6-Gänge-Menü durch die Geschichte: Nahrungsmittel haben einen großen Einfluss auf uns - mehr, als wir uns bisher vorstellen konnten. Mais, Kartoffeln oder Gewürze stillten über Jahrhunderte nicht nur den Hunger, sondern waren Wegbereiter für gesellschaftliche Umwälzungen und wirtschaftlichen Fortschritt. Tom Standage belegt mit seiner Reise durch die Geschichte, dass deren Verlauf maßgeblich von unserem Essen bestimmt wurde.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Nur teilweise zufrieden ist Rezensent Thomas Weber mit Tom Standages Buch über die Bedeutung der Ernährung für die politische und soziale Entwicklung der Gesellschaften. Zwar lobt er den Autor dafür, dieses von der Geschichtsschreibung vernachlässigte Thema anzugehen. So attestiert er dem Autor auch, den politischen und sozialen Einfluss der Nahrungsmittelproduktion auf die Geschichte der Menschheit zu verdeutlichen. Aber der erste Eindruck eines durchaus erhellenden und der Komplexität des Themas gerecht werdenden Buchs täuscht nach Ansicht Webers. Er hält dem Autor insbesondere vor, wichtige Aspekte einer Weltgeschichte des Essens zu ignorieren. Ihm fehlt beispielsweise ein Kapitel über die Rolle von Kolonialismus und Imperialismus. Er moniert zudem die Konzentration auf den Westen und er vermisst nicht zuletzt eine globale Perspektive auf das Thema. Zudem scheint ihm Standages Sicht von Essen und seiner Produktion als Motor des Fortschritts zu einseitig.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.09.2010Für eine Weltgeschichte des Essens fehlen ein paar Menügänge
In zwölf Tischsitzungen berichtet Tom Standage, wie Nahrungsmittel im Verlauf der Zivilisation Motoren politischer und sozialer Veränderungen waren und sind.
Die historische Anthropologie mit ihrer Vorstellung vom Menschen als einem bedingenden und bedingten Wesen vermeidet die Illusion einer ausschließlich von sozialen, politischen oder kulturellen Einflüssen gesteuerten Geschichte. So bestimmten bis noch vor wenigen Jahrhunderten vor allem demographische Prozesse - die wiederum vom Nahrungsangebot und von Erkrankungen beeinflusst wurden - die wirtschaftliche Dynamik und die Handlungsoptionen von Gemeinschaften. Die Wechselwirkungen des Menschen mit der Umwelt, die materiellen Grundlagen des Lebens oder Krankheiten sind in Anerkennung dieser Gegebenheiten zu konstitutiven Elementen der Geschichtsschreibung der "longue durée" geworden.
Die Geschichte der Landwirtschaft, der Nahrungsmittelproduktion oder von Pflanzen- und Tierzüchtung ist jedoch nie in das Zentrum dieser Form der Historiographie gerückt und wird häufig als reine Bedingung politischen und kulturellen Handelns betrachtet. In diese Lücke springt nun Tom Standage, Redakteur beim britischen "Economist". In zwölf Vignetten erzählt der Autor, wie Nahrungsmittel im Verlauf der Menschheitsgeschichte Motoren politischer und sozialer Veränderungen waren und weiterhin sind.
Die Domestikation von Pflanzen und Tieren, die Entstehung sesshafter Agrargesellschaften und von Städten, die Suche nach exotischen Gewürzen oder der weltweite Austausch von Nahrungsmitteln wie von Mais, Kartoffeln, Maniok oder Zuckerrohr ermöglichten epochalen Wandel, indem sie Grundlagen für neue wirtschaftliche, politische und religiöse Strukturen schufen. Die weltumspannenden Handelsrouten für Gewürze fungierten beispielsweise auch als Kommunikationsnetze, die den Austausch von Kulturen und Religionen ermöglichten, und die Industrialisierung Großbritanniens wäre laut Standage ohne den Kartoffelanbau unmöglich gewesen. Eine zentrale Botschaft von Standage ist, dass die Welt durch menschliche Praxis dermaßen humanisiert ist, dass die Hoffnung auf eine Rückkehr zu einer wie auch immer bestimmten natürlichen Lebensweise eine Illusion bleiben muss.
Tom Standage hat ein auf den ersten Blick interessantes, ausgewogenes und unterhaltsames, wenn auch wenig originelles Buch vorgelegt, das versucht der Komplexität seines Themas gerecht zu werden. Dieser Eindruck ist jedoch trügerisch. Die Probleme von Standages Darstellung liegen in dem, was ausgelassen wird und in einem ideologischen Ballast, der sich wirkungsvoll in der Erzählung zu verbergen weiß. Das offenkundigste Versäumnis ist die Vernachlässigung der Rolle von Kolonialismus und Imperialismus, wie sie beispielsweise Mike Davis in seinem verstörenden und erschütternden Buch "Late Victorian Holocausts" dargestellt hat.
