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Mit Die Tatsachen des Lebens liegt nach Nacktheit und Scham (1988), Intimität (1990), Obszönität und Gewalt (1993) sowie Der erotische Leib (1997) Hans Peter Duerrs Kritik am Mythos vom Zivilisationsprozeß vollständig im Taschenbuch vor. Im abschließenden Band setzt sich Duerr mit der Frage auseinander, ob die »facts of life«, also die Bereiche der Sexualität, der körperlichen Reifung, der Körperfunktionen und der abweichenden Verhaltensweisen, im Verlauf der historischen Entwicklung tatsächlich, wie von Norbert Elias und seiner Schule behauptet, in immer stärkerem Maße mit dem Bann des…mehr

Produktbeschreibung
Mit Die Tatsachen des Lebens liegt nach Nacktheit und Scham (1988), Intimität (1990), Obszönität und Gewalt (1993) sowie Der erotische Leib (1997) Hans Peter Duerrs Kritik am Mythos vom Zivilisationsprozeß vollständig im Taschenbuch vor. Im abschließenden Band setzt sich Duerr mit der Frage auseinander, ob die »facts of life«, also die Bereiche der Sexualität, der körperlichen Reifung, der Körperfunktionen und der abweichenden Verhaltensweisen, im Verlauf der historischen Entwicklung tatsächlich, wie von Norbert Elias und seiner Schule behauptet, in immer stärkerem Maße mit dem Bann des Verschweigens oder mit Euphemismen belegt und hinter die Kulissen des öffentlichen Lebens verdrängt wurden.
Autorenporträt
Hans Peter Duerr, geboren 1943 in Mannheim, war bis 2005 Professor für Ethnologie und Kulturgeschichte in Bremen. Er lebt in Mannheim und Heidelberg.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.12.2002

Der tägliche Reizansturm
Hans Peter Duerr bekleidet die Nacktheit / Von Michael Adrian

Bald viertausend Seiten hat der ideale, der mit Engelsgeduld gewappnete Leser von Hans Peter Duerrs mit "Die Tatsachen des Lebens" nun abgeschlossener fünfbändiger Kritik an Norbert Elias' "Prozeß der Zivilisation" durchschritten, er hat Tausende von Fußnoten studiert und Hunderte von Illustrationen bestaunt, da verliert der Autor kurz vor Schluß dann doch noch die Contenance und greift zum Äußersten - zum Kursivdruck: "In erster Linie habe ich zu zeigen versucht, daß die Behauptungen Elias' über die geschichtliche Entwicklung schlicht falsch sind." Jetzt ist es soweit: Ein Lebenswerk steht gegen das andere.

Seit Erscheinen von "Nacktheit und Scham" (1988), dem ersten Band seines Großwerks "Der Mythos vom Zivilisationsprozeß", hat Duerr zentrale Behauptungen von Elias' Theorie attackiert. Elias' einflußreiches Modell war das eines zivilisatorischen Reifeprozesses, der einen wachsenden Zwang zum Selbstzwang, zur Affektkontrolle, zu "zivilisiertem" Verhalten schuf. Mit dem Selbstlob der Zivilisation einher ging die Vorstellung von ihrem Jenseits: dem ungezügelten öffentlichen Sexualleben der primitiven Völker und den vielfältigen Gelegenheiten unbefangenen nackten Beieinanderseins von Männern und Frauen, von Kindern und Eltern in einem Mittelalter, das die Körperscham noch nicht kannte.

Mit einer Herkulesarbeit an Quellenforschung bemühte Duerr sich in seinen Büchern, diese Vorstellungen ins Reich der Mythen zu überführen, und auch der abschließende, wiederum reich illustrierte Band knüpft an die eingeführte Matrix der Argumente an. Der Elias-Schule wird Naivität im Umgang mit Bild- und Textdokumenten vorgehalten. Zeitgenössische Darstellungen etwa, die angeblich die große Selbstverständlichkeit sexueller Kontakte in mittelalterlichen Badestuben belegen, zeigten in Wirklichkeit bordellähnliche Badebetriebe, also Ausnahmeerscheinungen. Und Elias wie auch Foucault schlössen aus dem Gespräch eines jungen Mannes mit einer Prostituierten in den pädagogischen Colloquia des Erasmus von Rotterdam auf die selbstverständlichere Integration der Huren ins öffentliche Leben noch im sechzehnten Jahrhundert, ohne den satirischen Charakter der Schrift zu würdigen.

Stets geht es dem quellenkritischen Ethnologen darum, was man aus welchen Dokumenten über die Üblichkeiten des alltäglichen Lebens und die Ordnung der Geschlechter ablesen kann. Mit im Normalfall nach Geschlechtern getrennten Badestuben und Schlafstätten gibt Duerr dem Mittelalter die Würde der Scham zurück. Sein Anspruch aber reicht von Anfang an weiter. Die geschlechtliche Scham soll als eine anthropologische Konstante erwiesen werden. Unzählige ethnologische Zeugnisse führt der Autor zu diesem Zweck vor, die von den geschlechtlichen Sitten, Anstandsregeln und Hygienevorstellungen der verschiedensten Völker aus den verschiedensten Zeitaltern künden, und das mitunter in so raschem Wechsel, daß der Leser benommen durch die immer auch leicht wahnhaft anmutende Welt menschlicher Sexualregulierung taumelt. Eine Invarianz läßt sich eben nicht erzählen, nur Beleg um Beleg belegen.

