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  • Broschiertes Buch

Produktdetails
  • Ullstein Taschenbuch
  • Verlag: Ullstein TB
  • Durchges. Aufl.
  • Gewicht: 386g
  • ISBN-13: 9783548312255
  • ISBN-10: 354831225X
  • Artikelnr.: 24062917
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.12.1996

Klios willige Müllmänner
Geschichte ohne Goldschnitt: Greil Marcus kramt im Endlager / Von Andreas Platthaus

In der Kinderfernsehserie "Sesamstraße" gab es einen Störenfried, der in den unpassendsten Momenten den Deckel seiner Mülltonne im Hintergrund klappernd emporstieß, um die Akteure im Vordergrund mit beißenden Kommentaren zu bedenken: Oskar, das Müllmonster. Dadurch lernte man bereits im Vorschulalter, daß die Wahrheit nicht notwendig aus sauber gewaschenen Mündern kommen muß, sondern auch die Mülleimer-Stimmen gehört sein wollen. Es sind die Stimmen der Exzentriker und der Zyniker, die Stimmen der Außenseiter und der Abtrünnigen. Auch sie gehören zum Chor.

Doch immer noch meint die Rede vom "Mülleimer der Geschichte" ein Endlager, das keine erneute Artikulation zuläßt. Dort ruhen die Theorien mit geringer Halbwertszeit, die gescheiterten Akteure, die widerlegten Utopien. Als Trotzki 1917 dieses Diktum prägte und auf die Menschewiki münzte, konnte er nicht voraussehen, daß knapp siebzig Jahre später die Nachfolgeorganisationen der einstmals bolschewistischen Parteien in Osteuropa ohne Skrupel menschewistische Positionen beziehen würden. Die im Zug der russischen Oktoberrevolution von den Siegern in den Mülleimer expedierten Rudimente eines den menschlichen Bedürfnissen angepaßten Sozialismus werden heute entrümpelt und sollen den Neuaufbau eines Theoriegebäudes ermöglichen, das seinerseits bis auf die Grundmauern eingerissen worden ist.

Es lohnt sich also, den Mülleimer-Stimmen zuzuhören, und so lauscht ihnen vermehrt auch die Historiographie, seit sie Alltags-, Mentalitäts- und Kulturgeschichte betreibt. Dennoch führen die Hauptzugänge zum historischen Sinn immer noch weiträumig an den Mülleimern vorbei, denn die Recherche im Abraum der Geschichte hinterläßt Spuren: Das Odium des Abfalls umweht immer noch diejenigen, die im Müll statt in den Archiven wühlen. Oral History hat notwendigerweise einen gewissen Mundgeruch.

Doch aus dem kakophonischen Chor der Vertreter gegenwärtiger Historiographie, die vor unserer Haustür randalieren und uns ihre Geschichte in Halblederfolianten mit Goldschnitt anpreisen, hören wir vor allem denjenigen heraus, der einfach sagt: "Hören Sie sich meine Geschichte doch erst einmal an." Dann legt er eine Schallplatte auf, und es erklingen nicht die gesammelten Reden von Minister Moser, sondern früher Rock 'n' Roll aus den Fünfzigern oder ein Blues aus den Dreißigern. Auch das sind Mülleimer-Stimmen, die gar nicht erst dort abgelegt werden mußten, sondern nach Meinung der etablierten Geschichtsschreibung schon dort geboren wurden. Sie markieren den Gegensatz zwischen Historiographie und einer sinnlichen Geschichte, die nicht geschrieben, sondern nur erzählt werden kann. Der Unterschied zwischen Geschichte und Geschichten.

Geschichten benötigen Stimmen, um ihre Zuhörer in Stimmung zu versetzen, Erinnerungen zu evozieren, Atmosphäre zu erzeugen. Es sind, in Anknüpfung an Proust, akustische Madeleines. Die Geschichte unseres Jahrhunderts ist von solchen Geschichten geprägt, weil sie den Phonographen kennt, das Radio und den Fernseher. Wir wissen, daß wir gerade in der Badewanne lagen, als die Sondermeldung über Genschers Rücktritt kam, erinnern uns an die Untertitel über Rabins Ermordung in "Wetten, daß . . . ?" oder an die Musik, die - wieviel profaner ist das, aber auch wieviel bedeutsamer - beim ersten Rendezvous spielte. Solche akustischen oder visuellen Splitter fassen ihre Zeit in Töne und Bilder.

Natürlich zählen auch Romanciers zu diesen Mülleimer-Stimmen, denn auch in ihren Büchern wird vorrangig nicht Geschichte geschrieben, sondern es werden Geschichten erzählt, die dann wieder Geschichte konstituieren. Deshalb ist ein Historiker, der über das zwanzigste Jahrhundert schreibt, gut beraten, selbst von "seinen" Songs, Filmen und Büchern zu erzählen. Diese subjektive Kulturgeschichtsschreibung betreibt in Deutschland zum Beispiel Klaus Theweleit, in den Vereinigten Staaten wäre vor allem Greil Marcus zu nennen.

