»Ehen zwischen Cousins und Cousinen werden im Himmel geschlossen«, heißt es in Persien. Teheran, Anfang der dreißiger Jahre: Nachdem die selbstbewußte Mahbube mit ihren fünfzehn Jahren den Sohn einer Prinzessin abgelehnt hat, weist sie auch ihren Cousin zurück, der in sie verliebt ist. Warum? Das Mädchen hat sich in einen jungen Schreiner verguckt, und sie besteht auf ihre Wahl. Wider Willen ringt der Vater sich dazu durch, ihr nachzugeben. Aber Mahbubes Leidenschaft ist den Bedingungen dieser Ehe nicht gewachsen. Die junge Frau findet sich mit Ärmlichkeit und verletzenden Umgangsformen nicht ab. Als verlorene Tochter kehrt sie zurück - um die Nebenfrau ausgerechnet des abgewiesenen Cousins zu werden. Jetzt, als »Geliebte der Nacht«, lernt sie ihn lieben, aber sie hat ihn nicht für sich allein. Alles, was sie erreicht, ist ein Glück, das schmerzt.
Alt geworden, erzählt Mahbube im Teheran der Gegenwart ihrer Nichte, die sich ebenfalls in den Kopf gesetzt hat, »unpassend« zuheiraten, ihr Leben: »Der nächtliche Wein ist nicht den Morgen der Trunkenheit wert.«
Alt geworden, erzählt Mahbube im Teheran der Gegenwart ihrer Nichte, die sich ebenfalls in den Kopf gesetzt hat, »unpassend« zuheiraten, ihr Leben: »Der nächtliche Wein ist nicht den Morgen der Trunkenheit wert.«
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.11.2000Im Rausch der Rebellion
Fattaneh Haj Seyed Javadis "Der Morgen der Trunkenheit"
Wie behandelt eine Autorin in der Islamischen Republik Iran das Thema Liebe, wenn sie keinen Anstoß erregen und trotzdem die Gemüter bewegen will? Kein Buch zeigt dies besser als der nun in deutscher Übersetzung vorliegende persische Bestsellerroman "Der Morgen der Trunkenheit" (1995) von Fattaneh Haj Seyed Javadi, einer der bestverkauften und umstrittensten Romane Irans der vergangenen Jahre. Außergewöhnlich an diesem Streit ist das Meinungsspektrum: Einerseits versucht man, das Buch als bedeutungslosen Trivialroman abzutun, andererseits wird seine Autorin mit den großen Romanciers Europas verglichen oder in die Tradition orientalischen Erzählens gestellt.
Die Diskussion beleuchtet gegenwärtige literarische Entwicklungen und reflektiert die von den meisten iranischen Literaten vertretene Einstellung, nach der man sich als Intellektueller scheut, zuzugeben, man werde von einem gut erzählten Roman berührt, der "moderne" Klischees meidet. Ferner bringt sie das bis heute - die persische Prosaliteratur bestimmende - Selbstverständnis des Schriftstellers als Mentor des Volkes zum Ausdruck. Vor diesem Hintergrund scheint es, als habe Haj Seyed Javadi ihren Roman bewußt gegen die Intellektuellen geschrieben, indem sie sich über bestimmte Regeln hinweggesetzt hat. Sie schreibt in einer einfachen und gefühlvollen Sprache und zeichnet ein volksnahes farbenreiches Bild der iranischen Gesellschaft. Statt in ihrem Roman das einfache Volk zu verteidigen, unterwirft sie die Handlung der Perspektive einer Aristokratentochter.
