"Russland ist eine Überraschung, die einem in den Händen explodiert."
Viktor Jerofejew
Ein Russe reist um die Welt: Kein Geringerer als Viktor Jerofejew, der als einer der größten Autoren seines Landes gilt, hat aufgeschrieben, was ihm bei seinen Reisen rund um den Globus begegnet ist: Etwa in Alaska, das Zar Alexander II. 1867 spottbillig an Amerika verscherbelt hat. Viktor Jerofejew reist durch dieses "russische Amerika" und erfährt über eine Eskimofrau, wie der Mond an den Himmel gekommen ist. Weitere Stationen sind Sankt Petersburg, die Côte d'Azur, Japan, Südafrika und die Krim. Wo auch immer er aus dem Flugzeug steigt: Viktor Jerofejews an den Widersprüchen und Brüchen seiner Heimat geschulter Blick erfasst messerscharf die Schönheit und den Wahnsinn unserer Welt.
",Wissen Sie, wie der Mond an den Himmel gekommen ist? Der Mond ist am Himmel erschienen, weil der Mann in der roten Rentierjacke ein gebrochenes Bein hatte.
Ich achte die Märchen der Eskimos. Aber meine Frau glaubt daran! Eine emanzipierte Eskimofrau, abends surft sie im Internet, sie hat mich - einen weißen amerikanischen Geschäftsmann, wir haben drei Kinder, die an nichts glauben, außer an ihre Spielzeuge, und sie glaubt, dass ein Mann in einer roten Rentierjacke mit gebrochenem Bein zum Himmel aufgeflogen ist ...'
,Und einen Kochtopf mitgenommen hat', setzte Bernie leise hinzu."
Viktor Jerofejew
Ein Russe reist um die Welt: Kein Geringerer als Viktor Jerofejew, der als einer der größten Autoren seines Landes gilt, hat aufgeschrieben, was ihm bei seinen Reisen rund um den Globus begegnet ist: Etwa in Alaska, das Zar Alexander II. 1867 spottbillig an Amerika verscherbelt hat. Viktor Jerofejew reist durch dieses "russische Amerika" und erfährt über eine Eskimofrau, wie der Mond an den Himmel gekommen ist. Weitere Stationen sind Sankt Petersburg, die Côte d'Azur, Japan, Südafrika und die Krim. Wo auch immer er aus dem Flugzeug steigt: Viktor Jerofejews an den Widersprüchen und Brüchen seiner Heimat geschulter Blick erfasst messerscharf die Schönheit und den Wahnsinn unserer Welt.
",Wissen Sie, wie der Mond an den Himmel gekommen ist? Der Mond ist am Himmel erschienen, weil der Mann in der roten Rentierjacke ein gebrochenes Bein hatte.
Ich achte die Märchen der Eskimos. Aber meine Frau glaubt daran! Eine emanzipierte Eskimofrau, abends surft sie im Internet, sie hat mich - einen weißen amerikanischen Geschäftsmann, wir haben drei Kinder, die an nichts glauben, außer an ihre Spielzeuge, und sie glaubt, dass ein Mann in einer roten Rentierjacke mit gebrochenem Bein zum Himmel aufgeflogen ist ...'
,Und einen Kochtopf mitgenommen hat', setzte Bernie leise hinzu."
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.10.2005Ich reise, also bin ich
Fernwehfreude: Viktor Jerofejew unterwegs zu Schönheiten der Welt / Von Jakob Strobel y Serra
Der reisende Russe ist im goldenen Zeitalter des Postkommunismus wieder zum Topos geworden. Anders als im neunzehnten Jahrhundert handelt es sich allerdings selten um einen Aristokraten mit tadellosen Manieren und weitgestreuten Neigungen, sondern meist um einen verhaltensauffälligen Räuberkapitalisten in wasserstoffblonder Begleitung, der gerne die Goldmärkte von Dubai oder die Boutiquen an der französischen Riviera leerräumt und sich ansonsten für wenig mehr als das Sortiment gehobener landestypischer Alkoholika interessiert.
Die ärmere Variante des reisenden Russen hockt heute als rastloser Handelstourist auf Bergen von Paketen im Hongkonger Hafen oder Berliner Ostbahnhof und interpretiert das Wort Souvenir nicht en détail, sondern en gros. Insofern ist der notorische russische Reisende Viktor Jerofejew untypisch. Denn daß er jemals etwas anderes als Erkenntnis mit nach Hause bringen könnte, erscheint unwahrscheinlich.
