Ein Feuerwerk aus Mord und Schönheit
Zweifellos, sie sind große Weltliteratur, die Sagas der Isländer. Freilich: Die Wikinger-Geschichten von Rauf bolden, Dichtern, Königen, Ausgestoßenen und Berserkern hatten in Deutschland bisher noch kein großes Publikum gefunden. Denn so erstaunlich modern ihre Charaktere und Geschichten auch sind - die Erzählstrukturen des 10. und 11. Jahrhunderts stellen für viele ein Lesehindernis dar.
Ähnlich wie einst Gustav Schwab für die griechischen Sagen hat sich nun Tilman Spreckelsen für die isländischen die Aufgabe gesetzt, die grandiose Geschichte von Grettir, dem Ausgestoßenen, die Nationalsaga von Njal, die des rauf lustigen Dichterhelden Egil, die der zwischen zwei Männern hin und hergerissenen Gudrun und die des gedemütigten Hühnerthorir so nachzuerzählen, dass ihr Kern erhalten bleibt, aber die Geschichten für jedermann lesbar sind.
Eine Reise zu den Originalschauplätzen inspirierte Kat Menschik zu einer großen Bilderfolge, die als Ausstellung in Museen und Galerien geht und den Band aufs Prächtigste illustriert.
Zweifellos, sie sind große Weltliteratur, die Sagas der Isländer. Freilich: Die Wikinger-Geschichten von Rauf bolden, Dichtern, Königen, Ausgestoßenen und Berserkern hatten in Deutschland bisher noch kein großes Publikum gefunden. Denn so erstaunlich modern ihre Charaktere und Geschichten auch sind - die Erzählstrukturen des 10. und 11. Jahrhunderts stellen für viele ein Lesehindernis dar.
Ähnlich wie einst Gustav Schwab für die griechischen Sagen hat sich nun Tilman Spreckelsen für die isländischen die Aufgabe gesetzt, die grandiose Geschichte von Grettir, dem Ausgestoßenen, die Nationalsaga von Njal, die des rauf lustigen Dichterhelden Egil, die der zwischen zwei Männern hin und hergerissenen Gudrun und die des gedemütigten Hühnerthorir so nachzuerzählen, dass ihr Kern erhalten bleibt, aber die Geschichten für jedermann lesbar sind.
Eine Reise zu den Originalschauplätzen inspirierte Kat Menschik zu einer großen Bilderfolge, die als Ausstellung in Museen und Galerien geht und den Band aufs Prächtigste illustriert.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Stephan Speicher hat sich mit Faszination aber auch mit dem Gefühl großer Fremdheit in einerseits ins Deutsche übersetzte, andererseits von Tilman Spreckelsen nacherzählte Isländische Sagas vertieft. Die Anstrengungen des letzteren weiß der Rezensent zu würdigen, das Ergebnis überzeugt ihn allerdings nicht recht, und er hält die Isländersagas grundsätzlich für völlig ungeeignet, sie für heutige Leser nachzuerzählen. Spreckelsen hat "vieles richtig gemacht", betont der Rezensent. Ihre additive Erzählweise, der fehlende dramaturgische Aufbau und der Mangel an Anschauung lassen sich nun mal in der Nacherzählung nicht wettmachen, findet Speicher, der den eigentlichen Wert der Sagas nur in der "Originalgestalt" erkennen kann.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.10.2011Rache, ganz ohne Behagen
Wo Familie ist, da ist auch Fehde – und dann geht es Schlag auf Schlag. Ein Gewaltmarsch
durch die beeindruckend fremde Welt der Isländersagas Von Stephan Speicher
Atli ist ein besonnener, zum Ausgleich geneigter Mann, Feinde hat er dennoch. Thorbjörn will Rache nehmen, er rüstet sich mit Schwert und breitbärtigem Spieß und macht sich auf zu Atlis Hof. Dort pocht er an die Tür und zieht sich gleich zurück. Atli öffnet, sieht sich um, „da sprang Thorbjörn hervor und rammte Atli seinen Spieß in den Bauch, so dass er ganz hindurchging. Als er den Stoß bekam, sagte Atli: ,Breite Spieße werden immer beliebter.’ Dann fiel er vornüber auf die Türschwelle.“ Thorbjörn bekennt sich zur Tat und reitet zurück. Die Episode wird erzählt in der Saga von Grettir. Wir erfahren von den lockeren Regeln der Rache. Formgerecht wurde sie geübt, wenn sie tagsüber vollzogen wurde und der Rächer sich dazu bekannte. Die Arglosigkeit des Opfers auszunutzen, galt nicht als anstößig. Vor allem aber sehen wir ein Opfer, das sich seinem Schicksal gewachsen zeigt.
