Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.03.1997Amputierte Aufklärung
Aus vielen Rollenmodellen setzt sich der moderne Mensch zusammen
Das Bild, das man in deutschsprachigen Landen von der Aufklärung zeichnet, ist philosophielastig. Die kleine Schrift, mit der Immanuel Kant 1783 eine kluge Antwort auf die Frage "Was ist Aufklärung?" gelang, bietet ein Denkmodell an, das spätere Generationen in ihrer Erschließung des Aufklärungsgedankens wieder und wieder beherzigt haben - womöglich deshalb, weil es weniger eine konfliktreiche Epoche als deren idealisiertes Vermächtnis anzueignen und bildungsbürgerlich zu bewahren erlaubt. Mit Kants Schlüssel, so unverzichtbar er im übrigen auch sein mag, läßt sich die Aufklärung jedoch bloß partiell dekodieren. Will man nämlich über die Antagonismen, Ambivalenzen und Ungereimtheiten jener Epoche etwas erfahren, ist man gut beraten, nicht dem Philosophen aus dem fernen Königsberg zu lauschen, sondern die Archive seiner Zeit zu entstauben, zu sichten und quellenkritisch zu bearbeiten.
Geht man so vor, lauert die Gefahr, daß das, was einem in den Archiven einiger Städte unter die Augen gerät, prototypisch fürs Ganze gehalten wird. Doch die neapolitanische Aufklärungsszene war, wie Äußerungen von Zeitzeugen beredt kundtun, etwas anderes als die in Paris, und die wiederum unterschied sich essentiell von derjenigen in Sankt Petersburg, Edinburgh, Göttingen und Lissabon. Deshalb ist die von Michel Vovelle herausgegebene und eingeleitete Sammlung von Aufsätzen, die zwischen der philosophischen Intellektualisierung und dem historischen Rohmaterial der Aufklärung vermitteln, sehr willkommen - ganz abgesehen davon, daß damit auch das Bedürfnis nach narrativer Anschauung gestillt wird.
Der "Mensch der Aufklärung" ist, editorisch gesprochen, eine italo-gallische Gemeinschaftsproduktion. Die Originalausgabe erschien 1992 in Rom, das französische Pendant 1996 in Paris. Das stilisierte Porträt, das darin vom Menschen der Aufklärung angeboten wird, ist seinerseits eine Gemeinschaftsproduktion. Mit Ausnahme der Einleitung bringt jeder Beitrag ein sozialhistorisch auffälliges Gesicht jenes artifiziellen Gattungswesens zur Darstellung: Pierre Serna nimmt sich des Adeligen an, Louis Bergeron holt den Geschäftsmann unter das Binokular, Roger Chartier den Gelehrten, Vincent Ferron den Wissenschaftler und Daniel Arasse den Künstler, während Carlo Capra sich mit dem Beamten und Dominique Julia mit dem Priester befaßt. Und erst mit dem letzten, von Dominique Godineau stammenden Beitrag über die Frau der Aufklärung werden an dem bunten Rollenkaleidoskop immerhin auch einige weibliche Eigenschaften entdeckt.
Die deutsche Ausgabe hat diesen synthetischen Menschen des 18. Jahrhunderts, der kapitelweise mit Statistiken, inhaltsanalytischen Auswertungen von Selbstdarstellungen, technikgeschichtlichen und anderen Hilfsmitteln der Sozialgeschichte vermessen wird, allerdings amputiert. "Im Einvernehmen mit dem Herausgeber", teilt der Verlag lakonisch mit, seien das Kapitel über den Soldaten, von Jean-Paul Bertaud verfaßt, und das über den Forschungsreisenden, aus der Feder Marie-Noëlle Bourgets stammend, "nicht aufgenommen" worden. Die Mitteilung ist keine Begründung und schon gar keine Rechtfertigung.
