Ist es der europäischen Gesellschaft gelungen, die sexuelle Reizwirkung des weiblichen Körpers im Verlauf der vergangenen zweitausend Jahre immer stärker einzuschränken und zu modellieren? Wurde in den traditionellen Gesellschaften außerhalb Europas die »Domestikation« der Erotik des Frauenkörpers in geringerem Maße durchgeführt als bei uns?
Nach Nacktheit und Scham (st 2285), Intimität (st 2335) und Obszönität und Gewalt (st 2451) ist Der erotische Leib der vierte und vorletzte Band von Hans Peter Duerrs Auseinandersetzung mit der Zivilisationstheorie Norbert Elias'. Anhand einer Kulturgeschichte der weiblichen Brust und der diversen Techniken ihrer Verhüllung und Enthüllung versucht er nachzuweisen, daß die Vorstellung, die modernen Menschen hätten ihre »animalische Natur« auf bessere Weise gezähmt als die vormodernen, auf einem falschen Bild sowohl der heutigen »westlichen« als auch der traditionellen Gesellschaften beruht.
Nach Nacktheit und Scham (st 2285), Intimität (st 2335) und Obszönität und Gewalt (st 2451) ist Der erotische Leib der vierte und vorletzte Band von Hans Peter Duerrs Auseinandersetzung mit der Zivilisationstheorie Norbert Elias'. Anhand einer Kulturgeschichte der weiblichen Brust und der diversen Techniken ihrer Verhüllung und Enthüllung versucht er nachzuweisen, daß die Vorstellung, die modernen Menschen hätten ihre »animalische Natur« auf bessere Weise gezähmt als die vormodernen, auf einem falschen Bild sowohl der heutigen »westlichen« als auch der traditionellen Gesellschaften beruht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.09.1997Die Nackten und die Roten
Hüllen fallen, Hemmungen bleiben: Hans Peter Duerr beharrt auch im vierten Band auf seiner These von der Universalität der Scham
Als der Suhrkamp Verlag 1977 eine Taschenbuchausgabe von Norbert Elias' Abhandlung über den Prozeß der Zivilisation veröffentlichte, trug er zur Wiederentdeckung und Popularisierung eines Autors bei, dessen Werk in den sozial- und kulturwissenschaftlichen Debatten der folgenden Jahre eine zentrale Rolle spielen sollte. Aus der historischen Distanz betrachtet, erscheint die damalige Elias-Konjunktur wie eine letzte Nachwehe der Freud- und Marx-Rezeption, die mit der Studentenbewegung begonnen hatte. Zentrale Ansätze beider Denker waren in seiner Zivilisationstheorie aufgehoben, zugleich aber auch entscheidend modifiziert worden. Freuds These vom Triebverzicht als Grundlage aller kulturellen Leistungen hatte Elias zum Modell des zivilisatorischen Affekthaushalts angeregt, der ihm zufolge durch eine Umsetzung von Fremdzwängen in Selbstzwänge und ein stetes Vorrücken der Schamschwellen gekennzeichnet ist. Materialistisch aber mutet seine Theorie insofern an, als sie den Prozeß der Zivilisation als Resultat gesellschaftlicher und zumal ökonomischer Entwicklungen ansieht, die den einzelnen in ein immer dichter werdendes Gefüge von Abhängigkeiten einbinden.
Wie Marx und Freud nahm auch Norbert Elias den zivilisatorischen Fortschritt mitsamt seinen ambivalenten Auswirkungen als eine unbestreitbare Tatsache. Doch anders als Marx glaubte er nicht an einen zukünftigen Gesellschaftszustand, in dem sich schließlich alles zum Besten wenden würde. Und anders als Freud zog Elias, der seine Leitideen noch vor 1939 entwickelt hatte, den Rückfall in die Barbarei als Möglichkeit gar nicht erst in Betracht. Beiden Theorien war so die radikale Spitze genommen. Die moderne Zivilisation erschien als ein Zwangskorsett, aus dem es kein Entrinnen gab. Was Wunder also, daß Elias' Entwurf bei vielen Intellektuellen, die sich nach der kurzen Zeit des Aufbegehrens um ihre utopischen Erwartungen getäuscht sahen, auf so fruchtbaren Boden fiel.