Im späten neunzehnten Jahrhundert musste etwa Indien seine von den britischen Kolonialherren erzwungene Integration in die Weltwirtschaft mit dem Hungertod von bis zu dreißig Millionen Menschen bezahlen. Standage widmet ein Kapitel Hungersnöten, aber eine eingehende Erwähnung finden nur die Katastrophen in der Sowjetunion und im kommunistischen China - so, als sei das liberal-kapitalistische System allein durch seine hohe Produktivität und Innovationskraft weitgehend gefeit gegen dieses Problem.
Moderne Demokratien mögen zwar Hungersnöte katastrophalen Ausmaßes vermeiden können, aber das Beispiel Indien zeigt, dass chronische Unterernährung - und Kindersterblichkeit und Analphabetismus - durchaus in Demokratien vorkommen können. Ernährungssicherung wird durch eine Vielzahl von Einflüssen bestimmt - auch von Eigentumsrechten, Bodenreform, Marktzugang oder der Verfügbarkeit von Krediten. Insbesondere die Konzentration von Patenten und anderen intellektuellen Eigentumsrechten in den Händen von einigen wenigen global agierenden Agrobiotechnologiekonzernen gefährdet zunehmend die Möglichkeit einer zweiten "Grünen Revolution", da die meisten Landwirte sich die neuen Technologien nicht leisten können oder sie für ihre Zwecke völlig ungeeignet sind. Tom Standage schreibt eine Geschichte, die das Essen und seine Produktion als einen Motor des Fortschritts fungieren sieht, und er spürt dabei nahezu ausschließlich seine These stützende Beweise auf. Unliebsame Komplikationen, die den teleologischen Vorwärtsdrang der Erzählung stören, werden nicht oder nur beiläufig und pflichtschuldig abgehandelt.
Darüber hinaus entwirft Standage eine Geschichte, die fast ausschließlich im Westen oder unter westlicher Steuerung in Kolonien stattfindet. So ist dem Autor die Kultur und Technologie des Reisanbaus in Ost- und Südostasien kein eigenes Kapitel wert. Wie auch im globalen Regime der geistigen Eigentumsrechte ist in Standages Version der Geschichte der Beitrag nichtwestlicher Gesellschaften vor allem die Bereitstellung der Ressourcen für die Erfindungsgabe westlicher "Macher". Standage zeigt bedauerlicherweise nur in Ansätzen, wie eine überfällige Weltgeschichte des Essens und der Nahrungsproduktion aussehen könnte. Mehr historische Kontingenz und eine wirklich globale Perspektive sind zwei unentbehrliche Zutaten, mit der eine solche Geschichte zubereitet werden muss.
THOMAS WEBER
Tom Standage: "Der Mensch ist, was er isst." Wie unser Essen die Welt veränderte. Aus dem Englischen von Michael Schmidt. Artemis & Winkler Verlag, Mannheim 2010. 282 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In zwölf Tischsitzungen berichtet Tom Standage, wie Nahrungsmittel im Verlauf der Zivilisation Motoren politischer und sozialer Veränderungen waren und sind.
Die historische Anthropologie mit ihrer Vorstellung vom Menschen als einem bedingenden und bedingten Wesen vermeidet die Illusion einer ausschließlich von sozialen, politischen oder kulturellen Einflüssen gesteuerten Geschichte. So bestimmten bis noch vor wenigen Jahrhunderten vor allem demographische Prozesse - die wiederum vom Nahrungsangebot und von Erkrankungen beeinflusst wurden - die wirtschaftliche Dynamik und die Handlungsoptionen von Gemeinschaften. Die Wechselwirkungen des Menschen mit der Umwelt, die materiellen Grundlagen des Lebens oder Krankheiten sind in Anerkennung dieser Gegebenheiten zu konstitutiven Elementen der Geschichtsschreibung der "longue durée" geworden.
Die Geschichte der Landwirtschaft, der Nahrungsmittelproduktion oder von Pflanzen- und Tierzüchtung ist jedoch nie in das Zentrum dieser Form der Historiographie gerückt und wird häufig als reine Bedingung politischen und kulturellen Handelns betrachtet. In diese Lücke springt nun Tom Standage, Redakteur beim britischen "Economist". In zwölf Vignetten erzählt der Autor, wie Nahrungsmittel im Verlauf der Menschheitsgeschichte Motoren politischer und sozialer Veränderungen waren und weiterhin sind.
