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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2012

Am Karfreitag lädt Satan sich gern Gäste ein

Ein teuflisch gutes Stück russischer Weltliteratur: Michail Bulgakows "Meister und Margarita" über die Stalin-Zeit ist von Alexander Nitzberg auf hochpoetische Weise neu übersetzt worden.

Von Kerstin Holm

Michail Bulgakows Jahrhundertroman "Der Meister und Margarita", an dem der Autor seine letzten zwölf Lebensjahre unter Stalin schrieb, der dann aber erst während Chruschtschows "Tauwetter" veröffentlicht wurde, kann einem auch heute noch das Moskauer Lebensgefühl nahebringen. Wie in Bulgakows dämonischer Chronik kommt es in der jetzigen Wirklichkeit wieder manchmal vor, dass jemand, der dem freundlichen Milizmann für eine Minute aufs Revier folgt, auf längere Zeit verschwindet. In ungeöffneten Geschäftsakten können, wie in dem Kultklassiker beschrieben, plötzlich nie gesehene Dokumente auftauchen. Und da Russlands Hauptstadt sich, wie damals schon, gewaltsam neu definiert hat, fliegt ihren Bewohnern, wie den Helden Bulgakows, auch schon mal die Geschichte in bunten Fetzen um die Ohren.

Das Buch, das den Satan im Moskau der stalinschen Terrorjahre einen Ball feiern, historische Meuchelmörder auferstehen, aber auch den Autor einer gottlosen Passionserzählung aus dem Irrenhaus herausholen lässt, wurde vielfach verfilmt und auf der Bühne inszeniert. Auf Deutsch aber gab es bisher nur Thomas Reschkes korrekte Linearübersetzung, die, vielleicht weil die deutsche Sprache weniger Schönrednerei-Erfahrungen in sich aufgenommen hat als die russische, das tückisch Quecksilbrige des Originaltexts nur in abgeschwächter Form reproduzierte.

Der in Moskau geborene deutsch-russische Dichter Alexander Nitzberg, der sich insbesondere durch seine Lyrikübertragungen aus dem Russischen verdient machte, hat nun das Sprachfenster in seine Urheimat ein tüchtiges Stück weiter aufgestoßen. Nitzbergs Neuübersetzung, an der er fünf Jahre gearbeitet hat, liest den sechshundert Seiten langen Roman wie ein Prosagedicht. Indem er lange Sätze teilt und für Sprachbilder idiomatische, aber um eine Spur exzentrischere Äquivalente findet, bringt er den deutschen Text zum Funkeln. Er setzt die indirekte Rede in den Indikativ, wie es das Russische tut, wodurch die Figuren unmittelbarer zu Wort kommen. Vor allem aber schuf der studierte Komponist für jede Person eine stilistisch ganz eigene Sprechpartie. Dafür löste er die Dialoge zunächst aus dem Lauftext, um sie schließlich wieder einzusetzen - wie fertig geschliffene Steine in die Fassung.

Bulgakow kannte den Herrn der Finsternis, der in "Meister und Margarita" das nicht mehr heilige Russland heimsucht, seit seiner Kindheit. Der Vater des Schriftstellers war Theologieprofessor, und beide Großväter waren Priester. Anhand des Hexenflugs der Heldin in einer Vollmondnacht im Mai lässt sich ausrechnen, dass der elegante Weltmann Woland, in dessen Haut der Böse geschlüpft ist, Moskau in der orthodoxen Karwoche besucht, am "krummen" Mittwoch vor Ostern. Mit wahrhaft diabolischem Vergnügen heizt der Leibhaftige durch rabiate Wunder der ohnehin paranoid sich selbst zerfleischenden russischen Gesellschaft ein und bringt das atheistische Establishment in akuten Erklärungsnotstand. Eingangs kündigt er in einem kleinen Erholungspark im Stadtzentrum einem hohen Literaturfunktionär einen grotesken Tod an, der den Mann auch unverzüglich ereilt. Dabei ist die Straßenbahn, die ihm den Kopf abschneidet, im realen Moskau hier nie gefahren.

Am abgeschafften Gründonnerstagabend lädt der durch alle Geheimdienstnetze schlüpfende "Ausländer" zur Magie-Séance im Varieté-Theater. Dessen Ansager wird der Kopf abgerissen und fein säuberlich wieder aufgesetzt. Das Nomenklaturapublikum greift begeistert nach den Geldscheinen und Nobelroben, die Wolands missgestaltete Assistenten, gleichsam als zeitgemäße Alternative zum Letzten Abendmahl, verteilen, und die sich nur - ein toller Spezialeffekt! - im Morgengrauen in Luft auflösen und so die bourgeoise Gier der bolschewistischen Elite hochnotpeinlich bloßlegen.

Der Termitenbau des NKWD-Hauptquartiers, das kafkaesk nur "die Behörde" genannt wird, rotiert und beliefert die Zwangspsychiatrie mit immer neuen Verrücktgewordenen. Dort wurde zuvor schon Bulgakows Hauptheld eingesperrt, ein gelehrter Meister ohne Namen, der nach einem Lottogewinn Literat geworden war und versucht hatte, dem historischen Tohuwabohu Sinn abzugewinnen. Sein unpublizierbarer Embryo der Passionsgeschichte Jesu ist in den Roman eingeschlossen wie die Fliege im Bernstein. Schon dessen episch ironiefreier Duktus, den Nitzberg manchmal hexametrisch auffasst, verrät die archäologische Tiefenschicht.