Es ist eine sehr fremde Welt, die sich hier zeigt. Der S. Fischer Verlag macht sie gerade neu zugänglich, indem er nahezu den gesamten Bestand der Isländersagas neu übersetzt anbietet, vier Bände, dazu einen Einführungs- und Erläuterungsband, zusammen mehr als 3000 Seiten. Die Übersetzungen sind durchweg munter (ganz so altfränkisch waren allerdings auch die früheren nicht), die Erläuterungen allerdings oft viel zu knapp, der Ergänzungsband nicht so dicht, wie man ihn sich wünscht. Als der Verlag Eugen Diederichs vor mehr als dreißig Jahren eine kleinere Sammlung von Sagas herausbrachte, da bekam der Leser mit Hans Kuhns Einführung mehr an die Hand. Insofern ist bei diesem repräsentativen Auftritt etwas versäumt worden. Aber vor allem ist etwas geleistet. Dass die Sagas zur Weltliteratur gehören, das geht vielen leicht von der Lippe. Jetzt können wir neu überprüfen, was da dran ist.
Die Isländersaga hat wenig zu tun mit dem, was deutsch „Sage“ heißt. Sie ist nicht von mythischem oder märchenhaftem Charakter wie die Vorzeitsaga. Götter- und Heldengeschichten, wie sie die ältere Edda bietet, kommen hier nicht vor. Sie erzählt auch nicht wie die Königssagas von großen Herrschern. Ihr Personal sind die Herren Islands samt Familien zur Zeit der Landnahme, zwischen 870 und 1030. Aber was heißt Herren? Es sind Großbauern, die in jungen Jahren gern auf Wikingerfahrt gehen, um bei Seeraub, Plünderung und Brandschatzung Weltkenntnis zu erwerben.
Ihre Existenz ist hart. Von Staat und Politik kann kaum die Rede sein. Wer sein Recht wahren will, muss die Waffe jederzeit bereithalten. Selbst zur Feldarbeit nimmt man Schwert oder Axt mit. Ist erst mal ein Totschlag begangen, kommt der nächste wie von selbst, die Fehde ist da. Wohl kann man einen Konflikt durch Bußzahlung beilegen, doch das gilt nicht als vollwertige Genugtuung. Höher steht die Rache. Das ist das große Thema der Isländersagas: Jemand fühlt sich in Recht oder Ehre gekränkt, erschlägt den Gegner und hat es nun mit dessen Angehörigen zu tun, die auf blutige Vergeltung aus sind. Man hat die Isländersagas oft auch als Familiensagas bezeichnet. Zwar geht es nicht immer um ganze Familien, aber Rache und Vergeltung sind Recht und Pflicht der Söhne, Väter, Brüder, Schwäger. Ohne Familie keine Fehde, ohne Fehde keine Isländersaga.
Das klingt ein bisschen öde und offen gesagt: Es gibt in den 3000 Seiten Sagas einige Inseln der Ödnis, und die sind nicht einmal so klein. Die Erzählungen arbeiten mit einem ausgedehnten Personal, und weil Familienbeziehungen so wichtig sind, werden die Personen mit Nennung von Vater, Mutter, Großeltern, Söhnen, Töchtern vorgestellt und dem, was die Mischpoche sonst noch bietet. Man hat es mit einer irrsinnigen Zahl von Namen zu tun, die auch gern mehrfach verwendet sind. In der Saga von Grettir muss der Leser sieben Grims unterscheiden, das kann ihn schon nervös machen.
