Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs legt der französische Soziologe und Kulturtheoretiker Roger Caillois mit Der Mythos und der Mensch eine Kulturen und Zeiten übergreifende Studie über die Bedeutung der Einbildungskraft für die Welt der Erkenntnis und das menschliche Handeln vor. Von Beschreibungen sogenannter 'Naturvölker' über Legenden aus dem alten China bis hin zum literarischen Paris des 19. Jahrhunderts: Auf individueller wie auf sozialer Ebene kommen im Mythos, so Caillois' radikale These, grundlegende Prinzipien zum Ausdruck, die der Mensch mit der Natur teilt, sodass ihm die Natur umgekehrt wiederum als Bild und Ausdruck dieser Prinzipien erscheinen kann. Ausgehend von der Durkheim-Schule und den Forschungen Marcel Mauss' konfrontiert Caillois das Denken über den Mythos mit den Erkenntnissen deutscher, englischer und amerikanischer Soziologie. Von Vertretern der Kritischen Theorie wurde seine Vorstellung einer falschen Totalität von Mensch und Natur angegriffen, doch zugleich gilt es die analytische Qualität eines Denkens anzuerkennen, das radikal auf die Wirklichkeit zielt.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Maximilian Gillessen ist weiterhin fasziniert von diesen nun in der Übersetzung von Peter Geble vorliegenden sieben Artikeln von Roger Caillois aus den Jahren 1934 bis 1937. Wie der Autor sich dem Mythos anhand von Texten über Insekten-Mimese oder die frühminoische Kultur nähert, scheint Gillessen erstaunlich. Miteinander verbunden durch ihre Methode erschließen die vielfältigen Texte dem Rezensenten die kollektive Kraft des Mythos.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.01.2023Figuren der Imagination
Von der einen Natur, die auch die Mythen bildende Phantasie prägt: Ein Band von Roger Caillois erscheint zum ersten Mal auf Deutsch.
Während eines Treffens der surrealistischen Gruppe im Dezember 1934 bestaunte André Breton das plötzliche Zucken sogenannter Springbohnen, die ihm Benjamin Péret aus Mexiko mitgebracht hatte. Tatsächlich beginnen sich im Inneren des Gewächses die Larven einer bestimmten Mottenart bei Erwärmung zu regen. Gegen Bretons Wunsch, die Samenkapseln verschlossen zu lassen, um frei über die möglichen Ursachen des Wunderbaren zu spekulieren, begehrte nur einer auf: der damals zweiundzwanzigjährige Roger Caillois, der später wie kein anderer Autor des Surrealismus die Grenzbereiche zwischen Ästhetik, Anthropologie, Religionswissenschaft und Biologie erkundet hat.
Ein Positivist im klassischen Sinne war Caillois nie. Anstatt das Irrationale auszuschließen, es als Täuschung oder Aberglaube zu verwerfen, wollte er die ihm eigene Rationalität und Kohärenz aufzeigen. Im Zentrum seines Denkens stand die Einheit der Natur. Die Annahme einer bruchlosen Kontinuität aller Phänomene erlaubte es dem einstigen Schüler von Marcel Mauss und Georges Dumézil, die Formen der belebten und unbelebten Materie in vielfältige Beziehungen zu den Schöpfungen der Imagination zu setzen.
Erste Modelle für eine solche Phänomenologie des Imaginären präsentierte Caillois in dem 1938 erschienenen, nun in einer vorzüglichen Übersetzung von Peter Geble vorliegenden Band "Der Mythos und der Mensch". Der innere Zusammenhang der sieben zwischen 1934 und 1937 zunächst verstreut publizierten Artikel mag sich angesichts der Vielfalt der behandelten Themen - von mimetischen Insekten über den chinesischen Kaiser Shi Huangdi bis zur frühminoischen Kultur - nicht unmittelbar erschließen. Er liegt in der Methode.
Die kollektive, bindende Qualität von Mythen und Legenden lässt sich Caillois zufolge weder auf soziale Faktoren noch auf individualpsychologische Konflikte reduzieren. Verständlich als Knotenpunkte von Affekten, Bildern und Obsessionen würden sie erst innerhalb einer biologischen Perspektive. Was das heißt, hat Caillois am eindrücklichsten in seiner berühmten Studie über die Gottesanbeterin, dem umfangreichsten Text des Bandes, gezeigt.
