Produktdetails
  • Verlag: Kiepenheuer
  • Seitenzahl: 149
  • Abmessung: 220mm
  • Gewicht: 285g
  • ISBN-13: 9783378006386
  • ISBN-10: 3378006382
  • Artikelnr.: 24019312
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.11.2001

Wenn sich Unschuld vordrängelt
Identität auf Wanderschaft: Erzählungen von Tanja Schwarz

Das Prosadebüt der dreißigjährigen Berlinerin Tanja Schwarz steht im Zeichen des Wassermanns: Es entspricht der Perspektive eines Menschen, der, in der Badewanne sitzend, auf sich herunterschaut. Ein labiles Ich taucht in die Unterwasserwelt von Lethargie und Isolation ab - nicht ohne Hoffnung, daß die Identitätskrise zum Neubeginn werden möge. Besser gesagt zu einer Taufe, denn dieser Erzählband bewegt sich zwischen den Extremen der christlichen Symbolik und des Popkulturslangs. Ein interessant konzipierter Balanceakt, dessen literarische Realisierung manchmal etwas schlicht ausfällt: Da wird aus einer Annette Raupe eine Annette Schmetterling, und ein Tadzio Bückle sieht, sein Name läßt auch nichts anderes vermuten, wie "ein Engel von einem Knaben" aus. Man könnte sich ein raffinierteres Figurenzitat vorstellen. Aber vielleicht ist das Plakative der Anspielung ja ein absichtlicher Hieb gegen einen überraffinierten Ästhetizismus?

Die erste Erzählung des Bandes, "Tina Rabes Abendmahl", weckt in der Tat den Eindruck, als wolle die Autorin ins soziale Gewissen reden und im alten Streit zwischen Autonomieästhetik und littérature engagée einen Punkt für die letztere machen. Die indifferente, manchmal auch bissig-ironische Erzählhaltung zeigt jedoch schon bald, daß sich Tanja Schwarz jenseits des sozialpolitischen Prinzips Hoffnung bewegt. Und doch geht sie einem nahe, die Achtkläßlerin Tina Rabe, Tochter einer geschiedenen Mutter, die "über die Volkshochschule nie hinausgekommen ist". Nur mit "Anstrengungen und Verbissenheit" gelangt Tina zu guten Schulnoten; mit ihren "Arbeitnehmergenen" kann sie sich die "Finger auf der Gitarre wundüben". Gegen das "natürliche Vorrecht" der Akademikerkinder wie der rundum perfekten Vita Putzmacher kommt sie doch nicht an. Als es darum geht, bei einer Schulaufführung mit einer Gesangsnummer glänzen zu dürfen, soll statt der unscheinbaren Tina Vita Putzmachers Zwillingsschwester Virginia singen. Vita und Virginia: ein symbiotisches Pärchen, das zu den Leitfiguren des Erzählbandes gehört und diesem die Bindekraft eines Erzählzyklus verleiht, wozu auch der durchgehend lässig-unterkühlte Tonfall beiträgt.

In der Titelerzählung "Der nächtliche Skater" ist die Ich-Erzählerin aus etwas diffus bleibenden Gründen zur Aussteigerin geworden und sieht sich nun auf einen existentiellen Nullpunkt zurückgeworfen: "Die einfachsten Gewißheiten hatten sich verflüchtigt, etwa, was ich gern aß oder welche Bücher ich mochte, weil der feste Ort in meinem Inneren, die Schiedsstelle, die das Zu-mir-Gehörige von der Umgebung trennte, vom Gleichgültigen oder Gegnerischen, verstummt oder verlassen war wie die Schaffnerkabine auf einem leeren U-Bahnsteig."

