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Jirí Mahen (1882-1939) war einer der scharfsinnigsten und gewitztesten Autoren der tschechischen Literatur, der spöttisch und poetisch immer auch gegen die Illusionslosigkeit der Existenz anschrieb. Seine Prosaphantasie "Der Mond" besteht aus dreißig kurzen dialogförmigen Texten, die den verschiedenen Mondphasen zugeordnet sind. Von der abnehmenden Sichel und dem Neumond über den zunehmenden bis schließlich zum Vollmond. Es finden sich geistreiche Anekdoten, philosophische Erörterungen, absurde Dialoge und Märchen von der Nichtigkeit menschlichen Lebens. Die Literatur wird darin verhandelt,…mehr

Produktbeschreibung
Jirí Mahen (1882-1939) war einer der scharfsinnigsten und gewitztesten Autoren der tschechischen Literatur, der spöttisch und poetisch immer auch gegen die Illusionslosigkeit der Existenz anschrieb. Seine Prosaphantasie "Der Mond" besteht aus dreißig kurzen dialogförmigen Texten, die den verschiedenen Mondphasen zugeordnet sind. Von der abnehmenden Sichel und dem Neumond über den zunehmenden bis schließlich zum Vollmond. Es finden sich geistreiche Anekdoten, philosophische Erörterungen, absurde Dialoge und Märchen von der Nichtigkeit menschlichen Lebens. Die Literatur wird darin verhandelt, aber auch die Politik, Geschichte, der Weltuntergang, die künstlerische Existenz und die Liebe. Jedem dieser Themen ringt Mahen - zart und treffsicher und scharfkantig - eine schlagende Pointe, eine überzeugende Einsicht, eine ungewöhnliche Perspektive ab.
Mahen betreibt ein poetisches literarisches Verwirrspiel: Der Prager Botschafter für das "Mondreich", Algernoon Moonshiner, hat angeblich Texte gesammelt, die das Interesse am "Mondreich" wecken sollen. Diese Texte lesen wir nun, wenn wir uns "Der Mond" vornehmen. Sie zeugen von einer überbordenden Erfindungskraft, von funkenschlagendem Witz. Jirí Mahen, der belesene Bibliothekar aus Brünn, knüpft an romantische Mondbetrachtungen und Reflexionen an, fügt ihnen allerdings eine nicht zu übersehende ernsthafte Ironie hinzu. "Der Mond" hat erheblichen Einfluss auf die nachfolgenden tschechischen Dichter ausgeübt; der schmale Band ist auch heute noch auf ungewöhnliche Weise anregend, schön und auch im wahren Wortsinn "wunder"-voll.
Autorenporträt
Jirí Mahen (1882-1939), eigentlich Antonín Vancura, ist das dritte von dreizehn Kindern einer protestantischen Bäckersfamilie in Cáslav (Mittelböhmen). Die Mutter stirbt früh, der Vater heiratet ein zweites Mal. Als die Bäckerei schlecht läuft, nimmt der Vater eine Anstellung als Pastor der Gemeinde von Dubá in der Nähe von Ceská Lípa an. Mahen absolviert das Gymnasium in Cáslav und Mladá Boleslav und veröffentlicht erste Beiträge in Studentenzeitschriften. 1902 beginnt er an der Philosophischen Fakultät der Prager Universität Tschechisch und Deutsch zu studieren. Er engagiert sich in Künstler- und Literaturzirkeln und arbeitet in sozialistischen und anarchistischen Zeitschriften mit. Im Kreis um S. K. Neumann trifft er auf HaSek, Gellner, srámek. Unter dem Pseudonym Mahen (das auf die Lektüre von Zolas »Germinal« und einen Druckfehler zurückgeht) beginnt er Dramen, Gedichte, impressionistische Erzählungen zu publizieren, die Einfluss auf den nach dem Ersten Weltkrieg entstehenden Poetismus, eine eigenständige tschechische Avantgarde, haben. Nach einigen Jahren als Mittelschullehrer geht er 1910 nach Brünn (Brno), arbeitet dort am Nationaltheater, das später ihm zu Ehren in Mahen-Theater umbenannt wird. 1921 ist Mahen einer der Begründer der Städtischen Bücherei Brünn. Zu seinen Freunden zählen die wichtigsten Autoren der Nachkriegsgeneration, F. Halas, V. Nezval, J. Seifert. 1937 wird er zum Direktor der Bibliothek und zusammen mit seiner Frau Karla eine zentrale Figur des Brünner Kulturlebens. Er leidet zunehmend an Depressionen; unter der bedrückenden Atmosphäre der deutschen Besetzung beschließt Jirí Mahen am 22. Mai 1939, seinem Leben ein Ende zu setzen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.01.2017

Was wir vom Mondminister lernen können

Ein Abgesang auf die Vernunft: In der "Mond-Phantasie" des tschechischen Dichters Jirí Mahen von 1920 erlangt die Welt ihr Geheimnis zurück.