Wo das ästhetische Problem liegt, das zeigt Tilman Spreckelsen, der fünf Sagas nacherzählt hat. Spreckelsen verdichtet stark, er gruppiert um, er hat einen schönen Ton. Er erkennt auch ein Problem für den modernen Leser, die Kargheit. Den meisten Sagas ist episches Behagen fremd. Es passiert dies, dann das, darauf ein drittes, viertes, fünftes. Es wird wenig geschildert (mit einzelnen Ausnahmen wie der Njalls- oder der Laxardal-Saga). Nicht Kleidung, nicht mal die Waffen, die doch so wichtig waren, sind den Autoren eine Beschreibung wert. Die straffe Orientierung auf Handlung und Personen aber bedeutet nicht nur einen Mangel an Anschauung. Sie ist auch ein Verzicht auf die Steuerung des Erzähltempos. Es wird nicht gestaut und freigegeben, es geht Schlag auf Schlag, der Leser muss sich ungeheuer konzentrieren, weil ihn der Autor nicht allmählich auf die entscheidenden Punkte hinlenkt. Das überbrückt Spreckelsen. Er fügt geschickt Anschauung zu, ohne in den Ausstattungswahn zu verfallen. Er macht vieles richtig, und doch wird man seines Buches nicht ganz froh.
Das aber ist nicht Spreckelsens Fehler. Die Sagas eignen sich schlecht für die Nacherzählung, weil ihre epische Substanz nicht sehr konturiert ist. Die Handlungsmuster wiederholen sich, die Struktur bekommt dadurch etwas gereiht Episodisches, die Geschichten laufen nicht auf einen großen Konflikt zu. Was fehlt, das hätte sich gut nacherzählen lassen. Was aber da ist, eindrucksvoll und groß, das hängt an der Originalgestalt.
Eindrucksvoll ist die Fremdheit. Berichtet wird aus einer weit zurückliegenden Zeit, die Mehrzahl der Personen hängt noch dem alten Glauben an; das Christentum nimmt Island erst auf dem Allthing im Jahre 1000 an. Ihre schriftliche Form bekamen die Werke aber 200 bis 350 Jahre später, im späten 13. und 14. Jahrhundert. Was im Zeitraum dazwischen geschah, das ist seit dem 19. Jahrhundert eine bestimmende Frage der Forschung gewesen. Zunächst geht es um die literarische Form: Wurde bloß verschriftlicht, was die Jahrhunderte in schon recht fester Gestalt mündlich überlieferten? Diese sogenannte Freiprosatheorie hat lange viele Anhänger gehabt. Oder veranschlagt man die Überlieferung dünner und schreibt die künstlerische Leistung den anonymen Schriftstellern zu, die nur auf mündliche Traditionen zurückgriffen? Inzwischen neigt man eher dieser Sicht, der Buchprosatheorie, zu.
Damit aber stellt sich die Frage, was materiell aus der Handlungszeit berichtet wird. Was wussten die Autoren des 13./14. Jahrhundert, mehrheitlich wohl Kleriker, von den Verhältnissen zur Zeit der Landnahme? Und was wollten sie ihrem Publikum nahebringen? Vieles ist einfach nicht geklärt, oft lässt einen der Kommentar aber auch im Stich. Wo er aber ins Detail geht, erfährt der Leser, wie genau er hinschauen muss – und wie interessant es dann wird.
Was auf der Hand liegt, das ist der Formalismus. Immer wieder geht es ums Recht, und das ist streng formalisiert. Es ist etwas Großes – „mit Gesetzen wird man unser Land aufbauen“ – aber die Herren empfinden es als Kränkung, vor Gericht gezogen zu werden. Sie wollen Konflikte schiedlich austragen, wo zählt, wer mehr Geld und Mannschaft aufbieten kann. Man erfährt, wie schwer es ist, zu einer akzeptierten Vorstellung von Gerechtigkeit zu kommen. Das Lesen der Sagas ist wie das Stöbern auf einem kulturgeschichtlichen Dachboden; man macht immer wieder wunderbare Funde.
