Helfer und verläßt zu diesem Zweck die europäische Kultur des Mittelalters mit ihren Beschränkungen: als Bildungsreisender und als wandelnder Anachronismus. Sein bescheidener Satz "Ich will nur ein Medicus sein" vibriert bereits vom Pathos der Aufklärung.
Der Siegeszug des medizinischen Materialismus im achtzehnten Jahrhundert machte Schluß mit den Rückzugsgefechten der Physikotheologie. Die Interaktion von Seele und Körper war nicht länger metaphysisch, sondern schlicht durch Nervenphysiologie zu erklären. Die unsterbliche Seele verflüchtigte sich; die Hirnphysiologie wurde zur Einbruchsstelle der Freigeisterei. Der Arzt wurde zum Politikum. Genau dieses Thema hat Per Olov Enquist - gegenwärtig vielleicht der bedeutendste Verfasser historischer Romane - in seinem vielgerühmten Werk "Der Besuch des Leibarztes" dargestellt. Es ist die große Geschichte von Struensee, dem mutigen Philanthropen, der 1768 aus dem freigeistigen Altona als Leibarzt an den Hof des psychisch kranken Christian VII. gerufen wird und dort aufsteigt zum Geheimen Kabinettsminister. Er nutzt das Machtvakuum, um die faulen Stellen am dänischen Staatskörper - ziemlich viele - mit den Salben der Aufklärung zu kurieren. Damals hatte die "Linke" noch großartige Themen zu besetzen: Toleranz, Gedanken- und Pressefreiheit, Aufhebung der Leibeigenschaft, Reform des Gesundheitswesens, Abschaffung der Adelspfründe. Vernunft und Humanität - als episches Theater der Aufklärungszeit sind die schönen Ideen nach wie vor bühnenwirksam. Bei Enquist wird der historische Roman zum Refugium der engagierten Literatur. Freilich geht auch im Roman die aufklärerische Rechnung nicht auf. Die Triebhaftigkeit macht einen Strich hindurch. Denn da ist noch die sexuell unerfüllte junge Königin, und Struensee ist nicht nur ein philosophischer Kopf, sondern ein ganzer Mensch und Mann. Den Leser freut's, denn er bekommt eine opulente Liebesgeschichte serviert.
Struensee ist vor allem ein "philosophischer Arzt", wie er im Buch der Aufklärung steht. Er hängt der Vorstellung vom Menschen "als einer Maschine" an; die theologische Idee der Höllenstrafe nach dem Tod findet er albern: "Der Mensch wird in diesem Leben genügend bestraft. Tugendhaft ist für mich derjenige, der das Nützliche tut." "Ich bin nur Arzt" - der Satz des Medicus kehrt als Formel Struensees wieder. Nur Arzt - unter den Voraussetzungen der Epoche ist das jedoch sehr viel, denn hier wird die Krankheit zur Metapher. "Krankheit gibt es überall. Ganz Kopenhagen ist krank . . ." Struensees Widersacher, der intrigante Reaktionär Guldberg, ist ein Lustfeind und religiöser Eiferer. Vor allem aber ist der kleinwüchsige Ränkeschmied ein Feind der Mediziner. Er haßt sie, weil sie ihm, dem chronisch Kranken, nicht helfen können. "Er verachtete deshalb auch die Ärzte. Struensee war Arzt." Der eigentliche Grund für seine Verachtung ist ein anderer: Die Ärzte sind die Protagonisten jener Aufklärung, die "einen Hebel unter dem Haus der Welt ansetzt".