Der Temperamentsschriftsteller Jerofejew, als wilder, alternder Mann eine Art Mick Jagger der russischen Gegenwartsliteratur, ist schon immer gereist. Er hatte das Glück, den real existierenden Sozialismus mit den Augen des Diplomatensohnes betrachten zu können und den kleinbürgerlichen Kommunistenmief nur als ideologische Folklore kennenlernen zu müssen. Lieber machte er in der jeunesse dorée der Sowjetoligarchie eine gute Figur, lebte lange in der Hölle des Klassenfeindes, lernte dort Englisch und Französisch und ruinierte 1979 die gut gepolsterte Existenz der Familie, als er die Dissidenten-Anthologie "Metropole" herausbrachte. Seinen Hang zur anarchistischen Furchtlosigkeit hat sich Jerofejew dadurch nicht verleiden lassen. Wenn er heute unterwegs ist, gehorcht er nur einem einzigen Gesetz: dem der unbedingten Pflicht zur Neugier. Sie ist der Treibstoff seiner Fahrten durch die Welt, die ihn in indische Ein-Dollar-Absteigen und Pariser Achttausend-Euro-Suiten führen, in die Arktis und die Wüste, nach Capri und auf die Krim, nach Japan, Norwegen oder Serbien, manchmal allein, manchmal mit einem Fotografen, oder einer Geliebten, Reisen aus Lust oder Wollust, aber immer mit Verstand.
Was ihn umtreibt, was für ihn Wesen und Sinn des Reisens ist, beschreibt Jerofejew gleich am Anfang seiner Sammlung von Berichten eines Rastlosen. Diese Präambel seines unsteten Lebens ist ein scharfsinniger Text ohne besserwisserische Apodiktik, glücklicherweise nicht noch irgendeine Theorie des Reisens irgendeines zugempfindlichen Gelehrten. Statt dessen schöpft er aus dem Trog der eigenen Erfahrung, in dem nicht nur postkartentaugliche Andenken schwimmen, erklärt launig die Ikonographie des Reisens von der Palme bis zur Insel und scheut sich nicht vor einfachen Wahrheiten, nur weil sie einfach sind: "Wir reisen, weil wir lebendig sind." Mitunter ist es wirklich so simpel. Und da Jerofejew vor Lebenslust fast birst, hält er ein leidenschaftliches Plädoyer für die Unverzichtbarkeit des Reisens - es zu verbieten, war für ihn eines der Kapitalverbrechen der Sowjetmacht. Er verdammt die in Rußland beliebte Vorstellung, die innere Welt könne die äußere ersetzen, und das Reisen in der Seele sei befriedigend genug. Was für eine Kleingeistigkeit, was für eine Geringschätzung der Welt! Es gibt sie, und in ihr liegt der letzte Sinn allen Unterwegsseins: die Schönheit zu schauen.
So gerne Jerofejew reist, so gering ist sein touristischer Anspruch. Sein Buch ist das Gegenteil eines Reiseführers. Die Visite von Kathedralen wird nur beiläufig erwähnt, dafür nehmen der Besuch in einem Dampfbad-Dark-Room in Japan oder die stürmischen Nächte mit russischen Prostituierten in Schanghai um so größeren Raum ein. Doch gerade im Episodischen, fast Willkürlichen, in diesen wie mit einer Handkamera aufgenommenen Schilderungen liegt der Reiz des Buches. Es wirkt wie eine Montage der Welt, die man als Ganzes ohnehin nicht begreifen, an ihren anekdotischen Widerhaken aber sehr wohl fassen kann: an einer patriotisch empörten Spurensuche in der elsässischen Heimat von Puschkins Duell-Mörder; an einer Paraphrase über die Gesetze des Luxus an sich, inspiriert von den Orgien im Hotel George V. in Paris; an einer großartigen Analyse der Sinnwidrigkeit St. Petersburgs, an einem hochpolitischen Bericht über den moralischen Verfall in Südafrika oder an einer völkerpsychologischen Mentalitätsforschung anläßlich einer Reise nach Serbien, dessen Bewohner von einer trunkenen amour fou zu den Russen erfaßt sind. So überrascht es nicht, daß das schwächste Kapitel eine klassische Reisereportage ist, die eine Fahrt von Moskau nach Warschau ohne die Inspiration des Exzentrischen, dafür mit der Lustlosigkeit einer Auftragsarbeit rekapituliert.