Doch es gibt auch einen ästhetischen Reiz. Auch er hängt an dem so oft zu beobachtenden Formalismus. Die Sagas beanspruchen, festzuhalten, was erzählt wurde. Sie beschränken sich daher auf das, was sich seinerzeit beobachten ließ, sie sehen die Figuren von außen. Ihre inneren Regungen muss der Leser aus Handlungen erschließen. Es fällt auf, dass von dem weisen Njall erzählt wird, er habe sich zur Annahme des Christentums entschlossen und in der Zeit der Bekehrung die anderen gemieden und Selbstgespräche geführt. Was er da mit sich ausmachte, erfahren wir nicht. Aber offenbar wird sich jemand in ungekannter Weise selbst zum Problem und schaut in sein Inneres, wohin auch der neue Gott blickt.
Dies Innere bleibt Dritten verschlossen, aber gelegentlich finden die Autoren große Bilder. Die junge Frau, die ihren Geliebten ziehen lassen muss, gibt ihm ein einzigartig kostbares Tuch mit, er soll es seiner künftigen Braut als Morgengabe überreichen. Die Verlassene wird es nie mehr brauchen, für sie gibt es keinen erotischen Morgen mehr.
Die Außensicht ist Teil einer Kultur, in der die Menschen sind, was die anderen von ihnen denken. Aber es gibt einen Punkt, in dem Inneres und Äußeres zusammentreffen: Das ist die Haltung in der Not, wie sie Atli zeigt, als der Spieß ihn tötet. Und es gibt den Moment, in dem die Welt, deren Grundsätze so fest gefügt scheinen, für den Helden zerreißt und er ins Nichts schaut. So wie der Ruhm sich als nichtig erweist bei Homer und der höfische Glanz als Fassade im Nibelungenlied, so werden die Geächteten der Sagas, Grettir oder Gisli, aller Tapferkeit zum Trotz von Angstträumen heimgesucht. Wie Kinder fürchten sie den Einbruch der Nacht und können nicht mehr allein bleiben und sind doch große Männer. So steht es mit der heroischen Welt.
Klaus Böldl, Andreas Vollmer,
Julia Zernack (Hrsg.)
Isländersagas
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011. 4 Bände mit einem Begleitband, zusammen 3350 Seiten, 98 Euro.
Der Mordbrand von Örnolfs-
dalur und andere Isländersagas
Nacherzählt von Tilman Spreckelsen, illustriert von Kat Menschik. Galiani, Berlin 2011. 198 Seiten, 24, 99 Euro.
Wer sind die Herren?
Großbauern, die auch mal auf
Wikingerfahrt gehen
„Mit Gesetzen wird man unser
Land aufbauen“ – die Großen
gehen aber nicht gern zu Gericht
Diese fabelhafte Schönheit wird einmal ihren Mann im Stich lassen, und der weiß zu antworten: „Jeder zeichnet
sich auf seine Weise aus.“ Das
waren schon coole Burschen.
Abb.: Kat Menschik / Galiani
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Wo Familie ist, da ist auch Fehde – und dann geht es Schlag auf Schlag. Ein Gewaltmarsch
durch die beeindruckend fremde Welt der Isländersagas Von Stephan Speicher
Atli ist ein besonnener, zum Ausgleich geneigter Mann, Feinde hat er dennoch. Thorbjörn will Rache nehmen, er rüstet sich mit Schwert und breitbärtigem Spieß und macht sich auf zu Atlis Hof. Dort pocht er an die Tür und zieht sich gleich zurück. Atli öffnet, sieht sich um, „da sprang Thorbjörn hervor und rammte Atli seinen Spieß in den Bauch, so dass er ganz hindurchging. Als er den Stoß bekam, sagte Atli: ,Breite Spieße werden immer beliebter.’ Dann fiel er vornüber auf die Türschwelle.“ Thorbjörn bekennt sich zur Tat und reitet zurück. Die Episode wird erzählt in der Saga von Grettir. Wir erfahren von den lockeren Regeln der Rache. Formgerecht wurde sie geübt, wenn sie tagsüber vollzogen wurde und der Rächer sich dazu bekannte. Die Arglosigkeit des Opfers auszunutzen, galt nicht als anstößig. Vor allem aber sehen wir ein Opfer, das sich seinem Schicksal gewachsen zeigt.
