Der Roman aus dem Jahre 1964 erzählt die Liebesgeschichte zwischen Judith Samson, einer selbstbewußten jungen Amerikanerin, und Stéphane Chalier, einem geheimnisvollen Belgier, der sein Land, seine Frau, seine Kinder verlassen hat, um sich in den USA durchzuschlagen, mit Gelegenheitsjobs und später als Lehrer an einer Universität. Bei seiner Heirat verschweigt er seine Vorgeschichte, die anfangs nur Judith bekannt ist. Hinter Chalier verbirgt sich der belgisch-amerikanische Literaturtheoretiker Paul de Man, den Henri Thomas während seines Amerika-Aufenthalts Anfang der sechziger Jahre kennenlernte. Jacques Derrida schrieb über den Roman einen seiner letzten Essays mit dem Titel "Der Meineid, vielleicht".
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Seit dem vergangenen Herbst kann man Henri Thomas' bereits 1964 erschienenen Roman "Der Meineid" auch endlich auf Deutsch lesen, freut sich Rezensent Jürgen Thaler. Zum einen empfiehlt der Kritiker die Lektüre dieses außergewöhnlichen Buches im Hinblick auf die lesenswerte Geschichte um einen Mann, der Frau und Kinder in Belgien zurücklässt, um in den USA eine Studie über Hölderlin zu beginnen, unter der Angabe, unverheiratet zu sein, erneut heiratet und sich bald nicht nur vor seiner ersten Frau, sondern auch vor den Behörden wegen des geleisteten Meineids verantworten muss. Zum anderen betrachtet der Rezensent den Roman als aufschlussreiches Dokument über den Literaturwissenschaftler Paul de Man, den Henri Thomas an der Brandeis University kennenlernte und über den zahlreiche Erinnerungen in den Roman einflossen. Thaler erscheint dieses "elegant" erzählte Buch geradezu als Schlüsselroman zu Paul de Man und seiner Methode, sich von den eigenen ideologischen Sünden freizusprechen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.01.2013Was Sie schon immer über Paul de Man wissen wollten
Henri Thomas' Schlüsselroman "Der Meineid" erscheint nach fast fünfzig Jahren in deutscher Übersetzung.
In Teju Coles jüngst erschienenem Flaneur-Roman "Open City" (F.A.Z. vom 5. Januar) drückt Farouq, ein flüchtiger Bekannter des Ich-Erzählers Julius, den er während seines Aufenthaltes in Brüssel kennenlernt, seine Begeisterung für den Literaturwissenschaftler Paul de Man aus. Nicht nur der Zufall, dass er nun in der Geburtsstadt de Mans Vergleichende Literaturwissenschaft studiere, begeistere ihn, sondern vor allem de Mans Konzept von "Blindheit" und "Einsicht", die sich wechselhaft bedingen und ausschließen. Die Theorie von Paul de Man eröffne ihm so Perspektiven im Nachdenken über das Scheitern der Aufklärung.
Der Amerikaner Teju Cole ist ein zu kluger Autor, als dass er mit diesem kurzen Verweis nicht mit jenen Erwartungen spielte, die beim Auftauchen des Namens von Paul de Man seit Ende der achtziger Jahre reflexartig sich einstellen: Durch das Auftauchen von antisemitischen Artikeln, die Paul de Man in den vierziger Jahren für belgische Kollaborationszeitungen geschrieben hatte, stand seine komplexe Variante der Dekonstruktion, die eigentlich eine avancierte Theorie des Lesens und damit des Verstehens ist und die ihn zu Lebzeiten vor allem in amerikanischen akademischen Zirkeln so berühmt wie berüchtigt machte, unter Generalverdacht. Seine Kritiker versuchten, die wissenschaftliche Leistung Paul de Mans mit seinen eigenen Mitteln zu schlagen, um so die glänzende Karriere des aus Belgien in die Vereinigten Staaten ausgewanderten Literaturwissenschaftlers, der von 1970 bis zu seinem Tod 1983 in Yale unterrichtete, zu unterminieren und seine einflussreichen Schüler in die Schranken zu weisen.
Es dauerte nicht lange, bis die damals heftig geführten Debatten (F.A.Z. vom 10. und 24. Februar 1988) zwischen Wissenschaft und Feuilleton Einzug in die zeitgenössische Literatur hielten. Das Motiv des genialen Wissenschaftlers, der eine Methode erfindet, um sich vor seinen eigenen ideologischen Sünden ("Blindheit") freizusprechen, taucht in unterschiedlichen Ausformungen in Gilbert Adairs "Der Tod des Autors" (1992), in Lars Gustafssons "Die Sache mit dem Hund" (1993) ebenso auf wie in John Banvilles Roman "Caliban" (2002) oder in Wolfram Fleischhauers Campusroman "Der gestohlene Abend" (2008). Auch in Bernhard Schlinks "Die Heimkehr" findet sich ein Hinweis auf Paul de Man.
