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Saverio Pascale, der Protagonist dieses symbolreichen Familien-, Liebes- und Abenteuerromans, lebt als Sohn italienischer Einwanderer im ägyptischen Alexandria und leidet an einem merkwürdig ziellosen Heimweh. Seine Geschichte berichtet von der Suche nach einem Ort, an den er gehört; es ist die Geschichte einer zweifachen Reise: einer realen, zu den Ursprüngen seiner Familie, und einer Reise in die eigene Seele, wobei er sich ein Alter ego erschafft: den Ketzer Pascal, der in Carlomagno, der Heimat von Saverios Vater, gelebt hat und von der Inquisition zum Tode verurteilt wurde.

Produktbeschreibung
Saverio Pascale, der Protagonist dieses symbolreichen Familien-, Liebes- und Abenteuerromans, lebt als Sohn italienischer Einwanderer im ägyptischen Alexandria und leidet an einem merkwürdig ziellosen Heimweh. Seine Geschichte berichtet von der Suche nach einem Ort, an den er gehört; es ist die Geschichte einer zweifachen Reise: einer realen, zu den Ursprüngen seiner Familie, und einer Reise in die eigene Seele, wobei er sich ein Alter ego erschafft: den Ketzer Pascal, der in Carlomagno, der Heimat von Saverios Vater, gelebt hat und von der Inquisition zum Tode verurteilt wurde.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.10.1996

Lob des verwirrten Lebens
Maurizio Maggiani schürft in Traum und Geschichte / Von Winfried Wehle

Bei besseren Nachrichten darf man wohl auch mit der Tür ins Haus fallen.

"Der Mut des Rotkehlchens" ist der befremdliche Titel eines interessanten Romans. Der Autor Maurizio Maggiani, Jahrgang 1951, wird von der italienischen Kritik mit lebhafter Aufmerksamkeit bedacht. Es ist sein viertes Werk seit 1987, das erste, das auch in deutscher Sprache erscheint. Keine Frage: Er kann Geschichten erzählen und er versteht viel von Literatur. Aber er tut viel, um gerade dies zu verbergen. Seine Geschichte hat Anfang und Ende; ein "Held" (namens Saverio Pascale) übernimmt vom ersten Satz an die Blickführung. Der Gang der Dinge wird chronologisch in Ordnung gehalten. Die Sätze sind kurz, die Sprache ist leutselig - ein leichter Roman. Gewiß: der Anschein trügt. Am Schluß geht dem Helden und dem Leser auf, daß mit dieser Leichtigkeit ein rettendes Lebensprinzip gemeint ist, in der Art, wie es Milan Kundera ("Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins") oder Italo Calvino ("Lezioni americane") kulturkritisch ins Feld geführt haben.

Maggianis Buch ist ein moderner Roman erst auf den zweiten Blick. Er hat mehr im Sinn als das Erzählen des Erzählens, obwohl er es praktiziert; mehr als nur die Selbstdarstellung des Romans, obwohl er sich als ein Roman im Roman gibt; er sagt im autobiographischen Brustton der Überzeugung "ich", obwohl alles erfunden ist. Er zeigt, modernitätsbewußt, das Subjekt am Tropf der Sprache. Gleichwohl bleibt sie nur Therapeutikum, will nicht das Leben selbst sein.

Der junge Mensch ist Körpermensch; er ißt gern, tanzt viel, erfüllt die Wünsche europäischer Touristinnen. Eines Tages verschwindet sein Vater spurlos im Meer. Der Sohn entdeckt sich dadurch als ein inneres und äußeres Niemandsland: für Italien ein Emigrant, in Ägypten ein Fremder, staaten- und heimatlos; weder Europäer noch Orientale, eine "Leere" zwischen den Kulturen. Das einzige, was ihm der Vater hinterläßt, ist die unvollendete Geschichte seiner Anarchie. Wie andere hatte er Italien unter Mussolini verlassen, um die Gesinnung rein zu erhalten, bis die Zeit der offenen Auflehnung gekommen wäre. Der Roman setzt etwa um 1967 ein. Er erwähnt den anarchischen Aufbruch von 1968 mit keinem Wort, und doch handelt er nicht zuletzt auch davon.