Wie fruchtbar eine solche genreüberschreitende Betrachtung sein kann, beweist Marcus' Analyse der literarischen Darstellung der nationalsozialistischen Judenvernichtung: In den frühen Texten zur Shoah, den Büchern von Isser Harel oder Hannah Arendt, war die Sprache emotional und drastisch, mehr Reportage als Reflexion des Geschehenen. Mit der Verwissenschaftlichung der Forschung wurden die Analysen kühler, die Unmittelbarkeit der Nazi-Verbrechen vermittelten nur noch populäre Thriller wie "Der Marathon-Mann". Allein in solchen fiktiven Büchern (und in der Fernsehserie "Holocaust") fand das Publikum noch einen lodernden Widerschein der Vergangenheit. Die Provokation von Daniel Goldhagens "Hitlers willige Vollstrecker" hat man nicht zuletzt in dessen schonungsloser Schilderung der Judenvernichtung erkannt, die sich der Thriller-Ästhetik bedient. Greil Marcus' schon 1976 erschienener Essay zum Thema "Nazi-Thriller" bestätigt nicht nur diese These, sondern erlaubt, sie zu erweitern: Goldhagen hätte demnach eine Rückkehr zu den Anfängen der Shoah-Forschung vollzogen, von deren Unmittelbarkeit einst die populären Darstellungsformen profitiert hatten, die wiederum "Hitlers willige Vollstrecker" beeinflußten - eine Kreisbewegung.

Trotz solch anregender Ausführungen gilt Marcus als "Pophistoriker" - ein Etikett, das ihm dank seiner langen Tätigkeit beim amerikanischen Musikmagazin "Rolling Stone" angeheftet wurde. Aber Marcus begann als Literaturkritiker und hat auch die anderen populären Künste nie aus den Augen verloren. Eine Auswahl dieser Gelegenheitsarbeiten der letzten zwanzig Jahre, vermischt mit kritischen Aufsätzen zur Historiographie, ist jetzt erstmals auf deutsch unter dem Titel "Der Mülleimer der Geschichte" erschienen.

Entscheidend für alle Texte dieses Buches ist die Konstruktion von Gegenwärtigkeit: "Ich befürchte nämlich, daß unser Geschichtsbewußtsein, so wie es in der Alltagskultur zum Ausdruck kommt, erdrückt wird, verkümmert und uns paralysiert; daß die weitverbreitete Annahme, Geschichte existiere bloß in der Vergangenheit, eine Mystifikation ist, an der alle kritischen Untersuchungen abprallen." Erst aus dem aktuellen Rückblick entsteht für Marcus die Vergangenheit, denn nicht Napoleon hat Geschichte gemacht, sondern Napoleons Geschichte entsteht, während wir über ihn sprechen.

Dieser Ansatz wird allerdings vom Autor selbst nicht ganz konsequent verfolgt, denn auch für Marcus gibt es immer wieder Ursprünge von Geschichte, sei es Robert Johnsons Mississippi-Blues oder der Popsong "It's too soon to know" von Deborah Chessler. Doch gleichzeitig entfaltet sich die Bedeutung dieser Anfänge erst aus der Rezeption: durch die Coverversionen anderer Musiker, durch die Erinnerungen, die der Hörer mit der Musik verbindet. Die historische Evolution rechtfertigt die Bedeutung eines Popsongs, eines Films, eines Buches, sie erhebt eine prinzipielle Singularität in den Rang eines Beginns. Wenn Michael Jackson sein letztes Album "HIStory" nannte, beweist er also lediglich Hybris, denn nur seine Zuhörer hätten das Recht, von seiner Geschichte zu sprechen.

Allein dem Historiker ist es möglich, his story, "seine eigene" Geschichte, zu verfassen und damit zu history zu machen, indem er durch seine subjektive Erinnerung und Erzählung vergessene Stimmen aus dem Mülleimer holt und sie zu Geschichte macht, also die historische Evolution korrigiert. Das ist die Absicht der meisten von Marcus' Texten, die eine Vielzahl von vergessenen Größen wieder in ihr Recht einsetzen wollen. Natürlich liegt diesem Ansinnen auch der Rechtfertigungsdrang einer Randdisziplin der Wissenschaftswelt zugrunde, die überraschen muß, wenn sie Aufmerksamkeit erzielen will. Die Trommler der Alltagskultur rekurrieren gerne auf obskure Vorläufer, um eine Entwicklungslinie entwerfen zu können, die den Erwartungen traditionell gestimmter Leser gerecht wird.

Doch selbst ein Theoretiker wie Marcus, der gern mit dem Verdikt von Unbezweifelbarkeit auftritt, läßt immer noch genügend subjektive Wertungen einfließen, die eine Festschreibung "seiner" erzählten Geschichte verhindern - und damit auch den verderblichen Übergang zur traditionellen Historiographie. Auf Wertfreiheit oder gar die poststrukturalistische These der strikten Trennung von Autor und Text pfeift Marcus. In seinem Versuch einer history bleibt his story immer erkennbar.

Greil Marcus: "Der Mülleimer der Geschichte". Über die Gegenwart der Vergangenheit. - Eine Zeitreise mit Bob Dylan, Wim Wenders, Susan Sontag, John Wayne, Adolf Hitler, Elvis Presley, Bill Clinton, Miou-Miou, Umberto Eco u. a. Deutsch von Fritz Schneider. Verlag Rogner und Bernhard, Hamburg 1996. 368 S., geb., 33,- DM.

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