Die menschenähnliche Gestalt des Tieres und das Verhalten der Weibchen, die die Männchen während oder nach der Paarung verschlingen, haben die Menschen zu allen Zeiten fasziniert. Dass das Insekt zu einer universellen, ambivalent besetzten Figur der Imagination werden konnte und so vielen dämonischen Geliebten aus Mythen und Sagen seine Züge leiht, führt Caillois auf eine - wohlgemerkt nicht rein symbolische, sondern ontologische - Äquivalenz zwischen Natur und Einbildungskraft zurück. Der Mythos tritt an die Stelle des tierischen Instinkts, er reinszeniert den realen Akt als Phantasma. In diesem Sinne ist die Gottesanbeterin ein "objektives Ideogramm, das in der Außenwelt verwirklicht, was in der Gefühlswelt virtuell bleibt".
Nicht weniger überraschend verläuft Caillois' Analyse des mimetischen Äußeren verschiedener Insektenarten. Die Mechanismen der natürlichen Auslese könnten die erstaunlichen Nachbildungen von Blättern, Blüten, Steinen oder anderen Tieren für ihn nur unzureichend erklären. Nicht der Nutzen sei für derartige Tarntrachten bestimmend, sondern eine Tendenz zur Auflösung des Individuums in der Umgebung, zur Entpersönlichung, die Caillois im Gleichheitsstreben des magischen Denkens ebenso wie in bestimmten Zuständen Schizophrener wiedererkennen will. Ganze Kulturen unterlägen diesem Konflikt zwischen Selbstbehauptung und Selbstaufgabe, und trotz aller Polemik, die Caillois der Psychoanalyse widmet, ist Freuds Todestrieb nicht fern.
In dem für die heutige Literaturwissenschaft wohl interessantesten Aufsatz des Bandes beschäftigt sich Caillois mit dem Fortleben des Mythos in der Moderne - mit einer Frage also, die im Zentrum des von ihm zusammen mit Georges Bataille und Michel Leiris begründeten Collège de Sociologie stand. Die Populärliteratur des neunzehnten Jahrhunderts habe mit ihren Darstellungen eines nächtlichen, von unsichtbaren Schurken und Geheimgesellschaften beherrschten Paris einen literarischen Mythos von großer Suggestionskraft hervorgebracht.
Caillois argumentiert nicht ästhetisch, sondern literatursoziologisch und wendet sich bewusst gegen die "Konzentration auf das Meisterwerk". Was für ihn zählt, ist weder der "Genuss am Schönen" noch die Selbstbeschränkung der modernen Literatur auf ihre "autonome Welt". Vielmehr plädiert er für die Herstellung eines kollektiven Bewusstseins durch "ein Übergreifen der Einbildungskraft auf das Leben". MAXIMILIAN GILLESSEN
Roger Caillois: "Der Mythos und der Mensch".
Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Peter Geble. Hrsg. von Anne von der Heiden und Sarah Kolb. August Verlag, Berlin 2022. 240 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Von der einen Natur, die auch die Mythen bildende Phantasie prägt: Ein Band von Roger Caillois erscheint zum ersten Mal auf Deutsch.
Während eines Treffens der surrealistischen Gruppe im Dezember 1934 bestaunte André Breton das plötzliche Zucken sogenannter Springbohnen, die ihm Benjamin Péret aus Mexiko mitgebracht hatte. Tatsächlich beginnen sich im Inneren des Gewächses die Larven einer bestimmten Mottenart bei Erwärmung zu regen. Gegen Bretons Wunsch, die Samenkapseln verschlossen zu lassen, um frei über die möglichen Ursachen des Wunderbaren zu spekulieren, begehrte nur einer auf: der damals zweiundzwanzigjährige Roger Caillois, der später wie kein anderer Autor des Surrealismus die Grenzbereiche zwischen Ästhetik, Anthropologie, Religionswissenschaft und Biologie erkundet hat.
Ein Positivist im klassischen Sinne war Caillois nie. Anstatt das Irrationale auszuschließen, es als Täuschung oder Aberglaube zu verwerfen, wollte er die ihm eigene Rationalität und Kohärenz aufzeigen. Im Zentrum seines Denkens stand die Einheit der Natur. Die Annahme einer bruchlosen Kontinuität aller Phänomene erlaubte es dem einstigen Schüler von Marcel Mauss und Georges Dumézil, die Formen der belebten und unbelebten Materie in vielfältige Beziehungen zu den Schöpfungen der Imagination zu setzen.
