Produktdetails
  • Verlag: Goldmann Verlag
  • ISBN-13: 9783442760145
  • ISBN-10: 3442760143
  • Artikelnr.: 23925024
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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.04.2001

Waffen, Pferde, Bibelworte
Mit Melville in New York: Frederick Buschs "Nachtinspektor"

"I would prefer not to" sagt Melvilles Schreiber Bartleby immer wieder: eine bescheiden vorgetragene, aber hartnäckig bis zur Selbstauslöschung durchgehaltene Verweigerung, die zutiefst irritiert. Man hat dieses "Ich möchte lieber nicht" als Melvilles Antwort auf seine Erfolglosigkeit deuten wollen; aber das wird der existenziellen Tiefe und Totalität dieser Negation kaum gerecht. Der Fehler des Kopisten besteht ja gerade darin, daß er sich nicht bloß dem bürokratischen Stumpfsinn, sondern dem Leben selbst verweigert. Melville verstummte nach dieser Novelle für mehr als dreißig Jahre und beschied sich bis zu seinem Tod 1891 mit einer kargen Existenz als Zollbeamter im New Yorker Hafen. "Ich bin der Mann, der ich war", sagt der Nachtinspektor jetzt. "Ich bin mein dunkelstes, bestgehütetes Geheimnis. Will ich das? Ich möchte lieber nicht. Habe ich die Wahl? Nein."

Ein Bewunderer und "Bordkamerad" ist Melville freilich geblieben, wenigstens in Frederick Buschs Roman: William Bartholomew, ehemals Theologiestudent in Yale, dann Scharfschütze der Nordstaatenarmee, jetzt, 1867, angehender Geschäftsmann im verrufensten Viertel Manhattans. Im Bürgerkrieg hat er Offiziere, milchbärtige Rekruten, ja sogar Frauen und Künstler aus dem Hinterhalt erschossen, bis ihm eine feindliche Kugel selber das Gesicht zerfetzte. Was davon übrigblieb, verbirgt er unter einer Maske aus Pappmaché, die er nur beim Liebesspiel mit Jessie, seiner kreolischen Geliebten, abnimmt.

Billy ist desillusioniert, heillos verwundet an Leib und Seele; mithin ein Leidensgenosse von Kapitän Ahab und Billy Budd. Seine Maske verbirgt Narben und offene Wunden, und sie bringt, wie die Larven des rätselhaften "Confidence-Man", die Menschen zum Reden. Schutzschild und Waffe eines Gezeichneten, macht sie ihn in den Augen der anderen zu einem furchteinflößenden Gespenst, wenn er nachts, gejagt von Albträumen und den Furien der Erinnerung, ziel- und rastlos durch die Straßen und Slums der Boomtown streift. Auch sein Zynismus - Geld regiert die Welt, und jeder ist sich selbst der nächste - ist nur eine Maske, die seine empfindsame Seele gegen Scham, Schuld und Ohnmacht panzert. Billy möchte lieber nicht: mit den Wölfen heulen und von der Skrupellosigkeit der Spekulanten, Schieber und Geschäftsleute profitieren. Aber das Wirtschaftswunder ist nur die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln, der Geschäftsmann ein parfümierter Killer und Billy auch nur ein Mensch. Als solcher erkennt und verehrt er in dem verkrachten Literaten, Trinker und schwermütigen Skeptiker Melville sein besseres Ich.