Dabei war Elias' Zivilisationstheorie schon damals in vielen Aspekten obsolet. Die Alltagserfahrung sprach gegen sie. Die siebziger und achtziger Jahre standen keineswegs mehr im Zeichen zunehmender Affekteindämmung. Die Folgen der sexuellen Befreiung waren unübersehbar. Nicht nur in den Rotlichtvierteln, sondern auch in den Saunen und Strandbädern, in den großen Publikumsillustrierten und im Fernsehen hatte sie Zustände gezeitigt, die alles, was Elias über die Freizügigkeit der mittelalterlichen Badehäuser zu berichten wußte, in den Schatten stellte. Eine ähnliche Entwicklung hatte auch in anderen Bereichen eingesetzt, aus denen Elias Musterbeispiele für seine Theorie der zunehmenden Affektmodellierung gewonnen hatte. Im Alltagsleben waren die gezierten Tischmanieren und gepflegten Umgangsformen bürgerlicher Provenienz einem liberalen Laisser-faire gewichen, während sich nicht nur in My Lai und Kambodscha, sondern auch in den Straßen der Großstädte Gewaltorgien abspielten, die die ritterlichen Kampfvergnügen des Mittelalters als Kindereien erscheinen ließen.
Daß Theorien für die Wirklichkeit bisweilen blind machen, zeigte sich, als Hans Peter Duerr 1988 unter dem Titel "Der Mythos vom Zivilisationsprozeß" den ersten Band seiner Auseinandersetzung mit Elias veröffentlichte. Die Härte, mit der er seinen Angriff führte, mag übertrieben gewesen sein. Doch die scharfe Reaktion seiner Kritiker stand ihr in nichts nach. Als eine der letzten "großen Theorien" war einigen Kultursoziologen und Feuilletonisten Elias' Zivilisationsmodell offensichtlich so lieb geworden, daß sie es mit einem Dogmatismus verteidigten, der wie ein Residuum aus der Zeit der Marx-Exegesen anmutete. Duerr machte es ihnen allerdings insofern leicht, als er auf einen eigenen theoretischen Gegenentwurf weitgehend verzichtete. Statt dessen setzte er ganz auf die empirische Überzeugungskraft der von ihm gesammelten Belege aus der europäischen Kulturgeschichte und Ethnologie, die Elias' Auffassungen widersprachen.
Auf diese Weise schwoll Duerrs Kritik an der Theorie des Zivilisationsprozesses im Verlauf von neun Jahren auf vier voluminöse Bände an, obgleich die zentralen Gegenargumente eigentlich alle schon im ersten Band vorgebracht worden waren und heute ganz andere Theorien die kulturwissenschaftlichen Debatten beherrschen. Tatsächlich scheint sich sein Unternehmen gegenüber dem ursprünglichen Ziel verselbständigt zu haben. Denn was er mit seinem Werk inzwischen anstrebt, ist offensichtlich nicht weniger als eine allgemeine Sittengeschichte der Menschheit. Angesichts der Fülle von Materialien, die seit Georg Buschans oder Eduard Fuchs' monumentalen Abhandlungen von Kulturhistorikern und Ethnologen zusammengetragen worden sind, kann ein solches Vorhaben heute nur noch eklektisch geraten. Die Annahme liegt nahe, daß Duerrs Angriffe auf Elias vor allem dem Zweck dienen, Ordnung in das Panoptikum von sexuellen Gewohnheiten, abstrusen Sitten und Gebräuchen zu bringen, das er vor dem Leser entwirft.
Dafür spricht auch die Anlage des vierten Bandes, der dem Thema der weiblichen Brustscham gewidmet ist. Die Anmerkungen zur Theorie des Zivilisationsprozesses beschränken sich auf das Einleitungskapitel und ein paar Seitenhiebe. Elias' These von der zunehmenden gesellschaftlichen Verflechtung der Individuen als Ursache für die fortwährende Internalisierung von Fremdzwängen hält Duerr entgegen, daß sich die gegenseitige Abhängigkeit in hochgradig arbeitsteiligen Gesellschaften keineswegs positiv auf die öffentliche Moral auswirke. Gegenwärtig führe sie vielmehr zu einer Anonymisierung, die es einzelnen erlaube, in Fernseh-Talkshows hemmungslos ihre sexuellen Neigungen zu bekennen, die vor ihren Angehörigen und Freunden auszubreiten sie sich schämen würden. Von einem allgemeinen Vorrücken der öffentlichen Schamschwelle könne also nicht die Rede sein. Eher das Gegenteil sei der Fall. Beobachtungen von Soziologen zeigten, daß junge Frauen sich zwar an den Badestränden ungeniert ihres Oberteils entledigten, weil dies heute so üblich sei, ihre Brüste aber schamhaft bedeckten, wenn sich ihnen zufällig ein Bekannter nähere.
