Remi wächst als Sohn eines Bauern in der flämischen Westhoek auf, inmitten von wortkargen Menschen und Legenden über den Ersten Weltkrieg, der das Land in den großen Flandernschlachten verwüstet und dessen Menschen geprägt hat. Sein Onkel erzählt ihm immer wieder von einem schwarzen Soldaten aus dem Kongo und Remi übernimmt diese Faszination für das Fremde und den Glauben an die Kraft von Geschichten. Aus Wissensdurst und um dem Leben auf dem Bauernhof zu entkommen, tritt er in ein Kloster ein. Die Jesuiten entsenden den jungen Mann in den Kongo, wo er allerdings nicht missioniert, sondern selbst die Mythen der Bevölkerung erforscht und zum Lernenden wird. Auch lebt er beim Stamm des ehemaligen Soldaten, der in der Westhoek gefallen ist, wird im gewissen Sinne als dessen Wiedergänger bei den Yaka aufgenommen. Remi verlässt danach die Jesuiten, kehrt nach Belgien zurück und wird Ethnologe, später Psychoanalytiker.Erzählt wird von Remi selbst und aus der Perspektive eines seiner früheren Studenten, der in den Kongo reisen möchte, um eine ethnologische Arbeit fertig zu schreiben. "Der Menschenheiler" ist ein Roman über die Sehnsucht nach Erkenntnis und Verständnis, zu denen man durch den Kontakt mit der anderen Kultur, den eigenen Träumen und verschütteten Mythen gelangen kann.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Katharina Teutsch scheint fasziniert von diesem Roman des belgischen Anthropologen Koen Peeters, den dieser anhand der Lebensgeschichte seines Kollegen Renaat Devisch verfasst hat, wie Teutsch erklärt. Im Text geht es aber um mehr, meint Teutsch, nämlich um das Nachleben der Dinge, um in Landschaften eingeschriebene Geschichte in Westflandern und um "Fremdheitserfahrungen" im Kongo. Die Figur im Roman macht diese Erfahrungen direkt selbst oder vermittelt durch ethnografische Missionarsberichte. Gefesselt ist Teutsch trotz eines eher "protokollarischen" Stils von der Entwicklung der Figur vom Jesuiten zum Buschheiler.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.07.2021Remi im Kongo
Vorwärtstasten statt kolonialisieren: Koen Peeters erzählt von Erfahrungen jenseits westlicher Erwartungen
"Was ist das eigentlich, ein Daimon? Wie nennt man diese Kraft, die jemanden ruhelos umhertreibt, aus der Bahn wirft, über Generationen, Kontinente und sogar Zivilisationen hinweg?" Das fragt eine der beiden Erzählerstimmen im neuen Roman des belgischen Anthropologen Koen Peeters. "Der Menschenheiler" heißt sein Buch. Und es beginnt mit einer Operation, die sich als Signatur ins Gewebe der Landschaft Westflanderns eingeschrieben hat. Der Erste Weltkrieg hat die Küstenregion verwüstet: "Diese Kulturlandschaft aus Pappeln, Kanälen und Poldern, Wasserwegen und Schleusen hatte sich in ein Netz aus Schützengräben und Verschanzungen verwandelt, aus Holz und Sandsäcken." Eine halbe Million Menschen sind dem Stellungskrieg in der Westhoek zum Opfer gefallen.
"Wenn wir Bauern das Land bearbeiten, nimmt der Geist von uns Besitz. Er ist ein unsichtbarer Riese, der uns aussaugt. Wenn wir schwitzen, stinkt unser Schweiß nach ihm." Onkel Marcel, ein feinsehniger Mann mit einem erstaunlichen Gespür für die Tiere und Pflanzen und für den im Boden versiegelten Schmerz vergangener Generationen, sagt das zu seinem Neffen Remi, den er regelmäßig zu den Soldatenfriedhöfen mitnimmt. Für Remi wird Onkel Marcel mit dessen Vorliebe für das atmosphärische Nachleben der Dinge zur ersten Leitfigur eines an Leitfiguren nicht armen Lebens.
Ein Teil des Romans wird aus der Perspektive des jungen Remi erzählt, der für ein Leben auf dem Hof seiner Eltern bestimmt ist. Er wiederum erinnert sich an seine Kindheit und Jugend als emeritierter Anthropologe. Und zwar in langen Interviews, die er mit einem Studenten führt. Der andere Teil des Romans handelt von den Bemühungen dieses Studenten, den Lebensweg des Professors zu rekonstruieren und dessen Reise zu den Daimones einer anderen, fernen Kultur nachzustellen.
Onkel Marcel hatte seinem Neffen von einem Soldaten aus dem Kongo erzählt. Er diente der Kolonialmacht als Kanonenfutter gegen die Deutschen. Dieser Soldat, der Pius hieß oder Pius genannt wurde, hatte Onkel Marcel einst eine Art Zauberformel hinterlassen. Eine seltsame Kombination aus Vokalen und Konsonanten, die der Onkel nie vergessen hat und die im Roman für eine Sprache steht, die geradewegs ins Unbekannte führt. Und damit auch heraus aus allen Komfortzonen des Heimischen.