Diese leitmotivische Formulierung findet sich bereits im Roman "Der fünfte Winter des Magnetiseurs" von 1964, der nach dem Bestseller-Erfolg des "Leibarztes" jüngst auch ins Deutsche übersetzt wurde. Obwohl fast vier Jahrzehnte zwischen den beiden Werken liegen, besitzen sie eine erstaunliche Nähe. Im "fünften Winter des Magnetiseurs" stellte Enquist seine Meisterschaft des historisch-dokumentarischen Erzählens erstmals unter Beweis, im "Besuch des Leibarztes" hat er sie vollendet. Auch der frühe Roman spielt in der Epoche der Aufklärung. Hier wird jedoch nicht eine dezidierte Lichtgestalt in den Mittelpunkt gerückt, sondern ein veritabler Dunkelmann. Der Magnetiseur Meisner ist eine noch dubiosere Gestalt als sein historisches Vorbild Franz Anton Mesmer, der Erfinder des "animalischen Magnetismus". Er ist eine Romanfigur, die aufregend schillert zwischen wissenschaftlichem Grenzgängertum und cagliostrohaftem Betrug. Während sich bei Struensee beste Absichten mit einem Mangel an Menschenkenntnis verbinden, ist es beim Wunderheiler Meisner, der im Winter 1793 in der bayerischen Stadt Seefond eine schwunghafte therapeutische Praxis führt, genau umgekehrt: Er hat das Charisma des geborenen Sektenführers. Alle kommen sie zu ihm, gelangweilte Ehefrauen, einfältige Bürger und glücklose Kaufleute, alle erhoffen sich Heilung und Heil; Meisner sucht Macht über Menschen. Dabei ist Seefond keineswegs ein Hort des Wunderglaubens, sondern ein fortschrittliches Musterstädtchen mit sanierten Straßen und vorbildlichem Armenhaus. Aber Wohlstand und Aufklärung haben die metaphysische Sehnsucht nur vorübergehend ruhiggestellt.
Meisners Gegenfigur ist der junge Mediziner Steiner, ein steinharter Rationalist. "Mit uns Ärzten kommt Ordnung in die Welt", ist seine zeitgemäße Devise; er will die Wundertäter zur Strecke bringen. Nur leider kann er den Menschen nicht helfen. Die Patientin, die unter Meisners magnetischen Händen zu euphorischer Gesundheit erblühte, welkt in Steiners Behandlung wieder hin zu einem Häufchen Elend und muß schließlich ins Irrenhaus gebracht werden. Der Scharlatan vollbringt wahre Wunder, der ehrliche Arzt bleibt machtlos, so die ironische Pointe.
Die Geschichte eines fragwürdigen Genies und Massenverführers hat parabelhafte Züge. Wie die "philosophischen Ärzte" der Epoche denkt auch Meisner daran, seine Methoden ins Politische zu erweitern. Er arbeitet an einer Schrift "über die Führung des Staates". Eine süffige Liebeshandlung wie im "Besuch des Leibarztes" gibt es in diesem Roman über die Dialektik der Aufklärung übrigens nicht. Anfang der sechziger Jahre, als das Buch entstand, war das kulinarische Fabulieren verpönt. Diesem Roman eignet noch die modernistische Strenge, die sich die avancierten Erzähler damals verordneten.
Enquists Romane lassen sich als philosophische Partituren lesen. Die Figuren stehen zueinander wie Antithesen, ohne dabei zu blassen Allegorien zu verkommen. Zur Kunst dieses Autors gehört es, zwischen distanzierendem historischen Bericht und szenischer Darstellung immer wieder geschickt zu wechseln. Vor allem im "Leibarzt" treibt er sein Spiel mit dem guten, alten Erzählertonfall. Gerade weil es sich um überlieferte Wirklichkeiten handelt, kann man die alten Tricks des Fiktiven benutzen, die im Fiktiven selbst fadenscheinig geworden sind.
Auf andere Weise versucht Patricia Duncker das Genre auf die Höhe der Zeit zu bringen. In "James Miranda Barry" kreuzt sie den historischen Roman mit dem Geist der Gender Studies. Barry ist eine authentische Figur des neunzehnten Jahrhunderts. Von der ehrgeizigen Mutter, die sich mit den Beschränkungen eines Frauenlebens nicht abfinden will, wird dem talentierten Mädchen im Alter von elf Jahren eine männliche Identität verpaßt. Man steckt sie in eine Uniform und schickt sie zur Universität. Später wird Barry einer der bekanntesten Militärärzte des britischen Empires; der Roman begleitet "ihn" durch Schlachten, Epidemien und Revolutionen und führt den Leser in einem prallen Bilderbogen von London nach Afrika, Malta und Jamaica. Auch Barry ist ein von der Aufklärung befeuerter Mediziner. In den Tropenhospitälern führt er hygienische Maßregeln ein und sorgt für frische Luft in schwülen Krankenzimmern. Bei den Herren der alten Schule - Fraktion Aderlaß - macht Barry sich unbeliebt, weil er gelegentlich eine Kräuterhexe und deren Brennnesselextrakte zu Rate zieht.