Die Domestikation von Pflanzen und Tieren, die Entstehung sesshafter Agrargesellschaften und von Städten, die Suche nach exotischen Gewürzen oder der weltweite Austausch von Nahrungsmitteln wie von Mais, Kartoffeln, Maniok oder Zuckerrohr ermöglichten epochalen Wandel, indem sie Grundlagen für neue wirtschaftliche, politische und religiöse Strukturen schufen. Die weltumspannenden Handelsrouten für Gewürze fungierten beispielsweise auch als Kommunikationsnetze, die den Austausch von Kulturen und Religionen ermöglichten, und die Industrialisierung Großbritanniens wäre laut Standage ohne den Kartoffelanbau unmöglich gewesen. Eine zentrale Botschaft von Standage ist, dass die Welt durch menschliche Praxis dermaßen humanisiert ist, dass die Hoffnung auf eine Rückkehr zu einer wie auch immer bestimmten natürlichen Lebensweise eine Illusion bleiben muss.
Tom Standage hat ein auf den ersten Blick interessantes, ausgewogenes und unterhaltsames, wenn auch wenig originelles Buch vorgelegt, das versucht der Komplexität seines Themas gerecht zu werden. Dieser Eindruck ist jedoch trügerisch. Die Probleme von Standages Darstellung liegen in dem, was ausgelassen wird und in einem ideologischen Ballast, der sich wirkungsvoll in der Erzählung zu verbergen weiß. Das offenkundigste Versäumnis ist die Vernachlässigung der Rolle von Kolonialismus und Imperialismus, wie sie beispielsweise Mike Davis in seinem verstörenden und erschütternden Buch "Late Victorian Holocausts" dargestellt hat.
Im späten neunzehnten Jahrhundert musste etwa Indien seine von den britischen Kolonialherren erzwungene Integration in die Weltwirtschaft mit dem Hungertod von bis zu dreißig Millionen Menschen bezahlen. Standage widmet ein Kapitel Hungersnöten, aber eine eingehende Erwähnung finden nur die Katastrophen in der Sowjetunion und im kommunistischen China - so, als sei das liberal-kapitalistische System allein durch seine hohe Produktivität und Innovationskraft weitgehend gefeit gegen dieses Problem.
Moderne Demokratien mögen zwar Hungersnöte katastrophalen Ausmaßes vermeiden können, aber das Beispiel Indien zeigt, dass chronische Unterernährung - und Kindersterblichkeit und Analphabetismus - durchaus in Demokratien vorkommen können. Ernährungssicherung wird durch eine Vielzahl von Einflüssen bestimmt - auch von Eigentumsrechten, Bodenreform, Marktzugang oder der Verfügbarkeit von Krediten. Insbesondere die Konzentration von Patenten und anderen intellektuellen Eigentumsrechten in den Händen von einigen wenigen global agierenden Agrobiotechnologiekonzernen gefährdet zunehmend die Möglichkeit einer zweiten "Grünen Revolution", da die meisten Landwirte sich die neuen Technologien nicht leisten können oder sie für ihre Zwecke völlig ungeeignet sind. Tom Standage schreibt eine Geschichte, die das Essen und seine Produktion als einen Motor des Fortschritts fungieren sieht, und er spürt dabei nahezu ausschließlich seine These stützende Beweise auf. Unliebsame Komplikationen, die den teleologischen Vorwärtsdrang der Erzählung stören, werden nicht oder nur beiläufig und pflichtschuldig abgehandelt.
Darüber hinaus entwirft Standage eine Geschichte, die fast ausschließlich im Westen oder unter westlicher Steuerung in Kolonien stattfindet. So ist dem Autor die Kultur und Technologie des Reisanbaus in Ost- und Südostasien kein eigenes Kapitel wert. Wie auch im globalen Regime der geistigen Eigentumsrechte ist in Standages Version der Geschichte der Beitrag nichtwestlicher Gesellschaften vor allem die Bereitstellung der Ressourcen für die Erfindungsgabe westlicher "Macher". Standage zeigt bedauerlicherweise nur in Ansätzen, wie eine überfällige Weltgeschichte des Essens und der Nahrungsproduktion aussehen könnte. Mehr historische Kontingenz und eine wirklich globale Perspektive sind zwei unentbehrliche Zutaten, mit der eine solche Geschichte zubereitet werden muss.
THOMAS WEBER
Tom Standage: "Der Mensch ist, was er isst." Wie unser Essen die Welt veränderte. Aus dem Englischen von Michael Schmidt. Artemis & Winkler Verlag, Mannheim 2010. 282 S., geb., 19,90 [Euro].
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