Im Alter von achtzehn Jahren tritt Remi in den Jesuitenorden ein, sucht dort die disziplinierenden Effekte der Exerzitien und die Schulung der kritischen Urteilskraft durch intensives Studium von Theologie und Philosophie. Zuvor hatte er eine einschneidende Erfahrung gemacht. Von seinen Eltern auf den Speicher geschickt, um dort Bohnen zu holen, war ihm mit aller Deutlichkeit eine Schrift erschienen. Sie ergab folgende Worte, die Remi als Auftrag interpretiert: "Die Menschen heilen!" Darum, Junge, heißt du Remi", hatte der Onkel ihm einmal gesagt. Ein Name, der sich vom lateinischen Wort "remedium", also Heilmittel, herleitet und Programm sein wird in Remis Leben. Aber um heilen zu können, muss man verstehen, wer man ist - davon ist Onkel Marcel überzeugt. "Wenn wir die Toten vergessen", hatte er seinen Neffen einmal ermahnt, "dann sterben wir an der Einsamkeit."
Die Begegnung mit einem charismatischen Novizenlehrer bringt Remi dazu, in eine Mission bei Kinshasa überzusiedeln. Derselbe Pater ist es, der Remi seine Daimon-Theorie nahebringt: Es handele sich dabei nicht um christliche "Dämonen", sondern um antike Daimones: geistige Bodyguards, wenn man so will. Der Jesuit ist einer davon.
Remi stößt auch auf ethnographische Aufzeichnungen verschiedener lebender und toter Abenteurer-Missionare, die sich in den kongolesischen Busch vorgewagt hatten. Dort wurden sie zum Teil mit den Kulten eines marginalisierten Stammes vertraut und machten Bekanntschaft mit bisher ungekannten Seiten der eigenen Persönlichkeit. Unter Jesuiten war das nicht gern gesehen, bestand doch stets die Gefahr, im Busch zu "vernegern", wie es noch zu Remis Zeiten, also in den Sechzigerjahren, hieß. Wer zu den Heilern und Hexern geht, das wissen auch die Jesuiten, für den ist die christliche Mission nur eine Wegmarke.
Obwohl dieses Buch im eher protokollarischen Stil einer Ethnographie von den Gegebenheiten aus dem Leben seiner Helden berichtet, ohne diese zusätzlich zu dramatisieren, bleibt man gefesselt. Wie nebenbei erfährt man eine Menge über ein Land, das sich zu Remis Zeit im politischen Prozess seiner Unabhängigkeit befindet. Mit Spannung empfindet man auch alle intellektuellen Häutungen des Helden nach, seine Zweifel, die kleinen Euphorien und Epiphanien des meistens im Nebel umherstochernden Sinnsuchenden. Und liest also mit Staunen, wie Remi die Jesuiten wieder verlässt, um schließlich bei den Heilern im Busch in die Ausbildung zu gehen.
Koen Peeters hat mit "Der Menschenheiler" einen tastenden Text geschrieben, der von extremen Fremdheitserfahrungen handelt, die zu Näheerfahrungen führen können. Gewidmet ist das Buch dem kürzlich verstorbenen Anthropologen Renaat Devisch, dessen Lebensgeschichte die Vorlage für Peeters' Roman war. Devisch arbeitete nach seiner Rückkehr aus dem Kongo als Psychoanalytiker. Denn das kam dem, was der spätere Professor bei den Heilern und ihrer ganz eigenen Art der Geistervertreibung gelernt hatte, am nächsten.
KATHARINA TEUTSCH
Koen Peeters: "Der Menschenheiler". Roman.
Osburg Verlag, Hamburg. 352 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vorwärtstasten statt kolonialisieren: Koen Peeters erzählt von Erfahrungen jenseits westlicher Erwartungen
"Was ist das eigentlich, ein Daimon? Wie nennt man diese Kraft, die jemanden ruhelos umhertreibt, aus der Bahn wirft, über Generationen, Kontinente und sogar Zivilisationen hinweg?" Das fragt eine der beiden Erzählerstimmen im neuen Roman des belgischen Anthropologen Koen Peeters. "Der Menschenheiler" heißt sein Buch. Und es beginnt mit einer Operation, die sich als Signatur ins Gewebe der Landschaft Westflanderns eingeschrieben hat. Der Erste Weltkrieg hat die Küstenregion verwüstet: "Diese Kulturlandschaft aus Pappeln, Kanälen und Poldern, Wasserwegen und Schleusen hatte sich in ein Netz aus Schützengräben und Verschanzungen verwandelt, aus Holz und Sandsäcken." Eine halbe Million Menschen sind dem Stellungskrieg in der Westhoek zum Opfer gefallen.