Im Teheran der dreißiger Jahre verliebt sich die fünfzehnjährige Aristokratentochter Mahbube unsterblich in den Tischlergesellen Rahim. Sie trotzt damit dem Willen ihrer Eltern, die für sie eine standesgemäße Heirat vorsehen, und lehnt den Sohn einer Prinzenfamilie ebenso ab wie ihren Cousin Mansur, der in sie verliebt ist. Obwohl ihre Eltern dagegen sind, stimmen sie schließlich der Heirat mit dem Tischlergesellen zu. Bereits nach kurzer Zeit muß Mahbube erkennen, daß ihre leidenschaftliche Liebe nicht den Anforderungen des Ehealltags in dem ärmlichen Kleinbürgermilieu standhalten kann. Die Auseinandersetzungen mit ihrem Ehemann und mit der im Haus lebenden Schwiegermutter eskalieren, als Rahim seine Cousine zur Zweitfrau nimmt. Nur ihr Sohn Almas hält sie noch bei ihm. Sie wird ein weiteres Mal schwanger, doch das gewaltsame, einer Vergewaltigung gleichkommende Verhalten Rahims läßt sie den Entschluß zur heimlichen Abtreibung des Kindes fassen. Nach dem Tod ihres inzwischen fünfjährigen Sohnes flieht sie, kehrt zu ihren Eltern zurück und wird schließlich Nebenfrau ihres Cousins Mansur. Fast vierzig Jahre später erzählt Mahbube im heutigen Teheran ihrer Nichte, die sich ebenfalls in den Kopf gesetzt hat, einen Mann mit einem anderen kulturellen Hintergrund zu heiraten, ihre Geschichte und warnt sie mit dem titelgebenden Vers "Der nächtliche Wein lohnt nicht den Morgen nach dem Rausch" vor einer unüberlegten Entscheidung.
Liebesgeschichten haben in der persischen Literatur eine lange Tradition. Haj Seyed Javadi experimentiert mit den Liebesvorstellungen der klassischen Dichtung, wie sie aus dem populären romantischen Epos "Layla und Madschnun" von Nizami oder den Gedichten von Hafis jedem Iraner bekannt sind. Charakteristisch für die darin besungene Liebe ist die Vorstellung von der unerfüllbaren Liebe, die genußreich und schmerzhaft zugleich ist. Mahbube rebelliert gegen die Generation ihrer Eltern, die sich dem ästhetischen Genuß dieser Dichtung zwar hingeben, sich in der Realität jedoch arrangierten Heiraten beugen. Mahbube will sich damit nicht zufriedengeben. Die Frage lautet: Kann eine wahnsinnige Leidenschaft überhaupt zu einer glücklichen Ehe führen? Durch eine raffiniert angelegte motivische Struktur erhält der Leser Einblick in Mahbubes Gefühlswelt. Die Liebesszenen gehören zu den spannungsreichsten Passagen des Romans, in denen die fünfzehnjährige Mahbube, überwältigt von Rahims erotischer Ausstrahlung, mit für sie bisher unbekannten Stimmungen konfrontiert wird und die sie sogar gesellschaftliche und moralische Grenzen übertreten lassen.
Daß Mahbube am Schluß zurückkehrt und an der Seite des Mannes lebt, den sie ursprünglich nicht wollte, hat der Autorin den Vorwurf eingebracht, sich gegen die Selbstbestimmung der iranischen Frau auszusprechen. Doch die zentrale Botschaft des Romans lautet keineswegs, wie einige iranische Kritiker meinten, daß Rebellion gegen gesellschaftliche Normen und Normen wie die Vernunftehe letztlich doch immer zu Reue und Einsicht führen müsse. Denn Mahbube bleibt bis zum Schluß eine empfindsame Frau, die selbstbewußt und rebellisch ist.
Der Erfolg des Romans bei Lesern jeden Alters und Geschlechts ist auch darauf zurückzuführen, daß Mahbubes Liebesgeschichte nicht jenseits von Zeit und Raum spielt, sondern in einen konkreten historischen und kulturellen Kontext eingebettet ist. Die Schilderung des gesellschaftlichen Lebens zu Beginn der Herrschaft von Reza Schah, insbesondere im aristokratischen Milieu, und die Beschreibung traditioneller Bräuche und Riten, wie sie heute noch den Alltag vieler Iraner bestimmen, zählen zu den Stärken des Romans.
