Triumph und Tragödie am Nanga Parbat
Seit mehr als 100 Jahren werden die besten Bergsteiger aus aller Welt von dem 8125 Meter hohen Nanga Parbat magisch angezogen. Im Jahr 1970 versuchte Reinhold Messner zusammen mit seinem Bruder Günther die schier unmögliche Besteigung über die 4500 Meter hohe Rupalwand, die höchste Eis- und Felswand der Erde. Beim Abstieg wurde der Bruder von einer Lawine verschüttet - und dieses tragische Ereignis läßt Reinhold Messner bis heute nicht los. In diesem Buch erinnert er sich an jene unglückselige Expedition.Sein Gipfel ist bedeckt von glitzerndem Firn, eisüberströmt sind seine Grate und Flanken - der Nanga Parbat ist seit 100 Jahren der Gral der besten Bergsteiger. In den dreißiger Jahren versucht sich der berühmte Willy Merkl als einer der ersten an diesem Schicksalsberg - und kommt dabei um; seinem Halbbruder Karl Herrligkoffer wird es zur Obsession, den "Nanga" für ihn zu bezwingen. Immer wieder rüstet er Expeditionen dorthin aus. 1970 plant er mit den Brüdern Messner die schier unmögliche Besteigung über die 4500 Meter hohe Rupalwand, die höchste Eis- und Felswand der Erde. Und auf beklemmende Weise wiederholt sich die Geschichte: Beim Abstieg wird Reinhold Messners Bruder Günther von einer Lawine verschüttet. Die tragische Erinnerung an die Ereignisse läßt Reinhold Messner bis heute nicht los. "Der nackte Berg" ist die Geschichte des Sterbens und Überlebens, in der Messner zum Beobachter seiner eigenen Tragödie wird.
Seit mehr als 100 Jahren werden die besten Bergsteiger aus aller Welt von dem 8125 Meter hohen Nanga Parbat magisch angezogen. Im Jahr 1970 versuchte Reinhold Messner zusammen mit seinem Bruder Günther die schier unmögliche Besteigung über die 4500 Meter hohe Rupalwand, die höchste Eis- und Felswand der Erde. Beim Abstieg wurde der Bruder von einer Lawine verschüttet - und dieses tragische Ereignis läßt Reinhold Messner bis heute nicht los. In diesem Buch erinnert er sich an jene unglückselige Expedition.Sein Gipfel ist bedeckt von glitzerndem Firn, eisüberströmt sind seine Grate und Flanken - der Nanga Parbat ist seit 100 Jahren der Gral der besten Bergsteiger. In den dreißiger Jahren versucht sich der berühmte Willy Merkl als einer der ersten an diesem Schicksalsberg - und kommt dabei um; seinem Halbbruder Karl Herrligkoffer wird es zur Obsession, den "Nanga" für ihn zu bezwingen. Immer wieder rüstet er Expeditionen dorthin aus. 1970 plant er mit den Brüdern Messner die schier unmögliche Besteigung über die 4500 Meter hohe Rupalwand, die höchste Eis- und Felswand der Erde. Und auf beklemmende Weise wiederholt sich die Geschichte: Beim Abstieg wird Reinhold Messners Bruder Günther von einer Lawine verschüttet. Die tragische Erinnerung an die Ereignisse läßt Reinhold Messner bis heute nicht los. "Der nackte Berg" ist die Geschichte des Sterbens und Überlebens, in der Messner zum Beobachter seiner eigenen Tragödie wird.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.12.2002Über allen Gipfeln ist Buhl
Bald jährt sich die Erstbesteigung des Nanga Parbat zum fünfzigsten Mal: Die Bücher zur Feier sind schon da / Von Freddy Langer
Eisbrüche, nackter Fels, atemraubend steile Wände: Auf den Fotografien der deutschen Nanga-Parbat-Expeditionen von 1934 bis 1962, die Horst Höfler für einen Bildband zusammengetragen hat, werden alle Formen des Sublimen durchdekliniert. Aber erst im Konterfei des Erstbesteigers Hermann Buhl verdichtet sich der fast schon schicksalhafte Kampf um den Berg. Das Bild vom 5. Juli 1953, dem Tag nach der Rückkehr vom Gipfel, zeigt einen Greis, dem das Erlebnis tiefe Furchen ins Gesicht gemeißelt hat und der in einer Mischung aus Abwesenheit und Schmerz wie durch die Kamera hindurchstarrt. Nur wer weiß, daß Buhl erst achtundzwanzig Jahre alt gewesen ist, begreift: Dies ist kein Porträt. Es ist die Allegorie des Überlebens.