Erstaunlich ist, dass in der Diskussion um den Literaturwissenschaftler, die von einem glänzenden Text Jacques Derridas offiziell beendet wurde, der wohl früheste und beste Schlüsselroman zu Paul de Man überhaupt keine Rolle spielt, nämlich Henri Thomas' 1964 erschienener Roman "Le parjure", der seit letztem Herbst unter dem Titel "Der Meineid" auch auf Deutsch vorliegt. Dabei ging Derrida in einem seiner letzten Texte - ",Le Parjure', Perhaps: Storytelling and Lying" - auf diesen Roman von Henri Thomas ein und wies auf die Verbindung zu Paul de Man nochmals nachdrücklich hin. Das exzeptionelle Buch, das es auch knapp fünfzig Jahre nach Erscheinen noch zu lesen lohnt, erzählt die Geschichte von Stéphane Chalier, der seine Frau und zwei Kinder in Belgien zurücklässt, um in den Vereinigten Staaten eine Studie über Hölderin in Amerika zu beginnen.
Als Arbeiter auf einem Erdbeerfeld lernt Chalier Judith Samson kennen, die er wenig später heiratet. Auf dem Standesamt gibt er an, dass er noch nie verheiratet war. Er leistet den Meineid, der dem Roman den Titel gibt. Doch seine Geschichte holt ihn ein. Bald steht seine erste Frau vor seiner Tür, um mit ihm abzurechnen. Die Behörde lädt ihn wegen des geleisteten Meineids vor. Eine Augenkrankheit zwingt ihn ins Spital.
Henri Thomas' düsterer Roman zeichnet sich durch eine ebenso elegante wie kluge Erzählweise aus, wobei sich der Ich-Erzähler nach den Eingangskapiteln als akademischer Freund von Chalier zu erkennen gibt. Der Roman endet mit einer eigenwilligen Robinsonade auf einer Insel. Dort treffen das Ehepaar, der Sohn Patrick und ein Kind einer Verwandten sowie der Ich-Erzähler auf einen gewaltbereiten, unberechenbaren Inselbewohner, der sie letztlich zur Flucht von der Insel zwingt.
Derrida berichtet, dass Paul de Man ihm gesagt habe, dass er, wenn er etwas über sein früheres Leben wissen möchte, den Roman "Hölderlin in Amerika" lesen solle. Dies war der Titel, unter dem Thomas' Text erstmals in der Zeitschrift "Mercure de France" veröffentlicht wurde. Henri Thomas hatte Paul de Man Ende der fünfziger Jahre an der Brandeis University kennengelernt, wo der französische Autor eine zweijährige Professur innehatte. In Thomas' Notizheften dieser Zeit findet sich das Material für "Der Meineid". Immer wieder notierte er Begebenheiten, die seinen Freund de Man und dessen (zweite) Frau Patricia betreffen: Eintragungen über einen Privatdetektiv und über die Anschuldigungen der Bigamie. Thomas notierte Reiseberichte der de Mans von einer Insel, wo sie einen Alten trafen, der ein Schwein erschoss. Alle diese Erinnerungssplitter finden sich in den Roman eingearbeitet, auch die grandiose Eröffnungsszene auf dem Erdbeerfeld lässt sich auf einen Sommer in de Mans ersten Jahren in Amerika zurückführen.
Wie andere Romane des in Deutschland nahezu unbekannten Henri Thomas (1912 bis 1993) entwickelt auch dieser Roman seine Geschichte aus kleinen erzählerischen Momenten und Motiven, die der Autor zunächst in seinen Notizen festhielt. Der Erzähler ist Berichterstatter und Zeuge gleichermaßen. Daraus entstehen irritierende Romane mit großartigen Szenen, die wie Knotenpunkte die Handlung verbinden. Zum Beispiel ein Abendessen im Hause der Familie Chalier in Belgien: Stéphane wird von seinem Vater vor einem anwesenden Freund der Familie als unentschlossener Jüngling bloßgestellt. Darauf antwortet er: "Da irrst du, Vater, mein Thema ist Hölderlin in Amerika, und ich werde die Arbeit vor Ort schreiben."