Die Komposition von orientalischer Erzähltradition - Rahmenerzählung à la Scheherazade -, iranischen literarischen Stoffen und Motiven und modernen Erzähltechniken machen aus "Morgen der Trunkenheit" ein ungewöhnlich spannendes Buch, das sich vor allem durch seine erfrischend einfache Sprache und klare Struktur gegen den in der zeitgenössischen Prosaliteratur Irans federführenden symbolistischen Modernismus in der Tradition Sadeq Hedayats abhebt. "Der Morgen der Trunkenheit" könnte eine neue Stufe in der Entwicklung des persischen Romans darstellen. Der Erfolg des Buches spricht dafür, daß sich die iranische Leserschaft nach einer Trendwende innerhalb der zeitgenössischen Prosaliteratur ihres Landes sehnt.
SANDRA GHANDTCHI
Fattaneh Haj Seyed Javadi: "Der Morgen der Trunkenheit". Roman. Aus dem Persischen übersetzt von Susanne Baghestani. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2000. 416 S., geb., 49,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Fattaneh Haj Seyed Javadis "Der Morgen der Trunkenheit"
Wie behandelt eine Autorin in der Islamischen Republik Iran das Thema Liebe, wenn sie keinen Anstoß erregen und trotzdem die Gemüter bewegen will? Kein Buch zeigt dies besser als der nun in deutscher Übersetzung vorliegende persische Bestsellerroman "Der Morgen der Trunkenheit" (1995) von Fattaneh Haj Seyed Javadi, einer der bestverkauften und umstrittensten Romane Irans der vergangenen Jahre. Außergewöhnlich an diesem Streit ist das Meinungsspektrum: Einerseits versucht man, das Buch als bedeutungslosen Trivialroman abzutun, andererseits wird seine Autorin mit den großen Romanciers Europas verglichen oder in die Tradition orientalischen Erzählens gestellt.
Die Diskussion beleuchtet gegenwärtige literarische Entwicklungen und reflektiert die von den meisten iranischen Literaten vertretene Einstellung, nach der man sich als Intellektueller scheut, zuzugeben, man werde von einem gut erzählten Roman berührt, der "moderne" Klischees meidet. Ferner bringt sie das bis heute - die persische Prosaliteratur bestimmende - Selbstverständnis des Schriftstellers als Mentor des Volkes zum Ausdruck. Vor diesem Hintergrund scheint es, als habe Haj Seyed Javadi ihren Roman bewußt gegen die Intellektuellen geschrieben, indem sie sich über bestimmte Regeln hinweggesetzt hat. Sie schreibt in einer einfachen und gefühlvollen Sprache und zeichnet ein volksnahes farbenreiches Bild der iranischen Gesellschaft. Statt in ihrem Roman das einfache Volk zu verteidigen, unterwirft sie die Handlung der Perspektive einer Aristokratentochter.
Im Teheran der dreißiger Jahre verliebt sich die fünfzehnjährige Aristokratentochter Mahbube unsterblich in den Tischlergesellen Rahim. Sie trotzt damit dem Willen ihrer Eltern, die für sie eine standesgemäße Heirat vorsehen, und lehnt den Sohn einer Prinzenfamilie ebenso ab wie ihren Cousin Mansur, der in sie verliebt ist. Obwohl ihre Eltern dagegen sind, stimmen sie schließlich der Heirat mit dem Tischlergesellen zu. Bereits nach kurzer Zeit muß Mahbube erkennen, daß ihre leidenschaftliche Liebe nicht den Anforderungen des Ehealltags in dem ärmlichen Kleinbürgermilieu standhalten kann. Die Auseinandersetzungen mit ihrem Ehemann und mit der im Haus lebenden Schwiegermutter eskalieren, als Rahim seine Cousine zur Zweitfrau nimmt. Nur ihr Sohn Almas hält sie noch bei ihm. Sie wird ein weiteres Mal schwanger, doch das gewaltsame, einer Vergewaltigung gleichkommende Verhalten Rahims läßt sie den Entschluß zur heimlichen Abtreibung des Kindes fassen. Nach dem Tod ihres inzwischen fünfjährigen Sohnes flieht sie, kehrt zu ihren Eltern zurück und wird schließlich Nebenfrau ihres Cousins Mansur. Fast vierzig Jahre später erzählt Mahbube im heutigen Teheran ihrer Nichte, die sich ebenfalls in den Kopf gesetzt hat, einen Mann mit einem anderen kulturellen Hintergrund zu heiraten, ihre Geschichte und warnt sie mit dem titelgebenden Vers "Der nächtliche Wein lohnt nicht den Morgen nach dem Rausch" vor einer unüberlegten Entscheidung.