Eure Literatur? Moralisierend, didaktisch, leblos. Eure Welt? Ausgenüchtert vom Intellektualismus, von religiösem Eifer befallen, mit Halsstarrigkeit geschlagen. Die farblose Idee hat gesiegt, die funkelnde Poesie ist gestorben. Statt auf die "heilige Einbildungskraft" zu vertrauen, zieht ihr überall nur noch einfache Linien, befolgt sklavisch poetologische Regeln und verwendet abseitige Metaphern aus der Chemie. Statt zu Genies macht ihr eure Dichter zum "Gewissen der Nation". Eure Literatur hat den Lebensnerv verloren, weil ihr sie auf einen einzigen Gedanken zusammenschrumpft. Nur mit der Ratio erreicht man den Sieg? Dass ich nicht lache: Kennt ihr denn nichts Höheres als die Vernunft? Mit euren Standpunkten verblüfft ihr nur noch die Kleinbürger. Von eurer Kritik wird kein Ofen mehr warm . . .

Eine solch gehässige Diagnose und giftige Abrechnung mit der Gegenwartsliteratur könnte vom Mann im Mond stammen. Genauer gesagt vom Sektionschef im Mondministerium für Volksaufklärung und Kultur: So würde die Essenz dessen klingen, was er in einem Brief an den Prager Botschafter des Mondreiches als vernichtende Einschätzung der Literatur auf Erden formuliert. Anlass der Depesche ist eigentlich die Begutachtung eines kleinen Büchleins von einem gewissen Jirí Mahen, der seit langer Zeit endlich einmal wieder "den Mut hat, über den Mond genauer zu reden". Ohne jedoch auf den Inhalt dieses Werkes einzugehen, schreibt sich der Mondminister über den Niedergang der Erdenliteratur in Rage, schimpft und zetert, spottet und höhnt. Wo sind die "Teufelslieder" geblieben, die "Paradiesbäume", die "Riesen und die Zwerge"?, fragt er.

Mit solcher - als Paratext hinter dem Mond versteckten - Grundsatzkritik beginnt Jirí Mahen, der tschechische Dichter und Dramatiker, seine 1920 erstmals erschienene Prosaphantasie "Mesíc" ("Der Mond"). Sie soll die Leser einstimmen auf das, was sie auf den folgenden knapp hundert Seiten erwartet: ein Feuerwerk der Einbildung, eine Siegesfeier der Illusion und eine scharfe Entgegnung zum allesbeherrschenden Rationalismus.

In dreißig kurzen dialogförmigen Sequenzen wendet sich hier der Mond an einen Erdbewohner und erläutert ihm seine Sicht auf die Dinge. Er, der früher einmal der funkelnde Goldhelm eines Gottes war und später von den Riesen ins All geschleudert wurde, schreitet nun durch den Himmel, wandert über die Erde. Er sieht alles und weiß alles, leuchtet über Berge und Flüsse, hinein in Kellerfenster und Rattenlöcher, auf Strafgefangene und Liebhaber, die ihn anbeten und ihre letzten Geheimnisse anvertrauen. Am liebsten sind ihm die kahlen, die unberührten Stellen, wo der Mensch nie geherrscht hat, die Wölfe noch heulen. Er liebt die nächtlichen Spaziergänge über den Meeresspiegel, macht Rast auf einsamen Mittelmeerinseln, in arabischen Wüsten und im Dickicht der Urwälder.

Aber er blickt auch in das Laboratorium einer amerikanischen Sternwarte, wo ein junger Gelehrter fiebrig nach neuen Welten sucht. Oder besucht ein ekstatisches Turmfest in der zentralasiatischen Wüste, bei dem ein Vampir unter dem Dach hängt und der Dreck zwischen den Zehen des Pilgers besungen wird.