"Hölderlin in Amerika", der ursprüngliche Titel des Romans, taucht auch in den "Mémoires" auf, die Derrida über Paul de Man nach dessen Tod 1986 geschrieben hat. Darin heißt es - etwas geheimnisvoll -, dass ein Freund de Man den Beinamen "Hölderlin in Amerika" gegeben habe. Im Aufsatz über "Le parjure" berichtet Derrida fünfzehn Jahre später von seiner ersten Lektüre des Romans, den er zufällig in einem Antiquariat in Nizza gefunden habe. Die Lektüre habe ihn aufgewühlt ("bouleversé"). Darüber habe er, so erinnert sich Derrida, Paul de Man einen Brief geschrieben, so diskret wie möglich, den Gepflogenheiten ihres Briefwechsels entsprechend. Später habe er nie mehr mit de Man über Henri Thomas gesprochen.
Im Nachlass von Paul de Man hat sich dieser Brief erhalten, den Derrida am 14. Mai 1981 abfasste. Der französische Philosoph hat seiner Lektüre des Schlüsselromans nur den letzten Abschnitt dieses vierseitigen Briefes gewidmet, dem, wie dem Schreiben zu entnehmen ist, ein Telefongespräch voranging. "Auch wenn ich Ihnen dazu nicht mehr sagen kann, so darf ich Ihnen doch nicht verschweigen, dass mich die Lektüre von ,Le parjure' (das ich seit langem - aber doch ohne etwas dafür zu tun, suchte und über das ich bei einem Buchhändler in Nizza ,gestolpert' bin, wie ich Ihnen am Telefon erzählte), beeindruckt, ja aufgewühlt, in jedem Fall aber ein starkes, ,unheimliches' Echo in mir gefunden hat, d. h. mit und ohne Überraschung. Aber genug der Worte - nur dies noch, um keusch bei der ,Literatur' und den codierten Einschätzungen zu bleiben: Es ist auch ein sehr starkes und sehr schönes Buch, von dem ich daher auch eine große Bewunderung für Henri Thomas mitnehme, dessen Arbeiten ich nur sehr indirekt kannte."
Paul de Man hat auf diese Ausführung schriftlich nicht geantwortet. Es liegt auf der Hand, dass weder Derrida noch der Autor des Romans "Der Meineid" ahnen konnten, welche Geschichte de Man neben seiner ersten Ehe außerdem in Europa zurückgelassen hatte und wie steil seine akademische Karriere nach dem Weggang aus Brandeis verlaufen sollte. So gewinnt das "Unheimliche", das Derrida bei der Lektüre empfand, eine geradezu tragische Dimension. Henri Thomas wunderte sich jedenfalls, dass er Ende des Jahres 1987 einen Anruf in seinem Haus auf einer bretonischen Insel von Jacques Derrida bekam, der von ihm Informationen über de Man zu bekommen hoffte. Das war am Vorabend der Veröffentlichung der Kollaborationsvorwürfe gegen de Man. Als der ganze Fall Paul bekanntwurde, zögerte Henri Thomas nicht, seinen Verleger darüber zu informieren, um ihn davon zu überzeugen, den längst vergriffenen Roman "Le parjure" neu aufzulegen. Robert Gallimard folgte diesem Angebot nicht. Nun kann man die Lektüre auf Deutsch nachholen
JÜRGEN THALER
Henri Thomas: "Der Meineid". Roman.
Aus dem Französischen von Leopold Federmair. Klever Verlag, Wien 2012. 220 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Henri Thomas' Schlüsselroman "Der Meineid" erscheint nach fast fünfzig Jahren in deutscher Übersetzung.
In Teju Coles jüngst erschienenem Flaneur-Roman "Open City" (F.A.Z. vom 5. Januar) drückt Farouq, ein flüchtiger Bekannter des Ich-Erzählers Julius, den er während seines Aufenthaltes in Brüssel kennenlernt, seine Begeisterung für den Literaturwissenschaftler Paul de Man aus. Nicht nur der Zufall, dass er nun in der Geburtsstadt de Mans Vergleichende Literaturwissenschaft studiere, begeistere ihn, sondern vor allem de Mans Konzept von "Blindheit" und "Einsicht", die sich wechselhaft bedingen und ausschließen. Die Theorie von Paul de Man eröffne ihm so Perspektiven im Nachdenken über das Scheitern der Aufklärung.