Geschildert wird die Aburteilung des guten Menschen von Nazareth, der hier nur ein naiver Freund aller ist und an eine bessere Welt glaubt, durch Pontius Pilatus - ohne christliche Deutung und Überhöhung. Die Namen klingen aramäisch und damit fremd. Vom Gefolge Jesu tritt nur Matthäus, der einzige Augenzeuge unter den Evangelisten, als wilder Streuner auf, der auch noch, wie sein Idol klagt, alles falsch notiert. Hinrichtungsspektakel erscheinen hier als geradezu notwendige Methode, die hysterisierten Menschenmassen zu managen. Tragisch wirkt eher, dass der Statthalter Pilatus den sympathischen Unschuldigen, mit dem er sich gern unterhalten hätte, töten lassen muss, weil die Priesterkaste es so will. Die politische Pflicht macht ihn zum einsamen Menschenverächter.

Diese Mär hat es der von keinem Überlebenskampf angefochtenen Heldin angetan, einer Maria-Magdalena-Figur mit dem russischen Gretchennamen Margarita. Sie ist die untreue Frau eines Nomenklatura-Wissenschaftlers, die die Haft ihres geliebten Meisters unwillentlich verschuldet hat, weil sie ihn drängte, sich um eine Publikation seines Manuskriptes zu bemühen. Aus Liebe zu ihm, aber auch aus Abenteuerlust schließt sie den Teufelspakt.

Dafür darf sie als unsichtbare Hexe eine Stunde lang den Moloch Moskau fliegend erkunden und sich als seine Herrin fühlen. Wobei sie an der Wohnung des Kritikers, der ihren Meister geschmäht hat, mit bacchantischem Furor Rache übt. Durch Teufelszauber verjüngt und im Blutbad getauft, lockt sie in der Karfreitagsnacht zu den Klängen eines frivolen "Halleluja"-Foxtrots Sünderseelen aus dem Jenseits, was sie selbst in eine Wiedergängerin von Margarete von Valois verwandelt, der promisken französischen Königin, deren Hochzeitsfest mit der Bartholomäusnacht endete.

Der Meister und Margarita werden nur Stunden nach seiner Befreiung am Samstag vor Ostern in der Souterrainwohnung des Meisters umgebracht. Ihre Seelen verlassen die Stadt im Gefolge des Teufels. In die Abschiedsszene hat Alexander Nitzberg jene drei kurzen Absätze wieder eingefügt, die Bulgakows Freunde schockiert haben sollen und die von seiner Witwe gestrichen wurden. Während die Bündnispartner in der Abendsonne von der Anhöhe der Sperlingsberge aus einen letzten Blick zurück werfen, fliegt ein Flugzeug über Moskau hinweg. Wolands Assistent Fagott will es aus Spaß wegpusten. Doch der Chef, der, wie Bulgakows Widmung mit Goethe betont, stets das Böse will und stets das Gute schafft, verbietet ihm das. Der Pilot, der sich, höchst symbolisch, auf etwa gleicher Höhe mit ihm bewegte, habe Mut, urteilt Woland, und er mache seine Sache völlig richtig. Bulgakows Zeitgenossen war klar, dass mit dem Bild vom einsamen Flieger über Moskau nur Stalin gemeint sein konnte.

Der Roman ist in Russland heute wieder heiß umstritten. In spätsowjetischer Zeit hatte er viele junge Leser der Kirche zugeführt, in den neunziger Jahren brachte er auch viele zum Satanismus. Orthodoxe Missionare warnen jetzt davor, den "Meister und Margarita" als Schulstoff früher als in der Oberstufe durchzunehmen. Der gelehrte Mönch Dmitri Perschin hielt in der Staatliche Universität Moskau unlängst eine Vorlesung, in der er erklärte, wie lange schon Schriftsteller in Jesus Christus ein moralisches Vorbild, aber nicht Gottes Sohn sehen wollten, angefangen von David Friedrich Strauß über Ernest Renan bis hin zu Leo Tolstoi. Bei Bulgakow sei dafür aber der Teufel echt, so Vater Dmitri. Deswegen müsse er auch Moskau vor Ostern verlassen mitsamt seinen erbeuteten Seelen.

Der Moskauer Theologe Andrej Kurajew wies in einem Vortrag vor Studenten darauf hin, wie unfaustisch willensschwach, ja schöpferisch impotent die Figur des Meisters sei, der sein Werk verbrennt und nichts mehr schreiben will. Und dass Margarita durch ihre Hexerei vor allem erreiche, dass beide bis zum Jüngsten Gericht in eine idyllische Datscha-Zweisamkeit gepfercht werden. Kommentare von diesem Kaliber hätten den Text dem Leser sicher besser aufschließen können als das begeisterte, aber etwas ratlose Nachwort von Felicitas Hoppe in der neuen deutschen Übersetzung.

Michail Bulgakow: "Meister und Margarita". Roman.

Herausgegeben und aus dem Russischen übersetzt von Alexander Nitzberg. Galiani Verlag, Berlin 2012. 608 S., geb., 29,99 [Euro].

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