Was Jerofejew erlebt, beschreibt er in einer einfachen, unpathetischen Sprache, die ihre latente Ironie aus der Lakonie des Welterfahrenen bezieht und weitgehend auf Kalauer oder Zotenmetaphorik verzichtet - ein Kunststück, das Jerofejew in seinen bisherigen Büchern nicht immer gelungen ist. Jetzt beschränkt er sich auf die recht harmlosen Vergleiche einer Yacht mit einer Klitoris und einer Bootsfahrt mit einem multiplen Orgasmus. Weitaus störender ist das ab und zu aufflackernde Fußballer-Du, dieser Rudi-Völler-Duktus bei der Spielanalyse, bei dem die zweite Person Singular mit klebriger Kumpelhaftigkeit zum Universalpersonalpronomen wird.
Jerofejew braucht sich selbst. Nur wenn er sich wie ein Lackmusstreifen tief bis auf den Grund der Seele eines fremden Landes eintaucht, nur wenn er sich zum Probanten macht, der sich für seine Leser unerschrocken ins Ungewisse stürzt, funktioniert seine Weltsicht. Über weite Strecken gelingt ihm das wunderbar - und besonders dankt man ihm, daß er im Gegensatz zu so vielen anderen Reiseschriftstellern nicht in die Falle der Selbstüberschätzung tappt und glaubt, das Publikum mit den eigenen Beschwernissen, vor allem Magen-Darm-Problemen, quälen zu müssen. Er wird zur Linse seiner Leser, er ist das Objektiv, nicht das Motiv. Eines aber bleibt Viktor Jerofejew immer: ein Russe auf Reisen, ein Melancholiker im Innersten seines Herzens, dessen Sehnsucht nach der Heimat, nach den langen, dunklen, russischen Wintern, selbst im gleißendsten Sonnenlicht der Côte d'Azur unauslöschlich ist.
Viktor Jerofejew: "Der Mond ist kein Kochtopf". Ein Russe auf Reisen. Aus dem Russischen übersetzt von Beate Rausch. Marebuchverlag, Hamburg 2005. 264 S., geb., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Fernwehfreude: Viktor Jerofejew unterwegs zu Schönheiten der Welt / Von Jakob Strobel y Serra
Der reisende Russe ist im goldenen Zeitalter des Postkommunismus wieder zum Topos geworden. Anders als im neunzehnten Jahrhundert handelt es sich allerdings selten um einen Aristokraten mit tadellosen Manieren und weitgestreuten Neigungen, sondern meist um einen verhaltensauffälligen Räuberkapitalisten in wasserstoffblonder Begleitung, der gerne die Goldmärkte von Dubai oder die Boutiquen an der französischen Riviera leerräumt und sich ansonsten für wenig mehr als das Sortiment gehobener landestypischer Alkoholika interessiert.
Die ärmere Variante des reisenden Russen hockt heute als rastloser Handelstourist auf Bergen von Paketen im Hongkonger Hafen oder Berliner Ostbahnhof und interpretiert das Wort Souvenir nicht en détail, sondern en gros. Insofern ist der notorische russische Reisende Viktor Jerofejew untypisch. Denn daß er jemals etwas anderes als Erkenntnis mit nach Hause bringen könnte, erscheint unwahrscheinlich.
Der Temperamentsschriftsteller Jerofejew, als wilder, alternder Mann eine Art Mick Jagger der russischen Gegenwartsliteratur, ist schon immer gereist. Er hatte das Glück, den real existierenden Sozialismus mit den Augen des Diplomatensohnes betrachten zu können und den kleinbürgerlichen Kommunistenmief nur als ideologische Folklore kennenlernen zu müssen. Lieber machte er in der jeunesse dorée der Sowjetoligarchie eine gute Figur, lebte lange in der Hölle des Klassenfeindes, lernte dort Englisch und Französisch und ruinierte 1979 die gut gepolsterte Existenz der Familie, als er die Dissidenten-Anthologie "Metropole" herausbrachte. Seinen Hang zur anarchistischen Furchtlosigkeit hat sich Jerofejew dadurch nicht verleiden lassen. Wenn er heute unterwegs ist, gehorcht er nur einem einzigen Gesetz: dem der unbedingten Pflicht zur Neugier. Sie ist der Treibstoff seiner Fahrten durch die Welt, die ihn in indische Ein-Dollar-Absteigen und Pariser Achttausend-Euro-Suiten führen, in die Arktis und die Wüste, nach Capri und auf die Krim, nach Japan, Norwegen oder Serbien, manchmal allein, manchmal mit einem Fotografen, oder einer Geliebten, Reisen aus Lust oder Wollust, aber immer mit Verstand.
