In einem Haus an der südlichsten Spitze Chiles, wo nichts ist als steinige Erde und Wind, wächst Paolo auf wie ein kleines Tier oder eine zähe Pflanze. Bis zu dem Tag, an dem Angel Alegria auftaucht, ein Mörder auf der Flucht. Ohne Zögern tötet er Paolos Eltern; er bringt es aber nicht übers Herz, Hand an den Jungen zu legen. Stattdessen beginnt er, sich um ihn zu kümmern. Als dann auch noch Luis auftaucht, der Paolo Lesen beibringt, kämpfen sogar zwei Männer um die Vaterrolle, und Paolo erfährt eine Art von Glück. Aber auch in dem kleinen Haus am Ende der Welt ist sind die drei nicht sicher vor ihrer eigenen Geschichte.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.05.2014Zweite Geburt
Ein Kind am Rande der
Zivilisation
Der Junge, um den es in Der Mörder weinte geht, lebt in der rauen Welt Südpatagoniens, irgendwann in den 70er Jahren, zu Zeiten der Pinochet-Diktatur. Doch das spielt nur am Rande eine Rolle. Paolo wächst dort in einer äußerst armseligen Hütte auf, weitab von menschlicher Zivilisation, in der Obhut von Eltern, die aus Unwissenheit und emotionaler Unfähigkeit ihrem fünfjährigen Sohn keine Liebe und Geborgenheit geben können. Mit dieser Situation werden die Leser konfrontiert und sie haben keine Chance, sich Illusionen über den Werdegang des Kindes zu machen. Bereits auf Seite sieben folgt der erste Schock. Der Fremde, der eines Tages an die Tür der Hütte klopft, ist ein gesuchter Räuber und Mörder. Er schneidet den beiden Eltern die Kehle durch, bringt es aber nicht übers Herz, den Kleinen zu töten, und fragt ihn stattdessen, ob er Suppe kochen könne. Das ist nicht der Beginn eines nervenaufreibenden Thrillers, sondern der Anfang einer sensiblen Geschichte der Annäherung zweier höchst unterschiedlicher Menschen – mit den von der Autorin empathisch ausgeloteten Tiefen und Untiefen einer im Grunde genommen unmöglichen Freundschaft. Sie spannt in der stilistisch exquisiten und schlichten Sprache eines auktorialen Erzählers (meisterlich übersetzt von Maja von Vogel) einen dramaturgischen Bogen über mehr als ein Dutzend Jahre. Zwischen dem Kind und dem ungebildeten und brutal wirkenden Angel entwickeln sich in einem Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeit zarte, stets gefährdete Bande der Zuneigung, Fürsorge und schließlich des Vertrauens. Paolos Gefühlswelt kommt am Anfang der Geschichte einer Tabula rasa gleich, Angels Gemüt ist ein einziger Trümmerhaufen aus Angst, Hass, Aggression und verlorener Hoffnung. Die Leser werden mit den Erschütterungen der Innen- und Außenwelt der Protagonisten konfrontiert und spüren kaum, dass sie sich in einem Erziehungsroman befinden, der mit der zweiten Geburt der beiden an jenem Mordabend beginnt.
Ein Jahr lang vegetieren der Mann und das Kind in der Einöde. Dann treten andere Menschen ins Leben der beiden und Angel kommt mit dem gebildeten und wohlhabenden Zivilisationsflüchtling Luis, der sich bei ihnen einnistet, nur sehr schwer zurecht. Als sie sich zusammen auf den Weg in die nächstgelegene Stadt machen, um Vieh zu kaufen, eröffnen sich für Paolo völlig neuen Welten, während für Angel die Perspektiven immer enger werden, obwohl er das erste Mal in seinem Leben so etwas wie Sinn spürt. Die Einsicht reift vor allem, als Angel und Paolo bei einem alten Holzfäller in den Wäldern Südpatagoniens Unterschlupf finden. Staunend stehen der Mann und das Kind vor ihrer ersten Begegnung mit Musik und Literatur. Doch dann kommt alles anders als erhofft.
Wie schon in Die Zeit der Wunder schafft Anne-Laure Bondoux auch in diesem Roman eine außergewöhnliche Nähe zu den Verkrustungen, ja Versteinerungen verletzter Seelenwelten. Sie scheut sich nicht davor, menschliche Abgründe auszuleuchten und im nächsten Moment Lichtblicke am Horizont zu entdecken, so schwach sie auch flimmern mögen. (ab 14 Jahre und Erwachsene).
SIGGI SEUSS
Anne-Laure Bondoux: Der Mörder weinte. Aus dem Französischen von Maja von Vogel. Carlsen 2014. 174 Seiten, 14,90 Euro.