Hermann Buhl war Anfang der fünfziger Jahre der vielleicht beste Bergsteiger der Welt. Schon mit achtzehn kletterte er im damals höchsten Grad und unternahm spektakuläre Touren. Von Haus aus arm, soll er selbst im Fels bisweilen in Socken unterwegs gewesen sein. Seine Ausdauer und die Unempfindlichkeit gegen Unwetter waren legendär, sorgten aber nicht nur für Bewunderung. Denn wer nicht mithalten konnte, wurde als Seilpartner kurzerhand ausgetauscht. Ihn asozial zu nennen mag so falsch nicht sein. Buhl folgte fern einer bürgerlichen Existenz nur seinen Regeln. Käme es hart auf hart, so wurde gesagt, ginge er über die eigene Leiche.
Am Nanga Parbat hatte sich Buhl im Alleingang den sechs Kilometer langen Weg vom letzten Lager zum 8125 Meter hohen Gipfel durch den Schnee gespurt - ein Triumph der Gier über den Verstand. Doch der schlimmste Teil sollte erst kommen. Am Ende war er einundvierzig Stunden unterwegs, bevor er das Lager wieder erreichte. Er hatte nichts zu essen dabei, nichts zu trinken, und um Last zu sparen, den Rucksack mit warmer Kleidung zurückgelassen. In der Nacht mußte er bei minus zwanzig Grad acht Stunden lang stehend an einer Steilwand ausharren. Beim Abstieg begann er zu halluzinieren. Zehn Atemzüge brauchte er pro Schritt. Zwei Zehen erfroren ihm in den Stiefeln.
"Über allen Gipfeln ist Buhl", würde ihn später der Münchner Oberbürgermeister am Flughafen feiern. Buhl hatte den "Schicksalsberg der Deutschen" besiegt, nachdem dort etwa dreißig Bergsteiger umgekommen waren. Und er symbolisierte - wenngleich Österreicher - so etwas wie den Wiederaufstieg Deutschlands. Im Basislager jedoch herrschte noch ein anderer Ton. Dort wollte man ihm nicht verzeihen, daß er den Gipfel gegen den Plan des Expeditionsleiters Karl Maria Herrligkoffer allein bestiegen und damit den Kameradschaftsgeist verraten hatte. Es war die Rede von Meuterei. Heute kann man Buhls brutalen Ehrgeiz ungleich vornehmer als Paradigmenwechsel bezeichnen.
"Wahrheit und Wahn des Alpinismus" heißt Ralf-Peter Märtins Buch zum Nanga Parbat im Untertitel. Buhl ist der Dreh- und Angelpunkt. Der Text aber reicht zurück bis 1895, als sich der Engländer Albert Frederick Mummery als erster an einem Achttausender versuchte: dem Nanga Parbat. Und er führt bis in den Sommer 2000, als Reinhold Messner zum dritten Mal den Nanga Parbat besteigen wollte: auf jener Route, auf der sich in 6000 Meter Höhe Mummerys Spuren verlieren.
Daß Messner den Historiker und Germanisten Märtin auf die Reise mitgenommen hatte, dürfte diesen ebenso beflügelt haben wie das Jubiläum der Erstbesteigung im kommenden Jahr. Aber es läßt sich aus der Geschichte des Nanga Parbat vielleicht tatsächlich besser als aus der jedes anderen Bergs eine Ideengeschichte der Kletterei ableiten - und eine Geschichte deutscher Bergphilosophie.
Schon das Literaturverzeichnis mit rund vierhundert Einträgen macht deutlich, daß es Märtin nicht um eine Abenteuerposse zu tun ist. Und wie er die Entwicklung vom "Genußbergsteigen" zum "Gefahrenbergsteigen" mal in Form der Reportage, mal als präzise Analyse aus unterschiedlichsten Perspektiven betrachtet, wie er behutsam Biographien einarbeitet und Exkurse über den Everest oder die Eigernordwand dazwischenschiebt, wie er die immer absurder werdenden Materialschlachten am Berg mit sechshundert Trägern für vierzehn Tonnen Ausrüstung und die immer verletzender werdenden Schlammschlachten in den Medien schildert, verdient größten Respekt - und könnte den Band zu einem Standardwerk machen.