Der Mond ist ein Weltreisender, ein Abenteurer, manchmal auch ein Kontrolleur der Biosphäre: Im abgelegenen See hinter dem Weidendickicht hat er zwei Hechte liegen sehen, die um ihr Leben betteln, denn das Wasser ist fast vertrocknet, und eine alte Krähe leckt sich schon den Schnabel. Die Fische hoffen auf einen Retter, der sie aufhebt und in den nahe gelegenen Fluss wirft. Der Mond weiß um ihre Lage und schwört seinen Erdverbündeten ein: "Um halb vier fährt der Zug . . . Ich würde dich begleiten, bevor die Sonne aufgeht."

Der Mond kann sich noch an das tränenzerfurchte Gesicht von König David erinnern, an eine festgefrorene Champagnerflasche im Norden Alaskas und an eine bunte Laterne, die im Wind über dem Eingang eines mongolischen Gasthauses schwankt. Der Mond ist einer, der noch staunen kann, der durch andere, offenere Augen sieht: "Mein Gehirn ist nicht von menschlicher Neugier infiziert", sagt er und schwärmt vom Ende der zivilisierten Welt: "Dort denken die Leute nur in Bildern."

In Mahens Prosaphantasie, die von Eduard Schreiber jetzt zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt wurde, wird der Mond zum Stellvertreter des Autors und damit zum Wiedergänger der totgesagten Romantik. In Mahens Beschreibung erlangt die Welt ihr Geheimnis zurück, wird die Phantasie aus der Verbannung durch den Rationalismus und die Ideologie befreit. Sollen andere den Sonnenaufgang als Zeichen der Weltrevolution deuten, für ihn ist er nichts weiter als ein Vagabund, der an einer Himalayaflanke lehnt.

Jirí Mahen, der aus einer protestantischen Bäckerfamilie in Böhmen stammte, in Prag studierte und sich dort der anarchistischen Boheme anschloss, der als Journalist, Dramaturg, Lyriker, Prosa- und Theaterautor arbeitete, bevor er in Brünn als Stadtbibliothekar angestellt wurde, stellt sich in seinem "Mond"-Buch als entschiedener Einzelkämpfer für die Kraft der Phantasie vor. Und als Seelenverwandter von Don Quijote in einer Welt, die sonst nur noch von der Vernunft - den surrenden Windrädern - bestimmt wird.

Mahen bewegt sich zwischen anekdotischer Erzählung und surrealistischer Szenenfolge, er ist dem "tragischen Poetismus" nahe, einer originär böhmischen Kunstströmung, die 1924 durch das Manifest des Kunsttheoretikers Karel Teige zusammengefasst wurde und eine neue Lust an der Wahrnehmung einforderte. Mahens Mondphantasie ist mitreißend, gerade weil sie sich immer wieder verzettelt, ins Enigmatische abgleitet und alle erzähltechnischen Sicherheitsnetze über Bord wirft. "Komm! Ich zeige dir diese Welt. Schließ die Augen! Tritt ans Fenster! Zerschlage das Glas! Und komm . . . " Dieses Buch ist eine Einladung zu einem Abenteuergang, der höher hinaufgeht als alle Vernunft. Zu Regenbogenschlössern, silbernen Drachen und drei Zauberern unter einem sterbenden Ahornbaum. Man kann sich gegen eine solch imaginative Führung wehren, kann auf halber Strecke zurückbleiben und den Schmollmund des enttäuschten Logikers ziehen. Aber viel besser fährt man, wenn man mitgeht, sich verführen lässt von diesem Mond und seiner phantastischen Erzählung.

Dass der kleine Berliner Guggolz Verlag Mahens Mond-Buch ins Programm genommen hat, ist ein Glück. Denn er rettet damit nicht nur einen Autor vor dem Vergessen, der sich 1939 - angesichts der deutschen Besatzung verzweifelt - das Leben nahm, sondern mit ihm auch eine subversive Haltung zur Literatur, die mit ihrem radikalen Bekenntnis zur Romantik heute wieder an Bindungskraft gewinnen könnte. Die Sätze des Mondministers am Anfang des Buches, sein Plädoyer für eine phantasievollere Prosa - sie könnten von heute sein.

SIMON STRAUSS

Jirí Mahen: "Der Mond".

Aus dem Tschechischen und mit einem Nachwort von Eduard Schreiber (Radonitzer). Mit Zeichnungen von Valeria Gordeew. Guggolz Verlag, Berlin 2016. 133 S., Abb., geb., 19,- [Euro].

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