Der Amerikaner Teju Cole ist ein zu kluger Autor, als dass er mit diesem kurzen Verweis nicht mit jenen Erwartungen spielte, die beim Auftauchen des Namens von Paul de Man seit Ende der achtziger Jahre reflexartig sich einstellen: Durch das Auftauchen von antisemitischen Artikeln, die Paul de Man in den vierziger Jahren für belgische Kollaborationszeitungen geschrieben hatte, stand seine komplexe Variante der Dekonstruktion, die eigentlich eine avancierte Theorie des Lesens und damit des Verstehens ist und die ihn zu Lebzeiten vor allem in amerikanischen akademischen Zirkeln so berühmt wie berüchtigt machte, unter Generalverdacht. Seine Kritiker versuchten, die wissenschaftliche Leistung Paul de Mans mit seinen eigenen Mitteln zu schlagen, um so die glänzende Karriere des aus Belgien in die Vereinigten Staaten ausgewanderten Literaturwissenschaftlers, der von 1970 bis zu seinem Tod 1983 in Yale unterrichtete, zu unterminieren und seine einflussreichen Schüler in die Schranken zu weisen.
Es dauerte nicht lange, bis die damals heftig geführten Debatten (F.A.Z. vom 10. und 24. Februar 1988) zwischen Wissenschaft und Feuilleton Einzug in die zeitgenössische Literatur hielten. Das Motiv des genialen Wissenschaftlers, der eine Methode erfindet, um sich vor seinen eigenen ideologischen Sünden ("Blindheit") freizusprechen, taucht in unterschiedlichen Ausformungen in Gilbert Adairs "Der Tod des Autors" (1992), in Lars Gustafssons "Die Sache mit dem Hund" (1993) ebenso auf wie in John Banvilles Roman "Caliban" (2002) oder in Wolfram Fleischhauers Campusroman "Der gestohlene Abend" (2008). Auch in Bernhard Schlinks "Die Heimkehr" findet sich ein Hinweis auf Paul de Man.
Erstaunlich ist, dass in der Diskussion um den Literaturwissenschaftler, die von einem glänzenden Text Jacques Derridas offiziell beendet wurde, der wohl früheste und beste Schlüsselroman zu Paul de Man überhaupt keine Rolle spielt, nämlich Henri Thomas' 1964 erschienener Roman "Le parjure", der seit letztem Herbst unter dem Titel "Der Meineid" auch auf Deutsch vorliegt. Dabei ging Derrida in einem seiner letzten Texte - ",Le Parjure', Perhaps: Storytelling and Lying" - auf diesen Roman von Henri Thomas ein und wies auf die Verbindung zu Paul de Man nochmals nachdrücklich hin. Das exzeptionelle Buch, das es auch knapp fünfzig Jahre nach Erscheinen noch zu lesen lohnt, erzählt die Geschichte von Stéphane Chalier, der seine Frau und zwei Kinder in Belgien zurücklässt, um in den Vereinigten Staaten eine Studie über Hölderin in Amerika zu beginnen.
Als Arbeiter auf einem Erdbeerfeld lernt Chalier Judith Samson kennen, die er wenig später heiratet. Auf dem Standesamt gibt er an, dass er noch nie verheiratet war. Er leistet den Meineid, der dem Roman den Titel gibt. Doch seine Geschichte holt ihn ein. Bald steht seine erste Frau vor seiner Tür, um mit ihm abzurechnen. Die Behörde lädt ihn wegen des geleisteten Meineids vor. Eine Augenkrankheit zwingt ihn ins Spital.
Henri Thomas' düsterer Roman zeichnet sich durch eine ebenso elegante wie kluge Erzählweise aus, wobei sich der Ich-Erzähler nach den Eingangskapiteln als akademischer Freund von Chalier zu erkennen gibt. Der Roman endet mit einer eigenwilligen Robinsonade auf einer Insel. Dort treffen das Ehepaar, der Sohn Patrick und ein Kind einer Verwandten sowie der Ich-Erzähler auf einen gewaltbereiten, unberechenbaren Inselbewohner, der sie letztlich zur Flucht von der Insel zwingt.
Derrida berichtet, dass Paul de Man ihm gesagt habe, dass er, wenn er etwas über sein früheres Leben wissen möchte, den Roman "Hölderlin in Amerika" lesen solle. Dies war der Titel, unter dem Thomas' Text erstmals in der Zeitschrift "Mercure de France" veröffentlicht wurde. Henri Thomas hatte Paul de Man Ende der fünfziger Jahre an der Brandeis University kennengelernt, wo der französische Autor eine zweijährige Professur innehatte. In Thomas' Notizheften dieser Zeit findet sich das Material für "Der Meineid". Immer wieder notierte er Begebenheiten, die seinen Freund de Man und dessen (zweite) Frau Patricia betreffen: Eintragungen über einen Privatdetektiv und über die Anschuldigungen der Bigamie. Thomas notierte Reiseberichte der de Mans von einer Insel, wo sie einen Alten trafen, der ein Schwein erschoss. Alle diese Erinnerungssplitter finden sich in den Roman eingearbeitet, auch die grandiose Eröffnungsszene auf dem Erdbeerfeld lässt sich auf einen Sommer in de Mans ersten Jahren in Amerika zurückführen.