Bewirke die Vielzahl kurzfristiger, anonymer und gesichtsloser Kontakte in der modernen Gesellschaft eine Verminderung der Peinlichkeitsempfindungen, so seien diese - entgegen einer anderen Grundannahme von Norbert Elias - in den archaischen und traditionellen Gesellschaften mit ihrem wesentlich engeren sozialen Bindungsgeflecht weit ausgeprägter. Nicht nur gegenseitige Aggressionen, sondern auch sexuelle Regungen müßten in solchen kleinen Gruppen stark eingedämmt und kontrolliert werden. Dies gelte nicht zuletzt für den erotischen Reiz, der von der entblößten weiblichen Brust wohl in allen Kulturen ausgelöst werde. Tatsächlich gelingt es Duerr, nachzuweisen, wie wenig das uns aus Fotografien von barbusigen Afrikanerinnen oder Asiatinnen geläufige Bild der komplizierten sozialen Realität entspricht. In vielen außereuropäischen Kulturen ist das Entblößen des Oberkörpers allein ein Privileg der verheirateten älteren Frauen, während die unverheirateten Mädchen ihren Busen zu bedecken haben. In anderen Kulturen sorgen Sanktionen gegen die aufdringlichen Blicke und die Berührungslust der Männer dafür, daß die Grenzen der Moral eingehalten werden.
Die weibliche Brustscham ist Duerr zufolge eine anthropologische Universalie. Jede Kultur hat Mechanismen entwickelt, um mit den visuellen Reizen, die vom entblößten Leib der Frau ausgehen, so umzugehen, daß sie den sozialen Zusammenhalt nicht gefährden. Zugleich ist die Schamlosigkeit überall auf bestimmte Räume beschränkt. In der modernen Gesellschaft ist dieser Raum paradoxerweise weniger der private Bereich als vielmehr die Öffentlichkeit selbst. Nachdem dieser äußere Rahmen in steter Abgrenzung von Elias erst einmal abgesteckt ist, werden - wie schon in den ersten drei Bänden - die zentralen Thesen anhand einer Unzahl von Beispielen aus der Kulturgeschichte und Ethnologie belegt. Was der Autor über das viktorianische Dekolleté, die Ideale der flachen Brust, des Bubi- und des Hängebusens, die Enterotisierung der Mutterbrust, die "hüpfenden Doppelhügel" in Ostasien, den amerikanischen Busenfetischismus und die Geschichte des Büstenhalters zu berichten weiß, erscheint zunächst wie ein Paradeexempel in fröhlicher Wissenschaft. Allerdings geht es dem Leser bald wie dem Zuschauer der Verfolgungsjagden in amerikanischen Krimiserien. Sie sind immer nur für eine beschränkte Zeit amüsant.
Bewundernswert bleibt die Besessenheit des Autors. Blättert man den zweihundertseitigen Anmerkungsteil und das siebzigseitige Literaturverzeichnis auch nur durch, dann kann man ermessen, welch enormer Arbeitsaufwand in diesem Buch steckt. Selbst noch das kleinste Detail wird sorgfältigst belegt. Widmet sich Duerrs "Mythos vom Zivilisationsprozeß" auch einem aktuellen Thema, so ist es dennoch ein unzeitgemäßes Werk. Nur wenige wissenschaftliche Autoren bringen heute noch ein so hohes Maß an Geduld, Energie und Sammelleidenschaft auf. Bei jedem anderen Sujet wäre man versucht, vom Sublimation zu reden. Angesichts dieser Arbeitsleistung ist die Verve, ja Wut verständlich, mit der Duerr sich im Anhang des Buches seinen Gegnern zuwendet. Mit gutem Recht weist er viele Einwände als oberflächlich, fadenscheinig und oft auch heuchlerisch zurück. Andere, wie etwa die Kritik an seiner "Kraut-und-Rüben-Methodik", hätten dagegen eine eingehendere Auseinandersetzung verdient.