Was ihn umtreibt, was für ihn Wesen und Sinn des Reisens ist, beschreibt Jerofejew gleich am Anfang seiner Sammlung von Berichten eines Rastlosen. Diese Präambel seines unsteten Lebens ist ein scharfsinniger Text ohne besserwisserische Apodiktik, glücklicherweise nicht noch irgendeine Theorie des Reisens irgendeines zugempfindlichen Gelehrten. Statt dessen schöpft er aus dem Trog der eigenen Erfahrung, in dem nicht nur postkartentaugliche Andenken schwimmen, erklärt launig die Ikonographie des Reisens von der Palme bis zur Insel und scheut sich nicht vor einfachen Wahrheiten, nur weil sie einfach sind: "Wir reisen, weil wir lebendig sind." Mitunter ist es wirklich so simpel. Und da Jerofejew vor Lebenslust fast birst, hält er ein leidenschaftliches Plädoyer für die Unverzichtbarkeit des Reisens - es zu verbieten, war für ihn eines der Kapitalverbrechen der Sowjetmacht. Er verdammt die in Rußland beliebte Vorstellung, die innere Welt könne die äußere ersetzen, und das Reisen in der Seele sei befriedigend genug. Was für eine Kleingeistigkeit, was für eine Geringschätzung der Welt! Es gibt sie, und in ihr liegt der letzte Sinn allen Unterwegsseins: die Schönheit zu schauen.
So gerne Jerofejew reist, so gering ist sein touristischer Anspruch. Sein Buch ist das Gegenteil eines Reiseführers. Die Visite von Kathedralen wird nur beiläufig erwähnt, dafür nehmen der Besuch in einem Dampfbad-Dark-Room in Japan oder die stürmischen Nächte mit russischen Prostituierten in Schanghai um so größeren Raum ein. Doch gerade im Episodischen, fast Willkürlichen, in diesen wie mit einer Handkamera aufgenommenen Schilderungen liegt der Reiz des Buches. Es wirkt wie eine Montage der Welt, die man als Ganzes ohnehin nicht begreifen, an ihren anekdotischen Widerhaken aber sehr wohl fassen kann: an einer patriotisch empörten Spurensuche in der elsässischen Heimat von Puschkins Duell-Mörder; an einer Paraphrase über die Gesetze des Luxus an sich, inspiriert von den Orgien im Hotel George V. in Paris; an einer großartigen Analyse der Sinnwidrigkeit St. Petersburgs, an einem hochpolitischen Bericht über den moralischen Verfall in Südafrika oder an einer völkerpsychologischen Mentalitätsforschung anläßlich einer Reise nach Serbien, dessen Bewohner von einer trunkenen amour fou zu den Russen erfaßt sind. So überrascht es nicht, daß das schwächste Kapitel eine klassische Reisereportage ist, die eine Fahrt von Moskau nach Warschau ohne die Inspiration des Exzentrischen, dafür mit der Lustlosigkeit einer Auftragsarbeit rekapituliert.
Was Jerofejew erlebt, beschreibt er in einer einfachen, unpathetischen Sprache, die ihre latente Ironie aus der Lakonie des Welterfahrenen bezieht und weitgehend auf Kalauer oder Zotenmetaphorik verzichtet - ein Kunststück, das Jerofejew in seinen bisherigen Büchern nicht immer gelungen ist. Jetzt beschränkt er sich auf die recht harmlosen Vergleiche einer Yacht mit einer Klitoris und einer Bootsfahrt mit einem multiplen Orgasmus. Weitaus störender ist das ab und zu aufflackernde Fußballer-Du, dieser Rudi-Völler-Duktus bei der Spielanalyse, bei dem die zweite Person Singular mit klebriger Kumpelhaftigkeit zum Universalpersonalpronomen wird.