Es ist eine sehr fremde Welt, die sich hier zeigt. Der S. Fischer Verlag macht sie gerade neu zugänglich, indem er nahezu den gesamten Bestand der Isländersagas neu übersetzt anbietet, vier Bände, dazu einen Einführungs- und Erläuterungsband, zusammen mehr als 3000 Seiten. Die Übersetzungen sind durchweg munter (ganz so altfränkisch waren allerdings auch die früheren nicht), die Erläuterungen allerdings oft viel zu knapp, der Ergänzungsband nicht so dicht, wie man ihn sich wünscht. Als der Verlag Eugen Diederichs vor mehr als dreißig Jahren eine kleinere Sammlung von Sagas herausbrachte, da bekam der Leser mit Hans Kuhns Einführung mehr an die Hand. Insofern ist bei diesem repräsentativen Auftritt etwas versäumt worden. Aber vor allem ist etwas geleistet. Dass die Sagas zur Weltliteratur gehören, das geht vielen leicht von der Lippe. Jetzt können wir neu überprüfen, was da dran ist.
Die Isländersaga hat wenig zu tun mit dem, was deutsch „Sage“ heißt. Sie ist nicht von mythischem oder märchenhaftem Charakter wie die Vorzeitsaga. Götter- und Heldengeschichten, wie sie die ältere Edda bietet, kommen hier nicht vor. Sie erzählt auch nicht wie die Königssagas von großen Herrschern. Ihr Personal sind die Herren Islands samt Familien zur Zeit der Landnahme, zwischen 870 und 1030. Aber was heißt Herren? Es sind Großbauern, die in jungen Jahren gern auf Wikingerfahrt gehen, um bei Seeraub, Plünderung und Brandschatzung Weltkenntnis zu erwerben.
Ihre Existenz ist hart. Von Staat und Politik kann kaum die Rede sein. Wer sein Recht wahren will, muss die Waffe jederzeit bereithalten. Selbst zur Feldarbeit nimmt man Schwert oder Axt mit. Ist erst mal ein Totschlag begangen, kommt der nächste wie von selbst, die Fehde ist da. Wohl kann man einen Konflikt durch Bußzahlung beilegen, doch das gilt nicht als vollwertige Genugtuung. Höher steht die Rache. Das ist das große Thema der Isländersagas: Jemand fühlt sich in Recht oder Ehre gekränkt, erschlägt den Gegner und hat es nun mit dessen Angehörigen zu tun, die auf blutige Vergeltung aus sind. Man hat die Isländersagas oft auch als Familiensagas bezeichnet. Zwar geht es nicht immer um ganze Familien, aber Rache und Vergeltung sind Recht und Pflicht der Söhne, Väter, Brüder, Schwäger. Ohne Familie keine Fehde, ohne Fehde keine Isländersaga.
Das klingt ein bisschen öde und offen gesagt: Es gibt in den 3000 Seiten Sagas einige Inseln der Ödnis, und die sind nicht einmal so klein. Die Erzählungen arbeiten mit einem ausgedehnten Personal, und weil Familienbeziehungen so wichtig sind, werden die Personen mit Nennung von Vater, Mutter, Großeltern, Söhnen, Töchtern vorgestellt und dem, was die Mischpoche sonst noch bietet. Man hat es mit einer irrsinnigen Zahl von Namen zu tun, die auch gern mehrfach verwendet sind. In der Saga von Grettir muss der Leser sieben Grims unterscheiden, das kann ihn schon nervös machen.