Wie andere Romane des in Deutschland nahezu unbekannten Henri Thomas (1912 bis 1993) entwickelt auch dieser Roman seine Geschichte aus kleinen erzählerischen Momenten und Motiven, die der Autor zunächst in seinen Notizen festhielt. Der Erzähler ist Berichterstatter und Zeuge gleichermaßen. Daraus entstehen irritierende Romane mit großartigen Szenen, die wie Knotenpunkte die Handlung verbinden. Zum Beispiel ein Abendessen im Hause der Familie Chalier in Belgien: Stéphane wird von seinem Vater vor einem anwesenden Freund der Familie als unentschlossener Jüngling bloßgestellt. Darauf antwortet er: "Da irrst du, Vater, mein Thema ist Hölderlin in Amerika, und ich werde die Arbeit vor Ort schreiben."
"Hölderlin in Amerika", der ursprüngliche Titel des Romans, taucht auch in den "Mémoires" auf, die Derrida über Paul de Man nach dessen Tod 1986 geschrieben hat. Darin heißt es - etwas geheimnisvoll -, dass ein Freund de Man den Beinamen "Hölderlin in Amerika" gegeben habe. Im Aufsatz über "Le parjure" berichtet Derrida fünfzehn Jahre später von seiner ersten Lektüre des Romans, den er zufällig in einem Antiquariat in Nizza gefunden habe. Die Lektüre habe ihn aufgewühlt ("bouleversé"). Darüber habe er, so erinnert sich Derrida, Paul de Man einen Brief geschrieben, so diskret wie möglich, den Gepflogenheiten ihres Briefwechsels entsprechend. Später habe er nie mehr mit de Man über Henri Thomas gesprochen.
Im Nachlass von Paul de Man hat sich dieser Brief erhalten, den Derrida am 14. Mai 1981 abfasste. Der französische Philosoph hat seiner Lektüre des Schlüsselromans nur den letzten Abschnitt dieses vierseitigen Briefes gewidmet, dem, wie dem Schreiben zu entnehmen ist, ein Telefongespräch voranging. "Auch wenn ich Ihnen dazu nicht mehr sagen kann, so darf ich Ihnen doch nicht verschweigen, dass mich die Lektüre von ,Le parjure' (das ich seit langem - aber doch ohne etwas dafür zu tun, suchte und über das ich bei einem Buchhändler in Nizza ,gestolpert' bin, wie ich Ihnen am Telefon erzählte), beeindruckt, ja aufgewühlt, in jedem Fall aber ein starkes, ,unheimliches' Echo in mir gefunden hat, d. h. mit und ohne Überraschung. Aber genug der Worte - nur dies noch, um keusch bei der ,Literatur' und den codierten Einschätzungen zu bleiben: Es ist auch ein sehr starkes und sehr schönes Buch, von dem ich daher auch eine große Bewunderung für Henri Thomas mitnehme, dessen Arbeiten ich nur sehr indirekt kannte."
Paul de Man hat auf diese Ausführung schriftlich nicht geantwortet. Es liegt auf der Hand, dass weder Derrida noch der Autor des Romans "Der Meineid" ahnen konnten, welche Geschichte de Man neben seiner ersten Ehe außerdem in Europa zurückgelassen hatte und wie steil seine akademische Karriere nach dem Weggang aus Brandeis verlaufen sollte. So gewinnt das "Unheimliche", das Derrida bei der Lektüre empfand, eine geradezu tragische Dimension. Henri Thomas wunderte sich jedenfalls, dass er Ende des Jahres 1987 einen Anruf in seinem Haus auf einer bretonischen Insel von Jacques Derrida bekam, der von ihm Informationen über de Man zu bekommen hoffte. Das war am Vorabend der Veröffentlichung der Kollaborationsvorwürfe gegen de Man. Als der ganze Fall Paul bekanntwurde, zögerte Henri Thomas nicht, seinen Verleger darüber zu informieren, um ihn davon zu überzeugen, den längst vergriffenen Roman "Le parjure" neu aufzulegen. Robert Gallimard folgte diesem Angebot nicht. Nun kann man die Lektüre auf Deutsch nachholen
JÜRGEN THALER
Henri Thomas: "Der Meineid". Roman.
Aus dem Französischen von Leopold Federmair. Klever Verlag, Wien 2012. 220 S., geb., 19,95 [Euro].
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