Einzelne Kapitel widmen sich dabei den vielfältigen Antworten auf die Frage, welches der Geschlechter das aktivere sei, untersuchen rassistische Sexualphantasien und den Glauben an "lüsterne Bauern und unzivilisierte Arbeiter". Wie sich zeigt, gehen Projektionen sexueller Exorbitanz nicht nur in eine Richtung: von "uns" zu den "anderen", zu den "Altvordern" oder denen "da unten". Duerr zitiert Berichte, nach denen die Bewohnerinnen der Neuen Welt von äußerster Neugier auf die Genitalien der weißen Männer erfüllt waren, von denen sie sich wahre Wunderdinge versprachen. Ohnehin liest sich das Sexualleben der Stammeskulturen über weite Strecken nicht wie eine Feier leichtgeschürzter Ausgelassenheit, sondern wie ein deprimierendes Protokoll hastiger und verstohlener Quickies. Fein abgestufte Regeln der Blickvermeidung zwischen den Geschlechtern, die Vermeidung geschlechtlicher Aufreizungen auch bei spärlicher Kleidung, eine hohe Wertschätzung der Privatsphäre, eine Kultur der Indirektheit und der ritualisierten Höflichkeit: Das ist das Ergebnis der Materialsammlung zu den außereuropäischen Face-to-face-Gesellschaften mit ihrer dichten sozialen Kontrolle.

Ebensowenig wie die Behauptung eines freieren Umgangs mit der Leiblichkeit in früheren Zeiten oder fernen Weltgegenden läßt Duerr die Vorstellung einer stärkeren Affektkontrolle in der Moderne gelten. Nicht durch weniger, sondern durch mehr enthemmte Sexualität und eruptive Gewalt sei die Moderne geprägt. Duerr skizziert die systematischen Vergewaltigungsverbrechen von Angehörigen der Roten und der japanischen Armee ebenso wie die vereinzelteren Exzesse der deutschen Wehrmacht; ein Hearing zur Vergewaltigung amerikanischer Soldatinnen im Golfkrieg, das zu dem Schluß kam, die Frauen seien durch die eigenen Truppen viel stärker gefährdet gewesen als durch die feindlichen, verbietet, solche Erscheinungen einfach dem Freund-Feind-Schema zuzuschlagen.

Es ist freilich nicht zu übersehen, daß der Autor bei den Belegen für seine These einer "sukzessiven Abschwächung der Triebmodellierung" die Blickrichtung plötzlich umkehrt. Sein Bild der Gegenwart ist nämlich an jener Minderheit orientiert, die sich sexuelle Übergriffe zuschulden kommen läßt oder öffentlich Libertinage betreibt, während es ihm bei der Kritik am Mythos der schamlosen Sexualität des Mittelalters und der "Wilden" stets darum gegangen war, aus der Überlieferung auf das zu schließen, was als geteilter alltäglicher Erwartungshorizont, als unterstellte Sexualnorm gelten konnte. Nur deshalb fällt es Duerr so leicht, die sogenannte Informalisierungsthese beiseite zu schieben, mit der die Zivilisationstheorie die Folgen der Lockerung von Tabus, von Kleidungs- und Verhaltensnormen seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts beschreibt. Duerr hält die Annahme starker informeller, indirekter Formen der Triebkontrolle für widerlegt, weil Umfragen eine Zunahme sexueller Übergriffe anzeigen.

Was aber ist mit jener Mehrheit, die ebenfalls mit einer alltäglichen Flut potentieller geschlechtlicher Reize konfrontiert ist, die ebenfalls die Unterwäsche der Bedienung eher sieht als das bestellte Getränk und trotzdem nicht hinlangt? Müßte nicht eine Zivilisationstheorie gerade auf die Frage antworten, ob und wie sich die Einstellungen zu Sexualnormen und zum (anderen) Geschlecht unter diesem Reizansturm wandeln - und auf welche Weise er im Normalfall eben doch in den Alltag integriert werden kann? Ein Mechanismus dazu mag ja in der fortschreitenden Ausdifferenzierung kommerzieller Sexualität liegen, wie sie sich etwa in Tokioter Sex-Clubs bekundet, die als U-Bahn-Abteil gestaltete Räume bieten. Dort können sich die Kunden bei Hostessen in Schulmädchenuniform die Erleichterung holen, die sie sich sonst im Feierabendverkehr verschaffen würden.

Die im Lauf der Jahre am "Mythos vom Zivilisationsprozeß" geäußerte Kritik, auf die Duerr einmal mehr explizit antwortet, war gewiß nicht allein deshalb so scharf, weil sich alle Kritiker mit Haut und Haaren den Annahmen der Eliasschen Zivilisationstheorie verschrieben hätten. Ohne großen theoretischen Aufwand, doch mit beeindruckender Belesenheit und Gelehrsamkeit hat der Ethnologe vielmehr eine Beweislast umgekehrt: Wer an der genuin modernen Überzeugung weitgehender Plastizität und Formbarkeit des Menschentiers festhalten möchte, muß diesen Materialberg erst einmal abtragen. Die Frage aber, wie tiefgreifend historischer Wandel trotz der von Duerr behaupteten anthropologischen Invarianz sein kann, bleibt in seinem Werk unbeantwortet.

Hans Peter Duerr: "Die Tatsachen des Lebens". Der Mythos vom Zivilisationsprozeß. Band 5. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 1020 S., zahlr. Abb., geb., 49,90 [Euro].

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