Die Geschichte beginnt damit, daß der Sohn in die unerfüllte Biographie des Vaters eintritt, das heißt in seine Suche nach Heimat, nach einem bleibenden Grund. Der Freigeist, Bäcker von Beruf, verbarg, zur Verblüffung seines Erben, ein vielgelesenes Buch: den ersten Gedichtband von Giuseppe Ungaretti, der selbst in Alexandria geboren und aufgewachsen ist (wie der Erzähler). Er und der Vater waren sich auch in ihrer italienischen Heimat, in Carlomagno, persönlich begegnet. Das Buch aber, das dem Vater Bibel war, wurde zur geistigen Erweckung des Sohnes. Fortan hatte seine Suche einen Namen: Ungarettis Titel "Der verschüttete Hafen"; und ein Ziel, Carlomagno, wo sich der Aktivist der Tat und der Aktivist der Sprache (der sich zeitweilig Mussolini annäherte) wie an ihrem Ursprung getroffen hatten. Dort also mußte das Geheimnis ihres gemeinsamen Glaubens liegen.

Die Reise Saverios nach Carlomagno mißlingt. Doch er setzt sie fort, aber nicht mehr geographisch, sondern historisch. Wieder hatte ihn Ungaretti, der Dichter, auf die Spur gebracht. Er war ihm unerwartet in Rom begegnet - das Räderwerk der Analogie greift aus - und hatte ihm seinerseits eine Schrift gewidmet: die Abrechnung einer Ketzerverbrennung aus dem sechzehnten Jahrhundert. Der Gepeinigte heißt Pascal(e), und Saverio war sich völlig grundlos sicher, daß es nur sein eigener und der Name seines Vaters sein konnte. Er entschließt sich, Historiker und, als die Quellen schweigen, Schriftsteller dieses standfesten Renegaten zu werden. Um ihn zu verstehen, muß er in den Mythos von Carlomagno absteigen.

Carlomagno war Urgemeinde der Anarchie. Zu allen Zeiten lebten seine Bewohner der unbedingten Freiheit der Selbstbestimmung. Sie gab ihnen den "Mut" und die Leidensfähigkeit der Unangepaßten und Unverfälschten. Ihre Ortslegende machte sie zu Gesinnungsgenossen des Anarchisten Jesus. Mit seinen gewaltlosen Geschichten konnten sie der Gewalt der Römer widerstehen, die in die Landschaften die schnurgeraden Straßen ihrer imperialen Logik einzeichneten. Mit ihnen ließ sich die lebensfeindliche Körpersprache der Inquisition überstehen, der Faschismus Mussolinis, und - in verschwiegener Analogie - der Terrorismus der Roten Brigaden?

Carlomagno gibt der Notwendigkeit eine Heimat, der Macht der Systeme, Doktrinen, Ideologien mit den Kräften des Gemüts in den Rücken zu fallen. "Verwirren" ist ein Leitwort des Romans. Die Frage ist nur, wie sich die strenge Sprache der Vernunft und die unklare des Mythos verständigen sollen. Saverio findet keine Antwort. Von seinem Roman über Pascal hat er nur das Ende und den Anfang. Seine Mitte ist leer, wie er selbst. In der Geschichte waltet keine verbindende Logik.

Er muß zurück zum Anfang seiner Suche, das heißt zum "verschütteten Hafen" des Dichters. Ein zweiter Abstieg in eine Welt der Tiefe beginnt. Er nimmt das poetische Wort wörtlich: er taucht nach dem sagenhaften Hafen unter dem jetzigen Alexandrias. Bei der Rückkehr an die Oberfläche erleidet er eine Embolie und endet für Monate im Krankenhaus. Alle seine unvollendeten Geschichten kehren wieder - jetzt in der verwandelten Form von Träumen. Doch gerade diese Tauchgänge ins Vorrationale sind es, die sie erhellen. Eine fundamentale Belehrung wird ihm zuteil: die wahren Zusammenhänge webt die Phantasie. Nicht die Geschichte beantwortet letzte Fragen; in ihr werden nur mythische Anliegen körperlich. Ihre Inkarnationen aber versehen das Ursprüngliche allemal mit den Trübungen des Realen.