Die Ärzte des historischen Romans haben an doppelter Front zu kämpfen: nicht nur gegen eine rückständige Geistlichkeit, sondern ebenso gegen die "seelenlose" Schulmedizin. Auch diese Konfliktstruktur läßt sich ins Zeitalter der Aufklärung zurückspiegeln, wie Guido Dieckmanns Roman über Samuel Hahnemann (1755 bis 1843), den Begründer der Homöopathie, beweist. Von Kirchenmännern wie von der medizinischen Orthodoxie wird Hahnemann denunziert: als gefährlicher Schwarzkünstler, Scharlatan oder Ketzer. Zünftige Apotheker wollen ihm das Arzneimischen verbieten. Aber Hahnemann beruft sich selbst auf Vernunft und Wissenschaft, wenn es den Mesmerismus und andere Formen einer ausschweifenden Therapiekultur abzuwehren gilt. Oder wenn die schulmedizinische Ratlosigkeit lebensgefährlich wird: Da müssen Patienten zwecks Reinigung ihrer Därme walnußgroße "Purgierkugeln" aus Blei schlucken. Wer nicht gleich erstickt, siecht hin an der Bleivergiftung. Dieckmanns Buch erscheint als etwas biedere Variante des Ecoschen Geheimbundromans; das Rosenkreuzertum und eine geheime, allseits gesuchte Spätschrift des Paracelsus sorgen für mysteriöse Momente.
"Was ich aber von Anfang an bis zu Ende mit ganz seltenem Anteil durchgelesen habe, ist ,Hahnemann' - ein Leben, von dem ich kaum etwas wußte und das mich in dieser Darstellung tief ergriffen hat", schrieb Thomas Mann 1934 in einem Brief. Er meinte mit diesem Lob die Lebensbeschreibung des Homöopathen von Martin Gumpert, die im selben Jahr erschienen war und auch noch für Guido Dieckmann die Hauptquelle abgibt. Gumpert war selbst Arzt; Thomas Mann lernte den jüdischen Emigranten 1937 persönlich in New York kennen und sah ihn in den folgenden Jahren gern als Gast bei sich. Und, wie so oft, er verarbeitete ihn zu einer literarischen Figur - zu einem "philosophischen Arzt". Gumpert ist das Modell des heilkundigen Gefängnisvorstehers Mai-Sachme im Abschlußband von "Joseph und seine Brüder", dieser grandiosen Mischung aus Mythos, Märchen und monumentalem Historienroman. Mai-Sachme mag ein ägyptischer Bürger der Pharaonenzeit sein; geistig ist auch er ein Bewohner der Aufklärung, ein behutsamer Materialist, der diplomatische Zugeständnisse an die alten magischen Praktiken macht. Und wie es sich für einen "philosophischen Arzt" gehört, widmet er seine freie Zeit der Schriftstellerei.
Es handelt sich nicht nur um eine geglückte Figur, sondern auch um die positivste Darstellung eines Arztes im Gesamtwerk Thomas Manns, was um so bemerkenswerter ist, als sich durch die Romane und Erzählungen Manns ein langer Reigen von Arztfiguren zieht. Aber all diese "Kapazitäten" sind fast ausnahmslos Karikaturen, Dilettanten, zwielichtige Gestalten und hilflose Helfer. Sie sind zu sehr Zeitgenossen, um als Modell und Ideengeber zu taugen wie Josephs Mentor Mai-Sachme, der dem zukünftigen "Ernährer" die Initiation in pragmatisches Denken und nützliches Handeln verschafft. Die Figur des menschenfreundlichen Arztes, die Thomas Mann 1940, in menschenunfreundlichster Zeit, entwarf, hätte in seinen Gegenwartsromanen keinen Platz gehabt. Nur in historischen Kulissen hat er der Aufklärung so schöne Zugeständnisse gemacht.
Während der Arzt zu einer Leitfigur und Identifikationsgestalt im historischen Roman des zwanzigsten Jahrhunderts wurde, hatten die wahren Nachfolger der "philosophischen Ärzte" längst den Schritt vom Skeptizismus zum Nihilismus vollzogen. Nicht der von der Aufklärung befeuerte Menschenfreund, sondern der "zynische Mediziner", der sie verhöhnt, wird zum Protagonisten der Moderne. Aber über Dr. Benn oder Dr. Céline ist bisher noch kein historischer Roman geschrieben worden.
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