Bedauerlich ist diese Kürzung allemal. Nur ein Beispiel zur Veranschaulichung: Das seit Ludwig XV. schrittweise modernisierte Heer wurde 1791 in eine Armee der citoyens umgewandelt, in der sich wenigstens vorübergehend das verwirklichte, was Theoretiker jahrelang im Kopflabor als Blaupause einer besseren Zukunft entworfen hatten - eine Gesellschaft, in der nicht angestammte Privilegien, blaues Blut und Grundbesitz, sondern Tugenden, erworbene Fertigkeiten und Bürgersinn darüber bestimmen sollten, wer das Sagen hatte.
Indes, selbst die amputierte Fassung des "Menschen der Aufklärung" ist lesenswert: als die Anatomie einer Gattung auf der Suche nach sich selbst und als eine Morphologie sozialer Rollen. So fällt einem auf, daß sich die Tätigkeit der Schriftsteller, Gelehrten, Wissenschaftler und Beamten zunehmend professionalisierte. Allein die Zahl der freischaffenden Publizisten - darunter fallen Lexikographen, Redakteure von Journalen und Gazetten, Pamphletisten und so weiter - nahm im letzten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts im Vergleich zu der der nebenberuflich publizierenden Adeligen, Seelsorger, Professoren, Beamten und Richter überproportional zu.
Die expandierende Leserschaft hatte für Publizisten einen Markt geschaffen, der diese allerdings aus ökonomischen Gründen oft zu Kompromissen mit autoritären Verlegern oder zu allerlei Abkupferei zwang. In diesem Licht dürfte die publizistische Libertinage des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts dann nicht nur als Ausdruck plötzlich rebellisch gewordener Hirne erscheinen, sondern auch als Produkt eines Verlagswesens, das unter dem Anreiz der Gewinnmaximierung neue Ausdrucksformen erfunden hat.
ALEXANDRE MÉTRAUX
Michel Vovelle (Hrsg.): "Der Mensch der Aufklärung". Aus dem Französischen von Bodo Schulze und Rolf Schubert. Aus dem Italienischen von Andreas Simon. Campus Verlag, Frankfurt am Main, New York 1996. 381 S., geb., 58,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Aus vielen Rollenmodellen setzt sich der moderne Mensch zusammen
Das Bild, das man in deutschsprachigen Landen von der Aufklärung zeichnet, ist philosophielastig. Die kleine Schrift, mit der Immanuel Kant 1783 eine kluge Antwort auf die Frage "Was ist Aufklärung?" gelang, bietet ein Denkmodell an, das spätere Generationen in ihrer Erschließung des Aufklärungsgedankens wieder und wieder beherzigt haben - womöglich deshalb, weil es weniger eine konfliktreiche Epoche als deren idealisiertes Vermächtnis anzueignen und bildungsbürgerlich zu bewahren erlaubt. Mit Kants Schlüssel, so unverzichtbar er im übrigen auch sein mag, läßt sich die Aufklärung jedoch bloß partiell dekodieren. Will man nämlich über die Antagonismen, Ambivalenzen und Ungereimtheiten jener Epoche etwas erfahren, ist man gut beraten, nicht dem Philosophen aus dem fernen Königsberg zu lauschen, sondern die Archive seiner Zeit zu entstauben, zu sichten und quellenkritisch zu bearbeiten.
Geht man so vor, lauert die Gefahr, daß das, was einem in den Archiven einiger Städte unter die Augen gerät, prototypisch fürs Ganze gehalten wird. Doch die neapolitanische Aufklärungsszene war, wie Äußerungen von Zeitzeugen beredt kundtun, etwas anderes als die in Paris, und die wiederum unterschied sich essentiell von derjenigen in Sankt Petersburg, Edinburgh, Göttingen und Lissabon. Deshalb ist die von Michel Vovelle herausgegebene und eingeleitete Sammlung von Aufsätzen, die zwischen der philosophischen Intellektualisierung und dem historischen Rohmaterial der Aufklärung vermitteln, sehr willkommen - ganz abgesehen davon, daß damit auch das Bedürfnis nach narrativer Anschauung gestillt wird.