Augenfällig macht es freilich auch den Unterschied zu einem Buch wie Jon Krakauers "In eisige Höhen", dessen enormer Erfolg 1998 jene Lawine von Bergliteratur losgetreten hat, die jetzt die Buchhandlungen überrollt: Krakauer war dabei, als 1996 am Everest acht Menschen starben. So konnte er sich eines mythenerprobten Topos bedienen: des Schiffsuntergangs mit Zuschauer. Märtin wühlte sich hingegen durchs Archiv. Krakauer stieg wirklich über Leichen; Märtin zählt sie aus Berichten zusammen. Krakauer stand auf dem Gipfel; Märtin blieb im Camp zurück, als Messner mit einer kleinen Gruppe losstieg. Dabei wird es Märtin keineswegs zum Verhängnis, daß er aus der Distanz berichtet. Zum Problem wird das Buch dort, wo er diesen Abstand aufhebt.
Es passiert spät; aber im Rückblick erscheint das ganze Buch auf diesen Moment hin angelegt: der Apotheose Reinhold Messners, des "letzten Bergsteigers", wie Märtin ihn nennt. Wie präzis dagegen ist noch seine Darstellung der frühen Expeditionen. Hier dringt er tief in die Strukturen jenes Handelns und Denkens ein, die sich bereits in der Wortwahl damaliger Berichte andeuten. Schon vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurden die Touren Feldzügen gleichgesetzt, die Bergsteiger als "Soldaten" bezeichnet, die Besteigung als "Generaloffensive", Lawinen als "feindliches Sperrfeuer" und Tote als "Gefallene". Die Gipfelwelt war Zufluchtsort für jene geworden, die nach dem verlorenen Weltkrieg und dem "Schandfrieden von Versailles" solche Tugenden wie Vaterlandsliebe, Heldentum und Selbstaufopferung um keinen Preis aufgeben wollten. Der Glaube, Gipfelsiege taugten als Mittel nationaler Wiedergeburt, erfüllte vorauseilend die Doktrin, nach der 1934 der Reichssportführer Hans von Tschammer die Besteigung des Nanga Parbat "zum Ruhme Deutschlands" fast schon befahl. Die Expedition unter der dilettantischen Führung von Wilhelm Merkl und Wilhelm Welzenbach endete mit neun Toten - darunter die beiden Leiter. Prompt illustrierte das Desaster trefflich Adolf Hitlers Vision, als er auf dem Parteitag 1935 verlangte, die deutsche Jugend müsse "in den schwierigsten Proben die Todesfurcht besiegen" lernen. Ausdrücklich beim Bergsteigen sollte der arische Edelmensch durch Ausdauer und Todesverachtung über mindere Rassen triumphieren. Beim neuerlichen Versuch einer deutschen Gruppe, 1937 den Nanga Parbat zu besteigen, starben sechzehn Menschen.
Die Geschichte des Nanga Parbat ist aber mehr noch als die Auseinandersetzung der Bergsteiger mit dem Berg eine schier endlose Reihe von Machtkämpfen der Bergsteiger untereinander. Ein ums andere Mal wiederholen sich Streitigkeiten nach ähnlichem Muster. Wie Merkl in den dreißiger Jahren, wird später dessen Stiefbruder Karl Maria Herrligkoffer, der zwanzig Jahre lang das Monopol auf die deutschen Himalaja-Expeditionen an sich gerissen hat, Unfähigkeit vorgeworfen. Wie schon 1953 Buhl macht sich 1970 aus Herrligkoffers Gruppe Messner allein auf den Weg. Eine Kette von Mißgeschicken und unterschiedlich verstandenen Absprachen sowie widersprüchlichen Darstellungen führt zum totalen Zerwürfnis, nachdem Reinhold Messner als erster Mensch die Rupalwand durchklettert hat, mit 4500 Metern die höchste Felswand der Welt, und ihm mit dem Abstieg über die Diamirflanke zudem die erste Überschreitung eines Achttausenders gelungen ist. Daß dabei sein Bruder Günther unter wohl nie mehr zu klärenden Umständen sein Leben verlor, gibt dieser Tour einen mehr als nur bitteren Beigeschmack. Das Drama führte denn auch zu endlosen Beschuldigungen bis hin zum Prozeß.