Erste Modelle für eine solche Phänomenologie des Imaginären präsentierte Caillois in dem 1938 erschienenen, nun in einer vorzüglichen Übersetzung von Peter Geble vorliegenden Band "Der Mythos und der Mensch". Der innere Zusammenhang der sieben zwischen 1934 und 1937 zunächst verstreut publizierten Artikel mag sich angesichts der Vielfalt der behandelten Themen - von mimetischen Insekten über den chinesischen Kaiser Shi Huangdi bis zur frühminoischen Kultur - nicht unmittelbar erschließen. Er liegt in der Methode.
Die kollektive, bindende Qualität von Mythen und Legenden lässt sich Caillois zufolge weder auf soziale Faktoren noch auf individualpsychologische Konflikte reduzieren. Verständlich als Knotenpunkte von Affekten, Bildern und Obsessionen würden sie erst innerhalb einer biologischen Perspektive. Was das heißt, hat Caillois am eindrücklichsten in seiner berühmten Studie über die Gottesanbeterin, dem umfangreichsten Text des Bandes, gezeigt.
Die menschenähnliche Gestalt des Tieres und das Verhalten der Weibchen, die die Männchen während oder nach der Paarung verschlingen, haben die Menschen zu allen Zeiten fasziniert. Dass das Insekt zu einer universellen, ambivalent besetzten Figur der Imagination werden konnte und so vielen dämonischen Geliebten aus Mythen und Sagen seine Züge leiht, führt Caillois auf eine - wohlgemerkt nicht rein symbolische, sondern ontologische - Äquivalenz zwischen Natur und Einbildungskraft zurück. Der Mythos tritt an die Stelle des tierischen Instinkts, er reinszeniert den realen Akt als Phantasma. In diesem Sinne ist die Gottesanbeterin ein "objektives Ideogramm, das in der Außenwelt verwirklicht, was in der Gefühlswelt virtuell bleibt".
Nicht weniger überraschend verläuft Caillois' Analyse des mimetischen Äußeren verschiedener Insektenarten. Die Mechanismen der natürlichen Auslese könnten die erstaunlichen Nachbildungen von Blättern, Blüten, Steinen oder anderen Tieren für ihn nur unzureichend erklären. Nicht der Nutzen sei für derartige Tarntrachten bestimmend, sondern eine Tendenz zur Auflösung des Individuums in der Umgebung, zur Entpersönlichung, die Caillois im Gleichheitsstreben des magischen Denkens ebenso wie in bestimmten Zuständen Schizophrener wiedererkennen will. Ganze Kulturen unterlägen diesem Konflikt zwischen Selbstbehauptung und Selbstaufgabe, und trotz aller Polemik, die Caillois der Psychoanalyse widmet, ist Freuds Todestrieb nicht fern.
In dem für die heutige Literaturwissenschaft wohl interessantesten Aufsatz des Bandes beschäftigt sich Caillois mit dem Fortleben des Mythos in der Moderne - mit einer Frage also, die im Zentrum des von ihm zusammen mit Georges Bataille und Michel Leiris begründeten Collège de Sociologie stand. Die Populärliteratur des neunzehnten Jahrhunderts habe mit ihren Darstellungen eines nächtlichen, von unsichtbaren Schurken und Geheimgesellschaften beherrschten Paris einen literarischen Mythos von großer Suggestionskraft hervorgebracht.
Caillois argumentiert nicht ästhetisch, sondern literatursoziologisch und wendet sich bewusst gegen die "Konzentration auf das Meisterwerk". Was für ihn zählt, ist weder der "Genuss am Schönen" noch die Selbstbeschränkung der modernen Literatur auf ihre "autonome Welt". Vielmehr plädiert er für die Herstellung eines kollektiven Bewusstseins durch "ein Übergreifen der Einbildungskraft auf das Leben". MAXIMILIAN GILLESSEN
Roger Caillois: "Der Mythos und der Mensch".
Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Peter Geble. Hrsg. von Anne von der Heiden und Sarah Kolb. August Verlag, Berlin 2022. 240 S., geb., 22,- Euro.
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