Jerofejew braucht sich selbst. Nur wenn er sich wie ein Lackmusstreifen tief bis auf den Grund der Seele eines fremden Landes eintaucht, nur wenn er sich zum Probanten macht, der sich für seine Leser unerschrocken ins Ungewisse stürzt, funktioniert seine Weltsicht. Über weite Strecken gelingt ihm das wunderbar - und besonders dankt man ihm, daß er im Gegensatz zu so vielen anderen Reiseschriftstellern nicht in die Falle der Selbstüberschätzung tappt und glaubt, das Publikum mit den eigenen Beschwernissen, vor allem Magen-Darm-Problemen, quälen zu müssen. Er wird zur Linse seiner Leser, er ist das Objektiv, nicht das Motiv. Eines aber bleibt Viktor Jerofejew immer: ein Russe auf Reisen, ein Melancholiker im Innersten seines Herzens, dessen Sehnsucht nach der Heimat, nach den langen, dunklen, russischen Wintern, selbst im gleißendsten Sonnenlicht der Côte d'Azur unauslöschlich ist.
Viktor Jerofejew: "Der Mond ist kein Kochtopf". Ein Russe auf Reisen. Aus dem Russischen übersetzt von Beate Rausch. Marebuchverlag, Hamburg 2005. 264 S., geb., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.10.2005Der Exot
Der persönliche Imperialismus des Viktor Jerofejew
Von Stefan Fischer
Man kann sich das Meer vorstellen, auch wenn man niemals da gewesen ist; aber die reale Empfindung bei der ersten Begegnung mit dem Meer erzeugt eine unendliche Assoziationskette, die einen nicht nur in einen guten Schwimmer verwandelt, sondern auch in einen wunderbaren Liebhaber.” Einen Liebhaber des Reisens und des Erzählens davon; Viktor Jerofejews „Der Mond ist kein Kochtopf” ist bereits der 22. Band der Marebibliothek, für die Autoren ihre Geschichte vom Meer erzählen. Dazu kann auch das Häusermeer von Paris gehören oder das Wodkameer, an dessen Gestaden Jerofejew seine Landsleute beobachtet, wie sie sich in ihrer Trunksucht ergehen.
Der russische Schriftsteller berichtet aber vor allem von seinem doppelten Glück: Dass ihm die drängende Lust zu reisen eigen ist und er seit je auch die Möglichkeit hat, ihr nachzugehen. Der Diplomatensohn genoss das ungeheure Privileg, seinen Vater ins Ausland begleiten zu können. Und jetzt, da in Russland der Grad der Reisefreiheit nurmehr vom Geldbeutel abhängt, ist dieser bei Jerofejew stets ausreichend gefüllt.
Angefangen hat indes alles mit einer Ananas. Sie war für Jerofejew Sinnbild der Exotik. „Es zog mich in die Ananasländer.” Nun da der Schriftsteller beinahe die ganze Welt kennt, ist er zu dem Schluss gelangt: „Der Weingürtel, der die Welt auf der Nord- und der Südhalbkugel umschließt, ist vielleicht die schönste Gegend zum Leben.”
Jede Reise hat für ihn den Abglanz einer Reinkarnation, die stärkste Veränderung habe eine Japanreise hervorgerufen: Von jedem Reiseziel gebe es eine ewige und eine heutige Version, die miteinander verflochten, aber nicht identisch sind. Nur das ewige und das heutige Japan fielen vollends in eins. Wie anders sein Heimatland! Über St. Petersburg schreibt Jerofejew: „Ich kenne keine andere Stadt auf der Welt, in der sich Einwohner und Stadt so unähnlich sind.”
Von der eigenen Herkunft ist kein Loskommen, in Japan nicht und nicht in Alaska, und so bleibt Jerofejew stets ein Russe auf Reisen, der mit diesem vermeintlichen Makel kokettiert: Er fühlt sich oft scheel angesehen, und wo immer in der Welt er Russinnen antreffe, handle es sich nicht um Urlauberinnen, sondern um Prostituierte. Im Elsass provoziert er einen Streit über George dAnthès, der einst Puschkin getötet hat. Aber im Grunde verschafft sich Jerofejew selbstsicher Zutritt zur Welt: In seinem persönlichen Imperialismus kenne der Reisende schließlich keine Grenzen. Fürwahr: In einer der schönsten, weil herrlich überdrehten Szenen überschaut Viktor Jerofejew von der Terrasse des Pariser Hotels George V die Stadt und revanchiert sich damit für den gierigen Blick, den Napoleon einst vom Poklonnaja Gora auf Moskau
geworfen hat.
Viktor Jerofejew
Der Mond ist kein Kochtopf. Ein Russe auf Reisen
Marebuchverlag, Hamburg 2005.