Der schönen Aussicht wegen ist noch niemand Höhenbergsteiger geworden. Aber wenn Reinhold Messner heute sagt, in der Expedition 1970 sei eine anarchische Vorstellung vom Bergsteigen auf eine faschistische gestoßen, dann zeigen sich darin Wut, Wahn und Haß, die mit der Trauer um den Bruder allein nicht zu erklären sind. An Toten herrscht im Umfeld Messners kein Mangel. Bergsteigen, zitiert er gern Gottfried Benn, sei der "Widerstand gegen den herausgeforderten Tod", und schlußfolgert: Es bewege sich auf der Grenze zwischen Selbstverschwendung und Selbstzerstörung.
Die Nanga-Parbat-Besteigung der Brüder Messner, wie Märtin sie beschreibt, erinnert frappant an die Erstbesteigung durch Buhl. Und in einem zeitlichen Paradox schreibt Märtin prompt, daß viele Buhl mit Messner verglichen. Da ist die Verherrlichung längst in vollem Gang.
Reinhold Messner ist immerhin ein Viertel des Buchs gewidmet, was gerechtfertigt ist, weil Messner 1978 am Nanga Parbat auch die erste Solobesteigung eines Achttausenders gelang. Unverständlich bleibt indes, weshalb Märtin sich in diesem Teil fast ausschließlich auf Messner als Gewährsmann verläßt. Als seien sie von ihm diktiert, klingen viele Formulierungen - von der Einschätzung der politischen Situation Südtirols bis zu Messners Instinkt beim Klettern. Auch die menschliche Seite bleibt nicht unberücksichtigt. "Nachts lag er schweißgebadet und von Alpträumen gepeinigt in dem kleinen Zelt", heißt es über ihn, weil er den Tod des Bruders nur schwer verarbeitet. Vorwürfen, die sich Messner bis heute wegen allerhand Ungereimtheiten gefallen lassen muß und die soweit reichen, er habe den Tod des Bruders für den Rekord in Kauf genommen, geht Märtin aus dem Weg. Und dort, wo Messner von Kollegen das "Bergsteigen als Showgeschäft" vorgeworfen wurde, kontert Märtin unbekümmert: "Ihr vorgeblicher ,Idealismus' war nichts anderes als Unfähigkeit fürs ,Geschäft' mit dem Publikum."
Auf dieses Metier nun versteht sich Reinhold Messner in der Tat. Ohne über die Trauerarbeit eines Menschen befinden zu wollen, hat es offenbar der Zufall so gefügt, daß Messner just zum Nanga-Parbat-Jubiläum sein vertraglich bestimmtes Schweigen brechen und den Schmerz über den Verlust des Bruders endlich in Worte kleiden kann. Es wurde ein Buch daraus: "Der Nackte Berg". Die Glaubwürdigkeit seiner Schilderung schmälert er nicht unerheblich dadurch, daß er von Erschöpfungszuständen und Halluzinationen spricht, bis hin zu dem Punkt, er sei "irre geworden an seinem Verlorensein". Als Dokument der Vorfälle vom Juni 1970 fehlt dem Text jede Beweiskraft. Als Erklärung hingegen, weshalb die Gipfelüberschreitung für ihn zugleich zum Weg in ein neues Leben, ein neues Bewußtsein wurde, fehlt ihm die Überzeugungskraft.
Horst Höfler (Hrsg.): "Nanga Parbat". Expeditionen zum "Schicksalsberg der Deutschen" 1934-1962. AS Verlag, Zürich 2002. 144 S., Abb., geb., 49,80 [Euro].
Ralf-Peter Märtin: "Nanga Parbat". Wahrheit und Wahn des Alpinismus. Berlin Verlag, Berlin 2002. 440 S., Abb., geb., 21,90 [Euro].