Der "Mensch der Aufklärung" ist, editorisch gesprochen, eine italo-gallische Gemeinschaftsproduktion. Die Originalausgabe erschien 1992 in Rom, das französische Pendant 1996 in Paris. Das stilisierte Porträt, das darin vom Menschen der Aufklärung angeboten wird, ist seinerseits eine Gemeinschaftsproduktion. Mit Ausnahme der Einleitung bringt jeder Beitrag ein sozialhistorisch auffälliges Gesicht jenes artifiziellen Gattungswesens zur Darstellung: Pierre Serna nimmt sich des Adeligen an, Louis Bergeron holt den Geschäftsmann unter das Binokular, Roger Chartier den Gelehrten, Vincent Ferron den Wissenschaftler und Daniel Arasse den Künstler, während Carlo Capra sich mit dem Beamten und Dominique Julia mit dem Priester befaßt. Und erst mit dem letzten, von Dominique Godineau stammenden Beitrag über die Frau der Aufklärung werden an dem bunten Rollenkaleidoskop immerhin auch einige weibliche Eigenschaften entdeckt.
Die deutsche Ausgabe hat diesen synthetischen Menschen des 18. Jahrhunderts, der kapitelweise mit Statistiken, inhaltsanalytischen Auswertungen von Selbstdarstellungen, technikgeschichtlichen und anderen Hilfsmitteln der Sozialgeschichte vermessen wird, allerdings amputiert. "Im Einvernehmen mit dem Herausgeber", teilt der Verlag lakonisch mit, seien das Kapitel über den Soldaten, von Jean-Paul Bertaud verfaßt, und das über den Forschungsreisenden, aus der Feder Marie-Noëlle Bourgets stammend, "nicht aufgenommen" worden. Die Mitteilung ist keine Begründung und schon gar keine Rechtfertigung.
Bedauerlich ist diese Kürzung allemal. Nur ein Beispiel zur Veranschaulichung: Das seit Ludwig XV. schrittweise modernisierte Heer wurde 1791 in eine Armee der citoyens umgewandelt, in der sich wenigstens vorübergehend das verwirklichte, was Theoretiker jahrelang im Kopflabor als Blaupause einer besseren Zukunft entworfen hatten - eine Gesellschaft, in der nicht angestammte Privilegien, blaues Blut und Grundbesitz, sondern Tugenden, erworbene Fertigkeiten und Bürgersinn darüber bestimmen sollten, wer das Sagen hatte.
Indes, selbst die amputierte Fassung des "Menschen der Aufklärung" ist lesenswert: als die Anatomie einer Gattung auf der Suche nach sich selbst und als eine Morphologie sozialer Rollen. So fällt einem auf, daß sich die Tätigkeit der Schriftsteller, Gelehrten, Wissenschaftler und Beamten zunehmend professionalisierte. Allein die Zahl der freischaffenden Publizisten - darunter fallen Lexikographen, Redakteure von Journalen und Gazetten, Pamphletisten und so weiter - nahm im letzten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts im Vergleich zu der der nebenberuflich publizierenden Adeligen, Seelsorger, Professoren, Beamten und Richter überproportional zu.
Die expandierende Leserschaft hatte für Publizisten einen Markt geschaffen, der diese allerdings aus ökonomischen Gründen oft zu Kompromissen mit autoritären Verlegern oder zu allerlei Abkupferei zwang. In diesem Licht dürfte die publizistische Libertinage des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts dann nicht nur als Ausdruck plötzlich rebellisch gewordener Hirne erscheinen, sondern auch als Produkt eines Verlagswesens, das unter dem Anreiz der Gewinnmaximierung neue Ausdrucksformen erfunden hat.
ALEXANDRE MÉTRAUX
Michel Vovelle (Hrsg.): "Der Mensch der Aufklärung". Aus dem Französischen von Bodo Schulze und Rolf Schubert. Aus dem Italienischen von Andreas Simon. Campus Verlag, Frankfurt am Main, New York 1996. 381 S., geb., 58,- DM.
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