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Ein Kind am Rande der
Zivilisation
Der Junge, um den es in Der Mörder weinte geht, lebt in der rauen Welt Südpatagoniens, irgendwann in den 70er Jahren, zu Zeiten der Pinochet-Diktatur. Doch das spielt nur am Rande eine Rolle. Paolo wächst dort in einer äußerst armseligen Hütte auf, weitab von menschlicher Zivilisation, in der Obhut von Eltern, die aus Unwissenheit und emotionaler Unfähigkeit ihrem fünfjährigen Sohn keine Liebe und Geborgenheit geben können. Mit dieser Situation werden die Leser konfrontiert und sie haben keine Chance, sich Illusionen über den Werdegang des Kindes zu machen. Bereits auf Seite sieben folgt der erste Schock. Der Fremde, der eines Tages an die Tür der Hütte klopft, ist ein gesuchter Räuber und Mörder. Er schneidet den beiden Eltern die Kehle durch, bringt es aber nicht übers Herz, den Kleinen zu töten, und fragt ihn stattdessen, ob er Suppe kochen könne. Das ist nicht der Beginn eines nervenaufreibenden Thrillers, sondern der Anfang einer sensiblen Geschichte der Annäherung zweier höchst unterschiedlicher Menschen – mit den von der Autorin empathisch ausgeloteten Tiefen und Untiefen einer im Grunde genommen unmöglichen Freundschaft. Sie spannt in der stilistisch exquisiten und schlichten Sprache eines auktorialen Erzählers (meisterlich übersetzt von Maja von Vogel) einen dramaturgischen Bogen über mehr als ein Dutzend Jahre. Zwischen dem Kind und dem ungebildeten und brutal wirkenden Angel entwickeln sich in einem Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeit zarte, stets gefährdete Bande der Zuneigung, Fürsorge und schließlich des Vertrauens. Paolos Gefühlswelt kommt am Anfang der Geschichte einer Tabula rasa gleich, Angels Gemüt ist ein einziger Trümmerhaufen aus Angst, Hass, Aggression und verlorener Hoffnung. Die Leser werden mit den Erschütterungen der Innen- und Außenwelt der Protagonisten konfrontiert und spüren kaum, dass sie sich in einem Erziehungsroman befinden, der mit der zweiten Geburt der beiden an jenem Mordabend beginnt.
Ein Jahr lang vegetieren der Mann und das Kind in der Einöde. Dann treten andere Menschen ins Leben der beiden und Angel kommt mit dem gebildeten und wohlhabenden Zivilisationsflüchtling Luis, der sich bei ihnen einnistet, nur sehr schwer zurecht. Als sie sich zusammen auf den Weg in die nächstgelegene Stadt machen, um Vieh zu kaufen, eröffnen sich für Paolo völlig neuen Welten, während für Angel die Perspektiven immer enger werden, obwohl er das erste Mal in seinem Leben so etwas wie Sinn spürt. Die Einsicht reift vor allem, als Angel und Paolo bei einem alten Holzfäller in den Wäldern Südpatagoniens Unterschlupf finden. Staunend stehen der Mann und das Kind vor ihrer ersten Begegnung mit Musik und Literatur. Doch dann kommt alles anders als erhofft.
Wie schon in Die Zeit der Wunder schafft Anne-Laure Bondoux auch in diesem Roman eine außergewöhnliche Nähe zu den Verkrustungen, ja Versteinerungen verletzter Seelenwelten. Sie scheut sich nicht davor, menschliche Abgründe auszuleuchten und im nächsten Moment Lichtblicke am Horizont zu entdecken, so schwach sie auch flimmern mögen. (ab 14 Jahre und Erwachsene).
SIGGI SEUSS
Anne-Laure Bondoux: Der Mörder weinte. Aus dem Französischen von Maja von Vogel. Carlsen 2014. 174 Seiten, 14,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
In "Der Mörder weinte" erzählt Anne-Laure Bondoux die Geschichte von dem jungen Paolo und Angel, dem Mörder seiner Eltern, der es nicht übers Herz brachte, das Kind zu töten, berichtet Siggi Seuß. In gewohnt schonungsloser Manier nimmt sich Bondoux der "Versteinerungen verletzter Seelenwelten" an, beschreibt, wie sich langsam eine zerbrechlichen Zuneigung zwischen den beiden unterschiedlichen Charakteren entwickelt, die immerzu vom Chaos ihrer Außen- und Innenwelten bedroht ist, fasst der Rezensent zusammen. In der Abgeschiedenheit einer alten Holzfällerhütte scheinen sie dann endlich zur Ruhe kommen zu dürfen - die ist ihnen allerdings nicht vergönnt, verrät Seuß.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Ein gelungenes, ein besonderes Werk.", jugendbuchtipps.de, Ulf Cronenberg, 18.05.2014 20151104 "Ein eher leises, aber sehr beeindruckendes und bewegendes Buch [...] Unbedingt lesenswert!", Gelnhäuser Neue Zeitung, 02.07.2016