Reinhold Messner: "Der Nackte Berg". Nanga Parbat - Bruder, Tod und Einsamkeit. Malik Verlag, München 2002. 320 S., Abb., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bald jährt sich die Erstbesteigung des Nanga Parbat zum fünfzigsten Mal: Die Bücher zur Feier sind schon da / Von Freddy Langer
Eisbrüche, nackter Fels, atemraubend steile Wände: Auf den Fotografien der deutschen Nanga-Parbat-Expeditionen von 1934 bis 1962, die Horst Höfler für einen Bildband zusammengetragen hat, werden alle Formen des Sublimen durchdekliniert. Aber erst im Konterfei des Erstbesteigers Hermann Buhl verdichtet sich der fast schon schicksalhafte Kampf um den Berg. Das Bild vom 5. Juli 1953, dem Tag nach der Rückkehr vom Gipfel, zeigt einen Greis, dem das Erlebnis tiefe Furchen ins Gesicht gemeißelt hat und der in einer Mischung aus Abwesenheit und Schmerz wie durch die Kamera hindurchstarrt. Nur wer weiß, daß Buhl erst achtundzwanzig Jahre alt gewesen ist, begreift: Dies ist kein Porträt. Es ist die Allegorie des Überlebens.
Hermann Buhl war Anfang der fünfziger Jahre der vielleicht beste Bergsteiger der Welt. Schon mit achtzehn kletterte er im damals höchsten Grad und unternahm spektakuläre Touren. Von Haus aus arm, soll er selbst im Fels bisweilen in Socken unterwegs gewesen sein. Seine Ausdauer und die Unempfindlichkeit gegen Unwetter waren legendär, sorgten aber nicht nur für Bewunderung. Denn wer nicht mithalten konnte, wurde als Seilpartner kurzerhand ausgetauscht. Ihn asozial zu nennen mag so falsch nicht sein. Buhl folgte fern einer bürgerlichen Existenz nur seinen Regeln. Käme es hart auf hart, so wurde gesagt, ginge er über die eigene Leiche.
Am Nanga Parbat hatte sich Buhl im Alleingang den sechs Kilometer langen Weg vom letzten Lager zum 8125 Meter hohen Gipfel durch den Schnee gespurt - ein Triumph der Gier über den Verstand. Doch der schlimmste Teil sollte erst kommen. Am Ende war er einundvierzig Stunden unterwegs, bevor er das Lager wieder erreichte. Er hatte nichts zu essen dabei, nichts zu trinken, und um Last zu sparen, den Rucksack mit warmer Kleidung zurückgelassen. In der Nacht mußte er bei minus zwanzig Grad acht Stunden lang stehend an einer Steilwand ausharren. Beim Abstieg begann er zu halluzinieren. Zehn Atemzüge brauchte er pro Schritt. Zwei Zehen erfroren ihm in den Stiefeln.
"Über allen Gipfeln ist Buhl", würde ihn später der Münchner Oberbürgermeister am Flughafen feiern. Buhl hatte den "Schicksalsberg der Deutschen" besiegt, nachdem dort etwa dreißig Bergsteiger umgekommen waren. Und er symbolisierte - wenngleich Österreicher - so etwas wie den Wiederaufstieg Deutschlands. Im Basislager jedoch herrschte noch ein anderer Ton. Dort wollte man ihm nicht verzeihen, daß er den Gipfel gegen den Plan des Expeditionsleiters Karl Maria Herrligkoffer allein bestiegen und damit den Kameradschaftsgeist verraten hatte. Es war die Rede von Meuterei. Heute kann man Buhls brutalen Ehrgeiz ungleich vornehmer als Paradigmenwechsel bezeichnen.
"Wahrheit und Wahn des Alpinismus" heißt Ralf-Peter Märtins Buch zum Nanga Parbat im Untertitel. Buhl ist der Dreh- und Angelpunkt. Der Text aber reicht zurück bis 1895, als sich der Engländer Albert Frederick Mummery als erster an einem Achttausender versuchte: dem Nanga Parbat. Und er führt bis in den Sommer 2000, als Reinhold Messner zum dritten Mal den Nanga Parbat besteigen wollte: auf jener Route, auf der sich in 6000 Meter Höhe Mummerys Spuren verlieren.
Daß Messner den Historiker und Germanisten Märtin auf die Reise mitgenommen hatte, dürfte diesen ebenso beflügelt haben wie das Jubiläum der Erstbesteigung im kommenden Jahr. Aber es läßt sich aus der Geschichte des Nanga Parbat vielleicht tatsächlich besser als aus der jedes anderen Bergs eine Ideengeschichte der Kletterei ableiten - und eine Geschichte deutscher Bergphilosophie.