Gleichwohl sind seine scharfen Gegenangriffe immer ein intellektuelles Vergnügen. Sie lesen sich kurzweiliger als das ganze übrige Buch. An einer Stelle geht er jedoch entschieden zuweit: Noch sind die öffentlichen Schamschwellen nicht so weit gesunken, als daß man in einer seriösen Tageszeitung wiedergeben könnte, was er auf Seite 552 seiner schärfsten Kritikerin vorschlägt. KARL-HEINZ KOHL
Hans Peter Duerr: "Der erotische Leib". Der Mythos vom Zivilisationsprozeß. Band 4. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997. 669 S., 211 Abb., geb., 78,- DM.
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Hüllen fallen, Hemmungen bleiben: Hans Peter Duerr beharrt auch im vierten Band auf seiner These von der Universalität der Scham
Als der Suhrkamp Verlag 1977 eine Taschenbuchausgabe von Norbert Elias' Abhandlung über den Prozeß der Zivilisation veröffentlichte, trug er zur Wiederentdeckung und Popularisierung eines Autors bei, dessen Werk in den sozial- und kulturwissenschaftlichen Debatten der folgenden Jahre eine zentrale Rolle spielen sollte. Aus der historischen Distanz betrachtet, erscheint die damalige Elias-Konjunktur wie eine letzte Nachwehe der Freud- und Marx-Rezeption, die mit der Studentenbewegung begonnen hatte. Zentrale Ansätze beider Denker waren in seiner Zivilisationstheorie aufgehoben, zugleich aber auch entscheidend modifiziert worden. Freuds These vom Triebverzicht als Grundlage aller kulturellen Leistungen hatte Elias zum Modell des zivilisatorischen Affekthaushalts angeregt, der ihm zufolge durch eine Umsetzung von Fremdzwängen in Selbstzwänge und ein stetes Vorrücken der Schamschwellen gekennzeichnet ist. Materialistisch aber mutet seine Theorie insofern an, als sie den Prozeß der Zivilisation als Resultat gesellschaftlicher und zumal ökonomischer Entwicklungen ansieht, die den einzelnen in ein immer dichter werdendes Gefüge von Abhängigkeiten einbinden.
Wie Marx und Freud nahm auch Norbert Elias den zivilisatorischen Fortschritt mitsamt seinen ambivalenten Auswirkungen als eine unbestreitbare Tatsache. Doch anders als Marx glaubte er nicht an einen zukünftigen Gesellschaftszustand, in dem sich schließlich alles zum Besten wenden würde. Und anders als Freud zog Elias, der seine Leitideen noch vor 1939 entwickelt hatte, den Rückfall in die Barbarei als Möglichkeit gar nicht erst in Betracht. Beiden Theorien war so die radikale Spitze genommen. Die moderne Zivilisation erschien als ein Zwangskorsett, aus dem es kein Entrinnen gab. Was Wunder also, daß Elias' Entwurf bei vielen Intellektuellen, die sich nach der kurzen Zeit des Aufbegehrens um ihre utopischen Erwartungen getäuscht sahen, auf so fruchtbaren Boden fiel.
Dabei war Elias' Zivilisationstheorie schon damals in vielen Aspekten obsolet. Die Alltagserfahrung sprach gegen sie. Die siebziger und achtziger Jahre standen keineswegs mehr im Zeichen zunehmender Affekteindämmung. Die Folgen der sexuellen Befreiung waren unübersehbar. Nicht nur in den Rotlichtvierteln, sondern auch in den Saunen und Strandbädern, in den großen Publikumsillustrierten und im Fernsehen hatte sie Zustände gezeitigt, die alles, was Elias über die Freizügigkeit der mittelalterlichen Badehäuser zu berichten wußte, in den Schatten stellte. Eine ähnliche Entwicklung hatte auch in anderen Bereichen eingesetzt, aus denen Elias Musterbeispiele für seine Theorie der zunehmenden Affektmodellierung gewonnen hatte. Im Alltagsleben waren die gezierten Tischmanieren und gepflegten Umgangsformen bürgerlicher Provenienz einem liberalen Laisser-faire gewichen, während sich nicht nur in My Lai und Kambodscha, sondern auch in den Straßen der Großstädte Gewaltorgien abspielten, die die ritterlichen Kampfvergnügen des Mittelalters als Kindereien erscheinen ließen.