264 Seiten, 18 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Der persönliche Imperialismus des Viktor Jerofejew
Von Stefan Fischer
Man kann sich das Meer vorstellen, auch wenn man niemals da gewesen ist; aber die reale Empfindung bei der ersten Begegnung mit dem Meer erzeugt eine unendliche Assoziationskette, die einen nicht nur in einen guten Schwimmer verwandelt, sondern auch in einen wunderbaren Liebhaber.” Einen Liebhaber des Reisens und des Erzählens davon; Viktor Jerofejews „Der Mond ist kein Kochtopf” ist bereits der 22. Band der Marebibliothek, für die Autoren ihre Geschichte vom Meer erzählen. Dazu kann auch das Häusermeer von Paris gehören oder das Wodkameer, an dessen Gestaden Jerofejew seine Landsleute beobachtet, wie sie sich in ihrer Trunksucht ergehen.
Der russische Schriftsteller berichtet aber vor allem von seinem doppelten Glück: Dass ihm die drängende Lust zu reisen eigen ist und er seit je auch die Möglichkeit hat, ihr nachzugehen. Der Diplomatensohn genoss das ungeheure Privileg, seinen Vater ins Ausland begleiten zu können. Und jetzt, da in Russland der Grad der Reisefreiheit nurmehr vom Geldbeutel abhängt, ist dieser bei Jerofejew stets ausreichend gefüllt.
Angefangen hat indes alles mit einer Ananas. Sie war für Jerofejew Sinnbild der Exotik. „Es zog mich in die Ananasländer.” Nun da der Schriftsteller beinahe die ganze Welt kennt, ist er zu dem Schluss gelangt: „Der Weingürtel, der die Welt auf der Nord- und der Südhalbkugel umschließt, ist vielleicht die schönste Gegend zum Leben.”
Jede Reise hat für ihn den Abglanz einer Reinkarnation, die stärkste Veränderung habe eine Japanreise hervorgerufen: Von jedem Reiseziel gebe es eine ewige und eine heutige Version, die miteinander verflochten, aber nicht identisch sind. Nur das ewige und das heutige Japan fielen vollends in eins. Wie anders sein Heimatland! Über St. Petersburg schreibt Jerofejew: „Ich kenne keine andere Stadt auf der Welt, in der sich Einwohner und Stadt so unähnlich sind.”
Von der eigenen Herkunft ist kein Loskommen, in Japan nicht und nicht in Alaska, und so bleibt Jerofejew stets ein Russe auf Reisen, der mit diesem vermeintlichen Makel kokettiert: Er fühlt sich oft scheel angesehen, und wo immer in der Welt er Russinnen antreffe, handle es sich nicht um Urlauberinnen, sondern um Prostituierte. Im Elsass provoziert er einen Streit über George dAnthès, der einst Puschkin getötet hat. Aber im Grunde verschafft sich Jerofejew selbstsicher Zutritt zur Welt: In seinem persönlichen Imperialismus kenne der Reisende schließlich keine Grenzen. Fürwahr: In einer der schönsten, weil herrlich überdrehten Szenen überschaut Viktor Jerofejew von der Terrasse des Pariser Hotels George V die Stadt und revanchiert sich damit für den gierigen Blick, den Napoleon einst vom Poklonnaja Gora auf Moskau
geworfen hat.
Viktor Jerofejew
Der Mond ist kein Kochtopf. Ein Russe auf Reisen
Marebuchverlag, Hamburg 2005.
264 Seiten, 18 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Es ist keineswegs respektlos gemeint, wenn der Rezensent Jakob Strobel y Serra den russischen Schriftsteller Viktor Jerofejew als "Mick Jagger der russischen Gegenwartsliteratur" bezeichnet. Er lobt damit vielmehr seine Energie, sein Temperament, die noch im fortgeschrittenen Alter nicht gebändigte Wildheit des Autors. In seinem neusten Buch schildert er wieder Eindrücke von seinen Reisen durch und um die Welt. Er war in "einem Dampfbad-Dark-Room in Japan" und hat Nächte mit russischen Prostituierten in Shanghai verbracht, er hat in schäbigen Absteigen und grandiosen Hotels gelebt - und nichts in diesem Band taugt wirklich als "Reiseführer" für jedermann. Der Autor hat kein Interesse an objektiver Beschreibung, so der Rezensent, sondern ist selbst als vor "Lebenslust" berstender "Russe auf Reisen" im Spiel, ohne der "Selbstüberschätzung" zu verfallen, lakonisch beschreibend, nie ohne Melancholie und zum Glück nur gelegentlich im anbiedernden "Rudi-Völler-Duktus" mit dem Leser auf Du und Du.
© Perlentaucher Medien GmbH"
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