Schon das Literaturverzeichnis mit rund vierhundert Einträgen macht deutlich, daß es Märtin nicht um eine Abenteuerposse zu tun ist. Und wie er die Entwicklung vom "Genußbergsteigen" zum "Gefahrenbergsteigen" mal in Form der Reportage, mal als präzise Analyse aus unterschiedlichsten Perspektiven betrachtet, wie er behutsam Biographien einarbeitet und Exkurse über den Everest oder die Eigernordwand dazwischenschiebt, wie er die immer absurder werdenden Materialschlachten am Berg mit sechshundert Trägern für vierzehn Tonnen Ausrüstung und die immer verletzender werdenden Schlammschlachten in den Medien schildert, verdient größten Respekt - und könnte den Band zu einem Standardwerk machen.
Augenfällig macht es freilich auch den Unterschied zu einem Buch wie Jon Krakauers "In eisige Höhen", dessen enormer Erfolg 1998 jene Lawine von Bergliteratur losgetreten hat, die jetzt die Buchhandlungen überrollt: Krakauer war dabei, als 1996 am Everest acht Menschen starben. So konnte er sich eines mythenerprobten Topos bedienen: des Schiffsuntergangs mit Zuschauer. Märtin wühlte sich hingegen durchs Archiv. Krakauer stieg wirklich über Leichen; Märtin zählt sie aus Berichten zusammen. Krakauer stand auf dem Gipfel; Märtin blieb im Camp zurück, als Messner mit einer kleinen Gruppe losstieg. Dabei wird es Märtin keineswegs zum Verhängnis, daß er aus der Distanz berichtet. Zum Problem wird das Buch dort, wo er diesen Abstand aufhebt.
Es passiert spät; aber im Rückblick erscheint das ganze Buch auf diesen Moment hin angelegt: der Apotheose Reinhold Messners, des "letzten Bergsteigers", wie Märtin ihn nennt. Wie präzis dagegen ist noch seine Darstellung der frühen Expeditionen. Hier dringt er tief in die Strukturen jenes Handelns und Denkens ein, die sich bereits in der Wortwahl damaliger Berichte andeuten. Schon vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurden die Touren Feldzügen gleichgesetzt, die Bergsteiger als "Soldaten" bezeichnet, die Besteigung als "Generaloffensive", Lawinen als "feindliches Sperrfeuer" und Tote als "Gefallene". Die Gipfelwelt war Zufluchtsort für jene geworden, die nach dem verlorenen Weltkrieg und dem "Schandfrieden von Versailles" solche Tugenden wie Vaterlandsliebe, Heldentum und Selbstaufopferung um keinen Preis aufgeben wollten. Der Glaube, Gipfelsiege taugten als Mittel nationaler Wiedergeburt, erfüllte vorauseilend die Doktrin, nach der 1934 der Reichssportführer Hans von Tschammer die Besteigung des Nanga Parbat "zum Ruhme Deutschlands" fast schon befahl. Die Expedition unter der dilettantischen Führung von Wilhelm Merkl und Wilhelm Welzenbach endete mit neun Toten - darunter die beiden Leiter. Prompt illustrierte das Desaster trefflich Adolf Hitlers Vision, als er auf dem Parteitag 1935 verlangte, die deutsche Jugend müsse "in den schwierigsten Proben die Todesfurcht besiegen" lernen. Ausdrücklich beim Bergsteigen sollte der arische Edelmensch durch Ausdauer und Todesverachtung über mindere Rassen triumphieren. Beim neuerlichen Versuch einer deutschen Gruppe, 1937 den Nanga Parbat zu besteigen, starben sechzehn Menschen.