Wo das ästhetische Problem liegt, das zeigt Tilman Spreckelsen, der fünf Sagas nacherzählt hat. Spreckelsen verdichtet stark, er gruppiert um, er hat einen schönen Ton. Er erkennt auch ein Problem für den modernen Leser, die Kargheit. Den meisten Sagas ist episches Behagen fremd. Es passiert dies, dann das, darauf ein drittes, viertes, fünftes. Es wird wenig geschildert (mit einzelnen Ausnahmen wie der Njalls- oder der Laxardal-Saga). Nicht Kleidung, nicht mal die Waffen, die doch so wichtig waren, sind den Autoren eine Beschreibung wert. Die straffe Orientierung auf Handlung und Personen aber bedeutet nicht nur einen Mangel an Anschauung. Sie ist auch ein Verzicht auf die Steuerung des Erzähltempos. Es wird nicht gestaut und freigegeben, es geht Schlag auf Schlag, der Leser muss sich ungeheuer konzentrieren, weil ihn der Autor nicht allmählich auf die entscheidenden Punkte hinlenkt. Das überbrückt Spreckelsen. Er fügt geschickt Anschauung zu, ohne in den Ausstattungswahn zu verfallen. Er macht vieles richtig, und doch wird man seines Buches nicht ganz froh.
Das aber ist nicht Spreckelsens Fehler. Die Sagas eignen sich schlecht für die Nacherzählung, weil ihre epische Substanz nicht sehr konturiert ist. Die Handlungsmuster wiederholen sich, die Struktur bekommt dadurch etwas gereiht Episodisches, die Geschichten laufen nicht auf einen großen Konflikt zu. Was fehlt, das hätte sich gut nacherzählen lassen. Was aber da ist, eindrucksvoll und groß, das hängt an der Originalgestalt.
Eindrucksvoll ist die Fremdheit. Berichtet wird aus einer weit zurückliegenden Zeit, die Mehrzahl der Personen hängt noch dem alten Glauben an; das Christentum nimmt Island erst auf dem Allthing im Jahre 1000 an. Ihre schriftliche Form bekamen die Werke aber 200 bis 350 Jahre später, im späten 13. und 14. Jahrhundert. Was im Zeitraum dazwischen geschah, das ist seit dem 19. Jahrhundert eine bestimmende Frage der Forschung gewesen. Zunächst geht es um die literarische Form: Wurde bloß verschriftlicht, was die Jahrhunderte in schon recht fester Gestalt mündlich überlieferten? Diese sogenannte Freiprosatheorie hat lange viele Anhänger gehabt. Oder veranschlagt man die Überlieferung dünner und schreibt die künstlerische Leistung den anonymen Schriftstellern zu, die nur auf mündliche Traditionen zurückgriffen? Inzwischen neigt man eher dieser Sicht, der Buchprosatheorie, zu.
Damit aber stellt sich die Frage, was materiell aus der Handlungszeit berichtet wird. Was wussten die Autoren des 13./14. Jahrhundert, mehrheitlich wohl Kleriker, von den Verhältnissen zur Zeit der Landnahme? Und was wollten sie ihrem Publikum nahebringen? Vieles ist einfach nicht geklärt, oft lässt einen der Kommentar aber auch im Stich. Wo er aber ins Detail geht, erfährt der Leser, wie genau er hinschauen muss – und wie interessant es dann wird.
Was auf der Hand liegt, das ist der Formalismus. Immer wieder geht es ums Recht, und das ist streng formalisiert. Es ist etwas Großes – „mit Gesetzen wird man unser Land aufbauen“ – aber die Herren empfinden es als Kränkung, vor Gericht gezogen zu werden. Sie wollen Konflikte schiedlich austragen, wo zählt, wer mehr Geld und Mannschaft aufbieten kann. Man erfährt, wie schwer es ist, zu einer akzeptierten Vorstellung von Gerechtigkeit zu kommen. Das Lesen der Sagas ist wie das Stöbern auf einem kulturgeschichtlichen Dachboden; man macht immer wieder wunderbare Funde.