Jetzt kann Saverio den Roman Pascals abschließen. Er erfindet, was er nicht hatte finden können. Pascal, der Fremde in Carlomagno, abgerichtet von der Vernunft schlechter Erfahrungen, hat nahezu allen Sinn fürs Handeln eingebüßt. Sua, eine Gläubige der Anarchie, wählt ihn sich zum Mann. In dieser Vermählung gibt er ihr das bedeutendste seiner zivilisatorischen Vernunft: Buchstaben, Schrift und Buch, damit sie den Mythos aufschreiben kann, der in ihr lebt. Und sie gibt ihm den verschütteten Sinn für Leben zurück, so daß er die Buchstaben des Anarchisten Luther mit - seinem - Leben erfüllen kann.

Saverio hat in dieser Geschichte das Erbe des Vaters begriffen. Carlomagno, der Mythos der Anarchie, kann nur kultiviert weiterleben. Der urwüchsige Gehorsam gegenüber der kreatürlichen Vernunft muß immer mit dem Leben, dem eigenen, bezahlen, solange sie Anarchie in der Tat ausübt. Lebenserhaltend aber ist eine Anarchie der Sprache. Ihr Modell, ihr Ort, ihre Heimat ist die Literatur. Sie versöhnt den starren Buchstaben mit der Freiheit seiner Bedeutung. In ihr lebt der Mythos der Anarchie fort, wenn sie Namen und Begriffe wieder in Geschichten und Bildern löst. Für Römer, Inquisitoren, Ideologen (und Terroristen) ist der Sinn des Lebens radikal eindeutig. Der Zwang der einen Geschichte, die sie verfolgen, tötet die Freiheit der vielen möglichen Geschichten. Ästhetische Anarchie tut not; sie ist die gebotene Widerstandsbewegung gegen alle fanatischen Ordnungshüter. Durch das epische Raunen dieses Romans sickert nach und nach sein ernsthaftes Anliegen durch: das Lob des verwirrten Lebens.

Und Saverio? Zur rechten Romanzeit stellt sich auch dem letzten Pascal seine Sua ein. Sie heißt Fatiha, ist ausgebildete Medizinerin und palästinensische Terroristin, auf ihre Weise in Alexandria abgetaucht. Sie holt ihn, sehr körperlich, ins Leben zurück. Denn nicht die Kunst ist das Leben. Es ist das Leben selbst; die Kunst nur ihr stärkstes Elixier. Diese Lektion erteilt ihm Fatiha. Umgekehrt wandelt sich die Terroristin durch seine Geschichte zur Hebamme (und Historikerin). Das Leben wird lebenswert nicht, indem man es von seinen Feinden befreit, sondern es vermehrt zur Welt kommen läßt.

Auch die Heimatsuche Saverios findet dadurch eine überraschende Ankunft. Am Ende geht ihm auf, daß er bereits zu Anfang am Ziel war: in Alexandria. Das Exil, die Fremde, die Unzugehörigkeit, die ihn damals verunsichert hatte, wird ihm jetzt als die ursprünglichste Bedingung von wahrer Heimat bewußt. Zwar hatte er sich hier als ein ,Nichts' empfunden. Aber erst durch seine Geschichte wurde ihm klar, daß er nur hier nichts Bestimmtes sein muß, sondern werden kann, was er will. Alexandria, die chaotische, nicht zu beherrschende Stadt, schafft Erleichterung. Sie wird unmerklich zum Sinnbild der versunkenen anarchistischen Heimat, deren Mythos sich noch in der Kunst auswirkt. Es ist, als ob der Autor Hans Blumenbergs "Arbeit am Mythos" habe beglaubigen wollen.

Der Roman geht durchaus mit der Zeit, aber gegen ihre Auswüchse. Er ist, wenn man so will, konservativ, aber im Sinne moderner Kunst. Er gibt sich betont, gelegentlich forciert leicht, erzählfreudig, luftig und präzise fabulierend. Vielleicht, um sein Plädoyer für ästhetische Anthropologie nicht allzu anstrengend und eindeutig werden zu lassen. Das würde nicht nach Alexandria passen.

Maurizio Maggiani: "Der Mut des Rotkehlchens". Roman. Aus dem Italienischen übersetzt von Barbara Schaden. Berlin Verlag, Berlin 1996. 362 S., geb., 39,80 DM.

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