Die Geschichte des Nanga Parbat ist aber mehr noch als die Auseinandersetzung der Bergsteiger mit dem Berg eine schier endlose Reihe von Machtkämpfen der Bergsteiger untereinander. Ein ums andere Mal wiederholen sich Streitigkeiten nach ähnlichem Muster. Wie Merkl in den dreißiger Jahren, wird später dessen Stiefbruder Karl Maria Herrligkoffer, der zwanzig Jahre lang das Monopol auf die deutschen Himalaja-Expeditionen an sich gerissen hat, Unfähigkeit vorgeworfen. Wie schon 1953 Buhl macht sich 1970 aus Herrligkoffers Gruppe Messner allein auf den Weg. Eine Kette von Mißgeschicken und unterschiedlich verstandenen Absprachen sowie widersprüchlichen Darstellungen führt zum totalen Zerwürfnis, nachdem Reinhold Messner als erster Mensch die Rupalwand durchklettert hat, mit 4500 Metern die höchste Felswand der Welt, und ihm mit dem Abstieg über die Diamirflanke zudem die erste Überschreitung eines Achttausenders gelungen ist. Daß dabei sein Bruder Günther unter wohl nie mehr zu klärenden Umständen sein Leben verlor, gibt dieser Tour einen mehr als nur bitteren Beigeschmack. Das Drama führte denn auch zu endlosen Beschuldigungen bis hin zum Prozeß.
Der schönen Aussicht wegen ist noch niemand Höhenbergsteiger geworden. Aber wenn Reinhold Messner heute sagt, in der Expedition 1970 sei eine anarchische Vorstellung vom Bergsteigen auf eine faschistische gestoßen, dann zeigen sich darin Wut, Wahn und Haß, die mit der Trauer um den Bruder allein nicht zu erklären sind. An Toten herrscht im Umfeld Messners kein Mangel. Bergsteigen, zitiert er gern Gottfried Benn, sei der "Widerstand gegen den herausgeforderten Tod", und schlußfolgert: Es bewege sich auf der Grenze zwischen Selbstverschwendung und Selbstzerstörung.
Die Nanga-Parbat-Besteigung der Brüder Messner, wie Märtin sie beschreibt, erinnert frappant an die Erstbesteigung durch Buhl. Und in einem zeitlichen Paradox schreibt Märtin prompt, daß viele Buhl mit Messner verglichen. Da ist die Verherrlichung längst in vollem Gang.
Reinhold Messner ist immerhin ein Viertel des Buchs gewidmet, was gerechtfertigt ist, weil Messner 1978 am Nanga Parbat auch die erste Solobesteigung eines Achttausenders gelang. Unverständlich bleibt indes, weshalb Märtin sich in diesem Teil fast ausschließlich auf Messner als Gewährsmann verläßt. Als seien sie von ihm diktiert, klingen viele Formulierungen - von der Einschätzung der politischen Situation Südtirols bis zu Messners Instinkt beim Klettern. Auch die menschliche Seite bleibt nicht unberücksichtigt. "Nachts lag er schweißgebadet und von Alpträumen gepeinigt in dem kleinen Zelt", heißt es über ihn, weil er den Tod des Bruders nur schwer verarbeitet. Vorwürfen, die sich Messner bis heute wegen allerhand Ungereimtheiten gefallen lassen muß und die soweit reichen, er habe den Tod des Bruders für den Rekord in Kauf genommen, geht Märtin aus dem Weg. Und dort, wo Messner von Kollegen das "Bergsteigen als Showgeschäft" vorgeworfen wurde, kontert Märtin unbekümmert: "Ihr vorgeblicher ,Idealismus' war nichts anderes als Unfähigkeit fürs ,Geschäft' mit dem Publikum."
Auf dieses Metier nun versteht sich Reinhold Messner in der Tat. Ohne über die Trauerarbeit eines Menschen befinden zu wollen, hat es offenbar der Zufall so gefügt, daß Messner just zum Nanga-Parbat-Jubiläum sein vertraglich bestimmtes Schweigen brechen und den Schmerz über den Verlust des Bruders endlich in Worte kleiden kann. Es wurde ein Buch daraus: "Der Nackte Berg". Die Glaubwürdigkeit seiner Schilderung schmälert er nicht unerheblich dadurch, daß er von Erschöpfungszuständen und Halluzinationen spricht, bis hin zu dem Punkt, er sei "irre geworden an seinem Verlorensein". Als Dokument der Vorfälle vom Juni 1970 fehlt dem Text jede Beweiskraft. Als Erklärung hingegen, weshalb die Gipfelüberschreitung für ihn zugleich zum Weg in ein neues Leben, ein neues Bewußtsein wurde, fehlt ihm die Überzeugungskraft.