Daß Theorien für die Wirklichkeit bisweilen blind machen, zeigte sich, als Hans Peter Duerr 1988 unter dem Titel "Der Mythos vom Zivilisationsprozeß" den ersten Band seiner Auseinandersetzung mit Elias veröffentlichte. Die Härte, mit der er seinen Angriff führte, mag übertrieben gewesen sein. Doch die scharfe Reaktion seiner Kritiker stand ihr in nichts nach. Als eine der letzten "großen Theorien" war einigen Kultursoziologen und Feuilletonisten Elias' Zivilisationsmodell offensichtlich so lieb geworden, daß sie es mit einem Dogmatismus verteidigten, der wie ein Residuum aus der Zeit der Marx-Exegesen anmutete. Duerr machte es ihnen allerdings insofern leicht, als er auf einen eigenen theoretischen Gegenentwurf weitgehend verzichtete. Statt dessen setzte er ganz auf die empirische Überzeugungskraft der von ihm gesammelten Belege aus der europäischen Kulturgeschichte und Ethnologie, die Elias' Auffassungen widersprachen.
Auf diese Weise schwoll Duerrs Kritik an der Theorie des Zivilisationsprozesses im Verlauf von neun Jahren auf vier voluminöse Bände an, obgleich die zentralen Gegenargumente eigentlich alle schon im ersten Band vorgebracht worden waren und heute ganz andere Theorien die kulturwissenschaftlichen Debatten beherrschen. Tatsächlich scheint sich sein Unternehmen gegenüber dem ursprünglichen Ziel verselbständigt zu haben. Denn was er mit seinem Werk inzwischen anstrebt, ist offensichtlich nicht weniger als eine allgemeine Sittengeschichte der Menschheit. Angesichts der Fülle von Materialien, die seit Georg Buschans oder Eduard Fuchs' monumentalen Abhandlungen von Kulturhistorikern und Ethnologen zusammengetragen worden sind, kann ein solches Vorhaben heute nur noch eklektisch geraten. Die Annahme liegt nahe, daß Duerrs Angriffe auf Elias vor allem dem Zweck dienen, Ordnung in das Panoptikum von sexuellen Gewohnheiten, abstrusen Sitten und Gebräuchen zu bringen, das er vor dem Leser entwirft.
Dafür spricht auch die Anlage des vierten Bandes, der dem Thema der weiblichen Brustscham gewidmet ist. Die Anmerkungen zur Theorie des Zivilisationsprozesses beschränken sich auf das Einleitungskapitel und ein paar Seitenhiebe. Elias' These von der zunehmenden gesellschaftlichen Verflechtung der Individuen als Ursache für die fortwährende Internalisierung von Fremdzwängen hält Duerr entgegen, daß sich die gegenseitige Abhängigkeit in hochgradig arbeitsteiligen Gesellschaften keineswegs positiv auf die öffentliche Moral auswirke. Gegenwärtig führe sie vielmehr zu einer Anonymisierung, die es einzelnen erlaube, in Fernseh-Talkshows hemmungslos ihre sexuellen Neigungen zu bekennen, die vor ihren Angehörigen und Freunden auszubreiten sie sich schämen würden. Von einem allgemeinen Vorrücken der öffentlichen Schamschwelle könne also nicht die Rede sein. Eher das Gegenteil sei der Fall. Beobachtungen von Soziologen zeigten, daß junge Frauen sich zwar an den Badestränden ungeniert ihres Oberteils entledigten, weil dies heute so üblich sei, ihre Brüste aber schamhaft bedeckten, wenn sich ihnen zufällig ein Bekannter nähere.