Die Außenwelt soll "Anhaltspunkte" für den Neuentwurf des Selbst geben; die Ich-Erzählerin schaut sich ab, was den Leuten Selbstsicherheit zu geben scheint, aber es bleibt bei der fragmentierten Identität, das Ich bleibt kernlos: "Im Spiegel sah ich die Summe der Teile." Bei einem Trödler, der einen Kapuzenpulli mit der Aufschrift "Rattenclub Berlin-Brandenburg" trägt, kauft sich die Aussteigerin einen gebrauchten Anrufbeantworter, und die Stimmen eines weiblichen Liebespaares, die darauf zurückgeblieben sind, lösen einen erneuten Krisenschub aus. Die Erzählerin tauft die beiden Frauenstimmen Vita und Virginia, und so zeigt sich: Die Schauplätze wechseln, aber die Triangel symbiotisches Frauenpaar plus Außenseiterin tönt fort - von Tina Rabes Wandertag bis zur Berliner Lesbenszene.

Die Erzählung "Bellas Spiele" inszeniert den homosexuellen Ödipuskonflikt als Barhocker-Groteske. In die sadomasochistischen Machtspiele der Jugendschönheiten Bella und Diva schaltet sich eine Wickelrock-Klimakterikerin ein und wird prompt ausgeschaltet, wofür sie sich aber rächt. Der Auftritt, kulminierend in einer obligatorisch abgründigen Kloszene, wirkt gewollt verrucht, etwas zu gewollt, wie auch der "Augenfick" von Bella und Diva nicht gar so grell hätte koloriert werden müssen.

Aber die Erzählerin bevorzugt Deutlichkeit nicht nur in den facts - wer schon immer wissen wollte, wie Lesben Sex haben, erfährt es -, sondern auch in der fiktionalen Bildlichkeit. So wird der die Frauensymbiose störende Tritonus zum Monster einer menschenfressenden Riesenkatze aufgeblasen, wie überhaupt die Katzenphobie zu den Leitmotiven des Erzählzyklus gehört. An Skurrilem fehlt es also nicht, wohl aber an der Plausibilität der Visionen und Traumbilder: Wer ein Abendmahl an den Anfang und ein Schlachtopfer an das Ende des Bandes setzt, muß dies zwar nicht chrono- oder psychologisch herleiten, doch hätten die szenischen Zitate eine sprachlich-strukturelle Entsprechung finden müssen, um nicht beliebig zu wirken. Diese Entsprechung ist nur an wenigen Stellen gelungen.

Dennoch beweist dieses Prosadebüt das Talent der Autorin, den Alltagsblick und das Alltagsleben so lange der Heteronomie des Absurden auszusetzen, bis "etwas reißt" - dies der Titel der letzten Erzählung. Rissig wird aber vielmehr das Ich, jenes Ich, das sich selbst nie ganz in den Blick bekommen kann, sondern so vage bleibt, wie das Umschlagfoto des Buches es andeutet: zwei im Badewasser verschwimmende Beine und in der Mitte der Sog aus dem Abfluß.

SANDRA KLUWE

Tanja Schwarz: "Nächtliche Skater". Erzählungen. Verlag Gustav Kiepenheuer, Leipzig 2001. 147 S., geb., 29,90 DM.

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Sandra Kluwe rezensiert Tanja Schwarz' Prosadebüt "Der nächtliche Skater" und hebt die Balance zwischen christlicher Symbolik und Popkulturslang hervor, die ihr allerdings literarisch manchmal etwas schlicht erscheint. Schwarz beschreibe in ihren Erzählungen die Isolation und Identitätskrisen ihrer Figuren, die oftmals aus einem Umfeld sozialer Benachteiligung stammen. Die Charaktere erscheinen Kluwe jedoch bisweilen zu plakativ und die narrative Raffinesse bleibt hinter ihren Erwartungen zurück. Die Autorin, einer Art literature engage zugeneigt, schwächt diese Ambition in den Augen Kluwes durch einen distanziert-ironischen Erzählstil. Trotz erzählerischer Schwächen zeigt Schwarz Potenzial in ihrer Fähigkeit, alltägliche Szenen ins Absurde zu verzerren, meint eine abwägende Kritikerin.


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