Horst Höfler (Hrsg.): "Nanga Parbat". Expeditionen zum "Schicksalsberg der Deutschen" 1934-1962. AS Verlag, Zürich 2002. 144 S., Abb., geb., 49,80 [Euro].
Ralf-Peter Märtin: "Nanga Parbat". Wahrheit und Wahn des Alpinismus. Berlin Verlag, Berlin 2002. 440 S., Abb., geb., 21,90 [Euro].
Reinhold Messner: "Der Nackte Berg". Nanga Parbat - Bruder, Tod und Einsamkeit. Malik Verlag, München 2002. 320 S., Abb., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Grenzüberschreitung vom Diesseits zum Jenseits
Reinhold Messner schildert in Der nackte Berg "das Schlüsselerlebnis" seines Lebens - die Geschichte der dramatischen Besteigung des 8125 Meter hohen magischen Nanga Parbat von Süden nach Nordwesten, bei der sein Bruder Günther 1970 ums Leben kam.
Seit mehr als 100 Jahren ist der Nanga Parbat der Gral der besten Bergsteiger. In den dreißiger Jahren hatte sich der berühmte Willy Merkl als einer der ersten an diesem Schicksalsberg versucht; er kam dabei um. Seinem Halbbruder Karl Herrligkoffer wird es zur Obsession, den "Nanga" für ihn zu bezwingen. Immer wieder rüstet er Expeditionen dorthin aus. 1970 dann plant er mit den Brüdern Messner die schier unmögliche Besteigung über die 4500 Meter hohe Rupalwand, die höchste Eis- und Felswand der Erde. Aber auch diesmal wiederholt sich die Geschichte. Reinhold Messners Bruder Günther wird beim Abstieg von einer Lawine begraben. Reinhold Messner schildert in eindrucksvollen Bildern die Vorbereitung der Expedition, die Besteigung des Berges unter Qualen, den Tod des Bruders und seine eigene Rettung. Für ihn sollte diese Expedition eine Grenzüberschreitung werden, "vom Diesseits zum Jenseits, vom Leben zum Tod, vom Tod zum Leben".
In jeder Zeile spürt man die Strapazen und die Ängste, durch die Messner bei dieser Tour gehen musste. Bis heute verfolgt ihn die Erinnerung an die Ereignisse von 1970, und er scheint sie sich mit diesem Buch von der Seele schreiben zu wollen. (Wibke Garbarukow)
Reinhold Messner schildert in Der nackte Berg "das Schlüsselerlebnis" seines Lebens - die Geschichte der dramatischen Besteigung des 8125 Meter hohen magischen Nanga Parbat von Süden nach Nordwesten, bei der sein Bruder Günther 1970 ums Leben kam.
Seit mehr als 100 Jahren ist der Nanga Parbat der Gral der besten Bergsteiger. In den dreißiger Jahren hatte sich der berühmte Willy Merkl als einer der ersten an diesem Schicksalsberg versucht; er kam dabei um. Seinem Halbbruder Karl Herrligkoffer wird es zur Obsession, den "Nanga" für ihn zu bezwingen. Immer wieder rüstet er Expeditionen dorthin aus. 1970 dann plant er mit den Brüdern Messner die schier unmögliche Besteigung über die 4500 Meter hohe Rupalwand, die höchste Eis- und Felswand der Erde. Aber auch diesmal wiederholt sich die Geschichte. Reinhold Messners Bruder Günther wird beim Abstieg von einer Lawine begraben. Reinhold Messner schildert in eindrucksvollen Bildern die Vorbereitung der Expedition, die Besteigung des Berges unter Qualen, den Tod des Bruders und seine eigene Rettung. Für ihn sollte diese Expedition eine Grenzüberschreitung werden, "vom Diesseits zum Jenseits, vom Leben zum Tod, vom Tod zum Leben".
In jeder Zeile spürt man die Strapazen und die Ängste, durch die Messner bei dieser Tour gehen musste. Bis heute verfolgt ihn die Erinnerung an die Ereignisse von 1970, und er scheint sie sich mit diesem Buch von der Seele schreiben zu wollen. (Wibke Garbarukow)
»Ein großartiges, sein weitaus bestes Buch. Wer den Mythos Messner verstehen will, muss dieses Buch lesen, und er wird auch etwas vom Menschen Messner verstehen. Und von sich selbst.« Die Zeit