Die Freundschaft mit dem Hafeninspektor weckt in ihm neue Lebensgeister und einen alten heiligen Zorn, der sich aller Verdammten dieser Erde erbarmt, seien es nun Negersklaven, Indianer oder Juden, chinesische Wäscherinnen oder Mulattinnen. Stoff genug jedenfalls für ein Melodram, das Dickens ausdrücklich zitiert und die Kolportageromane des 19. Jahrhunderts eher unfreiwillig. Der maskierte Rächer der Enterbten wird von einem "dunklen Vergil" durch alle Höllenkreise eines dantesken Infernos geführt. Der Elendstourist sieht in den Saloons und Bordellen Falschspieler, Zuhälter und Mörder, vor allem aber reiche Weiße, die Kinder schänden und Sklavinnen vergewaltigen. Zusammen mit seinem schwarzen Cicerone, Melville und einem aufgeklärten Journalisten gründet Billy eine Heilige Allianz wider das Böse, das unter der Maske ehrbarer Geschäftsmänner schwarze Waisenkinder kidnappt, in Fässer einsargt und an Fabrikbesitzer im Norden verschachert. Melville, obwohl noch paralysiert vom Selbstmord seines Sohns, läuft bei dieser Jagd zu alter seemännischer Form - "Legt euch in die Riemen, Männer!" - und somnambuler Hellsichtigkeit auf, dem scharfsichtigen Billy kommt seine mörderische Treffsicherheit zugute. Allein, alles Retten und Rächen kommt zu spät: Die Kleinen sind bereits erstickt, und Jessie entpuppt sich als Komplizin der Kinderräuberbande.

Der Verrat der Femme fatale und der sentimentale Abschiedskuß, die Selbstermannung des einsamen Zynikers zum engagierten Moralisten erinnern nun wieder eher an den Humphrey Bogart der Schwarzen Serie und Rick in "Casablanca". Der melodramatische Thriller-Plot, der Großstadt-Zorro und seine moralisierenden Meditationen streifen mehr als einmal die Grenze des Sozialkitschs. "Bitter ist es, arm zu sein", notiert Hiob Melville einmal in sein Log- und Tagebuch, "und bitter, verunglimpft zu werden, und, ach, bitter sind diese Wasser von Handel und vom Tod, denn die Leichen der ertrunkenen Kinder treiben und kreisen über dem Grund . . . und nur in den Büchern läßt das Meer ein winziges Stück Menschheit zurückkehren." Billy, ohnehin mehr Geist als Mensch, wurde von Buschs Melville nur erfunden, um "einige harte Wahrheiten zu verkünden". Sie enthalten mehr Tran als Moby Dick, und das geht nicht nur aufs Konto der Übersetzerin: "Diese Kinder, diese winzigen, dunkelhäutigen Früchte der Menschheit, im Stich gelassen von Mann und Frau und Gott. Wie können wir? Wie kann Er?" Billy möchte lieber kein Pfaffe sein; aber schon als Soldat geriet ihm jeder Hinterhalt zum theologischen Akt, jeder Schuß aus dem Baumwipfel zum Schuß von der Kanzel. Er ist eine Geißel Gottes in jedem Sinne: ein Ungeheuer, das Mensch sein, ein Lustmörder, der im Showdown die Sünden von Sadismus und Hochmut sühnen will. Es geht um Waffen und Pferde, Bibelworte und politische Korrektheit, patriotische Frontiermythen und multikulturelle Integration, und das ist nicht nur sehr amerikanisch gedacht, sondern selbst für Billy "zuviel Prinzip und allzuviel Protest".

Nicht ganz so schwarzweiß gemalt ist das Bildnis Melvilles als eines melancholischen Schreibers, der seine Verzweiflung zur Kunst und seine Erfolglosigkeit zu seinem Stolz macht, als Familienvater und Ehemann aber kläglich versagt. Der Literaturdozent Busch läßt in das Porträt des Autors als Gescheiterter unauffällig literarische Zitate und Reflexionen über das Schreiben, Ruhm und Verantwortung des Schriftstellers einfließen. Am stärksten ist er zweifellos dort, wo sich seine durchaus geschmeidige und sinnliche Sprache ans Beschreiben hält. So vergrübelt und verworren seine idealistische Kritik des Yankee-Materialismus und des Emersonschen Pragmatismus ausfällt, so virtuos vermag er die Geräusche, Gerüche und grellen Szenerien der Halb- und Unterwelt New Yorks heraufzubeschwören, und so erweist sich Busch zuletzt im Guten wie im Schlechten als ein gelehriger Schüler Melvilles.

MARTIN HALTER

Frederick Busch: "Der Nachtinspektor". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Barbara Schaden. Berlin Verlag, Berlin 2000. 368 S., geb., 42,- DM.

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