Doch es gibt auch einen ästhetischen Reiz. Auch er hängt an dem so oft zu beobachtenden Formalismus. Die Sagas beanspruchen, festzuhalten, was erzählt wurde. Sie beschränken sich daher auf das, was sich seinerzeit beobachten ließ, sie sehen die Figuren von außen. Ihre inneren Regungen muss der Leser aus Handlungen erschließen. Es fällt auf, dass von dem weisen Njall erzählt wird, er habe sich zur Annahme des Christentums entschlossen und in der Zeit der Bekehrung die anderen gemieden und Selbstgespräche geführt. Was er da mit sich ausmachte, erfahren wir nicht. Aber offenbar wird sich jemand in ungekannter Weise selbst zum Problem und schaut in sein Inneres, wohin auch der neue Gott blickt.
Dies Innere bleibt Dritten verschlossen, aber gelegentlich finden die Autoren große Bilder. Die junge Frau, die ihren Geliebten ziehen lassen muss, gibt ihm ein einzigartig kostbares Tuch mit, er soll es seiner künftigen Braut als Morgengabe überreichen. Die Verlassene wird es nie mehr brauchen, für sie gibt es keinen erotischen Morgen mehr.
Die Außensicht ist Teil einer Kultur, in der die Menschen sind, was die anderen von ihnen denken. Aber es gibt einen Punkt, in dem Inneres und Äußeres zusammentreffen: Das ist die Haltung in der Not, wie sie Atli zeigt, als der Spieß ihn tötet. Und es gibt den Moment, in dem die Welt, deren Grundsätze so fest gefügt scheinen, für den Helden zerreißt und er ins Nichts schaut. So wie der Ruhm sich als nichtig erweist bei Homer und der höfische Glanz als Fassade im Nibelungenlied, so werden die Geächteten der Sagas, Grettir oder Gisli, aller Tapferkeit zum Trotz von Angstträumen heimgesucht. Wie Kinder fürchten sie den Einbruch der Nacht und können nicht mehr allein bleiben und sind doch große Männer. So steht es mit der heroischen Welt.
Klaus Böldl, Andreas Vollmer,
Julia Zernack (Hrsg.)
Isländersagas
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011. 4 Bände mit einem Begleitband, zusammen 3350 Seiten, 98 Euro.
Der Mordbrand von Örnolfs-
dalur und andere Isländersagas
Nacherzählt von Tilman Spreckelsen, illustriert von Kat Menschik. Galiani, Berlin 2011. 198 Seiten, 24, 99 Euro.
Wer sind die Herren?
Großbauern, die auch mal auf
Wikingerfahrt gehen
„Mit Gesetzen wird man unser
Land aufbauen“ – die Großen
gehen aber nicht gern zu Gericht
Diese fabelhafte Schönheit wird einmal ihren Mann im Stich lassen, und der weiß zu antworten: „Jeder zeichnet
sich auf seine Weise aus.“ Das
waren schon coole Burschen.
Abb.: Kat Menschik / Galiani
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"Georg Brunold zeigt uns deutlich, wie f lüchtig und unsicher das Glück ist. Doch wie anschaulich und klug er davon berichtet, macht ohne Zweifel glücklich." Lukas Bärfuss "Vom afrikanischen Nairobi schickt uns Georg Brunold die überraschendsten Bücher. Diesmal ist es eines über den Zufall: vom Umfang her schmal, vom Horizont her groß. Kaum ein Bereich, in dem Fortuna nicht ihr (Un-)Wesen treibt, ob in der Versicherung oder im Spielcasino, der Philosophie oder dem ganz alltäglichen Wahnsinn. Es ist ein Buch voller Augenöffner und Aha-Momente." Raoul Schrott