Liebesgeschichten haben in der persischen Literatur eine lange Tradition. Haj Seyed Javadi experimentiert mit den Liebesvorstellungen der klassischen Dichtung, wie sie aus dem populären romantischen Epos "Layla und Madschnun" von Nizami oder den Gedichten von Hafis jedem Iraner bekannt sind. Charakteristisch für die darin besungene Liebe ist die Vorstellung von der unerfüllbaren Liebe, die genußreich und schmerzhaft zugleich ist. Mahbube rebelliert gegen die Generation ihrer Eltern, die sich dem ästhetischen Genuß dieser Dichtung zwar hingeben, sich in der Realität jedoch arrangierten Heiraten beugen. Mahbube will sich damit nicht zufriedengeben. Die Frage lautet: Kann eine wahnsinnige Leidenschaft überhaupt zu einer glücklichen Ehe führen? Durch eine raffiniert angelegte motivische Struktur erhält der Leser Einblick in Mahbubes Gefühlswelt. Die Liebesszenen gehören zu den spannungsreichsten Passagen des Romans, in denen die fünfzehnjährige Mahbube, überwältigt von Rahims erotischer Ausstrahlung, mit für sie bisher unbekannten Stimmungen konfrontiert wird und die sie sogar gesellschaftliche und moralische Grenzen übertreten lassen.
Daß Mahbube am Schluß zurückkehrt und an der Seite des Mannes lebt, den sie ursprünglich nicht wollte, hat der Autorin den Vorwurf eingebracht, sich gegen die Selbstbestimmung der iranischen Frau auszusprechen. Doch die zentrale Botschaft des Romans lautet keineswegs, wie einige iranische Kritiker meinten, daß Rebellion gegen gesellschaftliche Normen und Normen wie die Vernunftehe letztlich doch immer zu Reue und Einsicht führen müsse. Denn Mahbube bleibt bis zum Schluß eine empfindsame Frau, die selbstbewußt und rebellisch ist.
Der Erfolg des Romans bei Lesern jeden Alters und Geschlechts ist auch darauf zurückzuführen, daß Mahbubes Liebesgeschichte nicht jenseits von Zeit und Raum spielt, sondern in einen konkreten historischen und kulturellen Kontext eingebettet ist. Die Schilderung des gesellschaftlichen Lebens zu Beginn der Herrschaft von Reza Schah, insbesondere im aristokratischen Milieu, und die Beschreibung traditioneller Bräuche und Riten, wie sie heute noch den Alltag vieler Iraner bestimmen, zählen zu den Stärken des Romans.
Die Komposition von orientalischer Erzähltradition - Rahmenerzählung à la Scheherazade -, iranischen literarischen Stoffen und Motiven und modernen Erzähltechniken machen aus "Morgen der Trunkenheit" ein ungewöhnlich spannendes Buch, das sich vor allem durch seine erfrischend einfache Sprache und klare Struktur gegen den in der zeitgenössischen Prosaliteratur Irans federführenden symbolistischen Modernismus in der Tradition Sadeq Hedayats abhebt. "Der Morgen der Trunkenheit" könnte eine neue Stufe in der Entwicklung des persischen Romans darstellen. Der Erfolg des Buches spricht dafür, daß sich die iranische Leserschaft nach einer Trendwende innerhalb der zeitgenössischen Prosaliteratur ihres Landes sehnt.
SANDRA GHANDTCHI
Fattaneh Haj Seyed Javadi: "Der Morgen der Trunkenheit". Roman. Aus dem Persischen übersetzt von Susanne Baghestani. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2000. 416 S., geb., 49,80 DM.
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»Fintenreich und spannend erzählt, dass man auch als anspruchsvoller Leser nicht davon lassen wollte.« Frankfurter Allgemeine Zeitung