Bewirke die Vielzahl kurzfristiger, anonymer und gesichtsloser Kontakte in der modernen Gesellschaft eine Verminderung der Peinlichkeitsempfindungen, so seien diese - entgegen einer anderen Grundannahme von Norbert Elias - in den archaischen und traditionellen Gesellschaften mit ihrem wesentlich engeren sozialen Bindungsgeflecht weit ausgeprägter. Nicht nur gegenseitige Aggressionen, sondern auch sexuelle Regungen müßten in solchen kleinen Gruppen stark eingedämmt und kontrolliert werden. Dies gelte nicht zuletzt für den erotischen Reiz, der von der entblößten weiblichen Brust wohl in allen Kulturen ausgelöst werde. Tatsächlich gelingt es Duerr, nachzuweisen, wie wenig das uns aus Fotografien von barbusigen Afrikanerinnen oder Asiatinnen geläufige Bild der komplizierten sozialen Realität entspricht. In vielen außereuropäischen Kulturen ist das Entblößen des Oberkörpers allein ein Privileg der verheirateten älteren Frauen, während die unverheirateten Mädchen ihren Busen zu bedecken haben. In anderen Kulturen sorgen Sanktionen gegen die aufdringlichen Blicke und die Berührungslust der Männer dafür, daß die Grenzen der Moral eingehalten werden.
Die weibliche Brustscham ist Duerr zufolge eine anthropologische Universalie. Jede Kultur hat Mechanismen entwickelt, um mit den visuellen Reizen, die vom entblößten Leib der Frau ausgehen, so umzugehen, daß sie den sozialen Zusammenhalt nicht gefährden. Zugleich ist die Schamlosigkeit überall auf bestimmte Räume beschränkt. In der modernen Gesellschaft ist dieser Raum paradoxerweise weniger der private Bereich als vielmehr die Öffentlichkeit selbst. Nachdem dieser äußere Rahmen in steter Abgrenzung von Elias erst einmal abgesteckt ist, werden - wie schon in den ersten drei Bänden - die zentralen Thesen anhand einer Unzahl von Beispielen aus der Kulturgeschichte und Ethnologie belegt. Was der Autor über das viktorianische Dekolleté, die Ideale der flachen Brust, des Bubi- und des Hängebusens, die Enterotisierung der Mutterbrust, die "hüpfenden Doppelhügel" in Ostasien, den amerikanischen Busenfetischismus und die Geschichte des Büstenhalters zu berichten weiß, erscheint zunächst wie ein Paradeexempel in fröhlicher Wissenschaft. Allerdings geht es dem Leser bald wie dem Zuschauer der Verfolgungsjagden in amerikanischen Krimiserien. Sie sind immer nur für eine beschränkte Zeit amüsant.
Bewundernswert bleibt die Besessenheit des Autors. Blättert man den zweihundertseitigen Anmerkungsteil und das siebzigseitige Literaturverzeichnis auch nur durch, dann kann man ermessen, welch enormer Arbeitsaufwand in diesem Buch steckt. Selbst noch das kleinste Detail wird sorgfältigst belegt. Widmet sich Duerrs "Mythos vom Zivilisationsprozeß" auch einem aktuellen Thema, so ist es dennoch ein unzeitgemäßes Werk. Nur wenige wissenschaftliche Autoren bringen heute noch ein so hohes Maß an Geduld, Energie und Sammelleidenschaft auf. Bei jedem anderen Sujet wäre man versucht, vom Sublimation zu reden. Angesichts dieser Arbeitsleistung ist die Verve, ja Wut verständlich, mit der Duerr sich im Anhang des Buches seinen Gegnern zuwendet. Mit gutem Recht weist er viele Einwände als oberflächlich, fadenscheinig und oft auch heuchlerisch zurück. Andere, wie etwa die Kritik an seiner "Kraut-und-Rüben-Methodik", hätten dagegen eine eingehendere Auseinandersetzung verdient.
Gleichwohl sind seine scharfen Gegenangriffe immer ein intellektuelles Vergnügen. Sie lesen sich kurzweiliger als das ganze übrige Buch. An einer Stelle geht er jedoch entschieden zuweit: Noch sind die öffentlichen Schamschwellen nicht so weit gesunken, als daß man in einer seriösen Tageszeitung wiedergeben könnte, was er auf Seite 552 seiner schärfsten Kritikerin vorschlägt. KARL-HEINZ KOHL
Hans Peter Duerr: "Der erotische Leib". Der Mythos vom Zivilisationsprozeß. Band 4. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997. 669 S., 211 Abb., geb., 78,- DM.
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