"Wenn wir Bauern das Land bearbeiten, nimmt der Geist von uns Besitz. Er ist ein unsichtbarer Riese, der uns aussaugt. Wenn wir schwitzen, stinkt unser Schweiß nach ihm." Onkel Marcel, ein feinsehniger Mann mit einem erstaunlichen Gespür für die Tiere und Pflanzen und für den im Boden versiegelten Schmerz vergangener Generationen, sagt das zu seinem Neffen Remi, den er regelmäßig zu den Soldatenfriedhöfen mitnimmt. Für Remi wird Onkel Marcel mit dessen Vorliebe für das atmosphärische Nachleben der Dinge zur ersten Leitfigur eines an Leitfiguren nicht armen Lebens.
Ein Teil des Romans wird aus der Perspektive des jungen Remi erzählt, der für ein Leben auf dem Hof seiner Eltern bestimmt ist. Er wiederum erinnert sich an seine Kindheit und Jugend als emeritierter Anthropologe. Und zwar in langen Interviews, die er mit einem Studenten führt. Der andere Teil des Romans handelt von den Bemühungen dieses Studenten, den Lebensweg des Professors zu rekonstruieren und dessen Reise zu den Daimones einer anderen, fernen Kultur nachzustellen.
Onkel Marcel hatte seinem Neffen von einem Soldaten aus dem Kongo erzählt. Er diente der Kolonialmacht als Kanonenfutter gegen die Deutschen. Dieser Soldat, der Pius hieß oder Pius genannt wurde, hatte Onkel Marcel einst eine Art Zauberformel hinterlassen. Eine seltsame Kombination aus Vokalen und Konsonanten, die der Onkel nie vergessen hat und die im Roman für eine Sprache steht, die geradewegs ins Unbekannte führt. Und damit auch heraus aus allen Komfortzonen des Heimischen.
Im Alter von achtzehn Jahren tritt Remi in den Jesuitenorden ein, sucht dort die disziplinierenden Effekte der Exerzitien und die Schulung der kritischen Urteilskraft durch intensives Studium von Theologie und Philosophie. Zuvor hatte er eine einschneidende Erfahrung gemacht. Von seinen Eltern auf den Speicher geschickt, um dort Bohnen zu holen, war ihm mit aller Deutlichkeit eine Schrift erschienen. Sie ergab folgende Worte, die Remi als Auftrag interpretiert: "Die Menschen heilen!" Darum, Junge, heißt du Remi", hatte der Onkel ihm einmal gesagt. Ein Name, der sich vom lateinischen Wort "remedium", also Heilmittel, herleitet und Programm sein wird in Remis Leben. Aber um heilen zu können, muss man verstehen, wer man ist - davon ist Onkel Marcel überzeugt. "Wenn wir die Toten vergessen", hatte er seinen Neffen einmal ermahnt, "dann sterben wir an der Einsamkeit."
Die Begegnung mit einem charismatischen Novizenlehrer bringt Remi dazu, in eine Mission bei Kinshasa überzusiedeln. Derselbe Pater ist es, der Remi seine Daimon-Theorie nahebringt: Es handele sich dabei nicht um christliche "Dämonen", sondern um antike Daimones: geistige Bodyguards, wenn man so will. Der Jesuit ist einer davon.
Remi stößt auch auf ethnographische Aufzeichnungen verschiedener lebender und toter Abenteurer-Missionare, die sich in den kongolesischen Busch vorgewagt hatten. Dort wurden sie zum Teil mit den Kulten eines marginalisierten Stammes vertraut und machten Bekanntschaft mit bisher ungekannten Seiten der eigenen Persönlichkeit. Unter Jesuiten war das nicht gern gesehen, bestand doch stets die Gefahr, im Busch zu "vernegern", wie es noch zu Remis Zeiten, also in den Sechzigerjahren, hieß. Wer zu den Heilern und Hexern geht, das wissen auch die Jesuiten, für den ist die christliche Mission nur eine Wegmarke.
Obwohl dieses Buch im eher protokollarischen Stil einer Ethnographie von den Gegebenheiten aus dem Leben seiner Helden berichtet, ohne diese zusätzlich zu dramatisieren, bleibt man gefesselt. Wie nebenbei erfährt man eine Menge über ein Land, das sich zu Remis Zeit im politischen Prozess seiner Unabhängigkeit befindet. Mit Spannung empfindet man auch alle intellektuellen Häutungen des Helden nach, seine Zweifel, die kleinen Euphorien und Epiphanien des meistens im Nebel umherstochernden Sinnsuchenden. Und liest also mit Staunen, wie Remi die Jesuiten wieder verlässt, um schließlich bei den Heilern im Busch in die Ausbildung zu gehen.
Koen Peeters hat mit "Der Menschenheiler" einen tastenden Text geschrieben, der von extremen Fremdheitserfahrungen handelt, die zu Näheerfahrungen führen können. Gewidmet ist das Buch dem kürzlich verstorbenen Anthropologen Renaat Devisch, dessen Lebensgeschichte die Vorlage für Peeters' Roman war. Devisch arbeitete nach seiner Rückkehr aus dem Kongo als Psychoanalytiker. Denn das kam dem, was der spätere Professor bei den Heilern und ihrer ganz eigenen Art der Geistervertreibung gelernt hatte, am nächsten.
KATHARINA TEUTSCH
Koen Peeters: "Der Menschenheiler". Roman.
Osburg Verlag, Hamburg. 352 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main