Der neue Roman des japanischen Nobelpreisträgers
Ein großes Lebensrätsel treibt Kenzaburô Ôe seit Jahrzehnten um: der mysteriöse Tod seines Vaters, der im Sommer 1945 während eines mächtigen Sturms in ein Boot stieg und im Fluss unter ungeklärten Umständen umkam. In seinem Roman schickt Ôe sein Alter Ego, den Schriftsteller Kogito Choko, in sein japanisches Heimatdorf. In einem geheimnisvollen roten Lederkoffer lagern Dokumente, die ihm dabei helfen sollen, die Geschichte des Vaters zu verstehen und endlich aufzuschreiben. »Der nasse Tod« ist ein meditativer Roman über die Beziehung zum Vater, über sein Vermächtnis, über Sterblichkeit und Erinnerung - und darüber, wie das Geschichtenerzählen heilen kann.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Ein großes Lebensrätsel treibt Kenzaburô Ôe seit Jahrzehnten um: der mysteriöse Tod seines Vaters, der im Sommer 1945 während eines mächtigen Sturms in ein Boot stieg und im Fluss unter ungeklärten Umständen umkam. In seinem Roman schickt Ôe sein Alter Ego, den Schriftsteller Kogito Choko, in sein japanisches Heimatdorf. In einem geheimnisvollen roten Lederkoffer lagern Dokumente, die ihm dabei helfen sollen, die Geschichte des Vaters zu verstehen und endlich aufzuschreiben. »Der nasse Tod« ist ein meditativer Roman über die Beziehung zum Vater, über sein Vermächtnis, über Sterblichkeit und Erinnerung - und darüber, wie das Geschichtenerzählen heilen kann.
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Wenn man sich darauf einlässt, dann merkt man, wie kunstvoll Kenzaburo Ôe seinen Abschied vom Roman hier zelebriert. Ruth Fühner Hessischer Rundfunk 20181116
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.10.2018König Lear in den Wäldern seiner Kindheit
Kenzaburo Oe erzählt in seinem Alterswerk "Der nasse Tod" die Geschichte seiner Familie als Geschichte Japans
Der Künstler ist alt geworden. Er hat manches erreicht in seinem Leben, viele Bücher geschrieben, Ruhm geerntet und Auszeichnungen erhalten. Aber all das ist lange her. Wird er überhaupt noch gelesen? Oder ist die Zeit längst über ihn hinweggegangen? Zwar scheint die Welt noch zu wissen, wer er einmal war, aber er weiß noch immer nicht, wer er wirklich ist. Um es herauszufinden, müsste er die Rätsel seiner Kindheit lösen. Sie sind auf obskure Weise mit der Geschichte Japans und der militaristischen Vergangenheit des Landes verknüpft.
Kenzaburo Oe, 1935 in einem kleinen Dorf in den Wäldern der Insel Shikoku geboren und 1994 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet, ist ein leidender Landvermesser der eigenen Seele, ein verzagter, aber nie aufgebender Höhlenforscher seiner selbst. Seine mühsam erarbeiteten Befunde stellt er stets unter den Verdacht der Vorläufigkeit. Wie gut können wir uns kennen? Flüchtig. Wie viel wollen wir wirklich über uns wissen? Alles, was wir ertragen.
In den letzten Wochen des Zweiten Weltkrieges hat sich der Vater unter mysteriösen Umständen das Leben genommen. Er war an einer Verschwörung ultranationalistischer Offiziere beteiligt. Der Aufstand kam jedoch nicht zustande, und der Vater, ein Mann von fünfzig Jahren, bestieg ein Ruderboot, um nicht zurückzukehren. Der glühende Nationalist, der die Niederlage Japans nicht ertragen wollte, wählte den "nassen Tod", wie es bei T. S. Eliot heißt, von dem Oe den Titel seines Romans entliehen hat. Wollte der Vater seinen damals zehnjährigen Sohn womöglich mit in den Tod nehmen, um ihm die doppelte Schande - der Niederlage und der Vaterlosigkeit - zu ersparen? Hat nur eine Verkettung von Zufällen dem Jungen das Leben gerettet, oder hat er den Vater nicht doch in letzter Sekunde im Stich gelassen, also Schuld auf sich geladen?
Die Hinterlassenschaft des Vaters wird in einem roten Koffer verwahrt, den die Frauen der Familie über Jahrzehnte hüten. Eines Tages wird der Sohn ihn erhalten. Wer weiß, so die Mutter bei einer Familienfeier, vielleicht werde ihr Sohn später einmal zum Schriftsteller: "In dem roten Lederkoffer ist ja jede Menge Stoff für einen Roman." Die Verwandten lachen.
Ein halbes Jahrhundert liegt zwischen den Worten der Mutter und dem Tag, an dem der Sohn den Koffer, der ihm längst zur Legende wie zum Fetisch geworden ist, endlich in Händen hält. Auch die Mutter ist nun tot, die von ihr verfügte zehnjährige Frist verstrichen. Jetzt kann der alte Schriftsteller den Inhalt des roten Koffers zu einem letzten großen Roman über seinen Vater verarbeiten. Für dieses Alterswerk, den Abschluss seines literarischen Schaffens, mit dem der Autor in seine Kindheit zurückkehrt, fährt der Schriftsteller Kogito Choko, das schon in früheren Romanen etablierte alter ego Kenzaburo Oes, zurück in die Wälder, die er als junger Mann verlassen hatte.
Aber der Koffer enthält nur nichtssagende Aufzeichnungen und einige Bücher, darunter "The Golden Bough", die Studie des schottischen Anthropologen James George Frazer über "Magie und Religion". Als Choko erkennen muss, dass er den geplanten Roman nun nie mehr wird schreiben können, stürzt er in eine schwere Krise, die sich immer weiter zuspitzt: Seine Frau muss wegen einer Krebserkrankung ins Hospital, er selbst leidet unter schweren Schwindelattacken und Konzentrationsstörungen, Hikari, sein geistig behinderter Sohn, dem Oe bereits mehrere Bücher gewidmet hat, wendet sich nach einer geradezu unverzeihlichen väterlichen Entgleisung von ihm ab. Überdies macht ihm seine sich spät emanzipierende Schwester zu schaffen, die ihn in die Fänge einer avantgardistischen Theatertruppe getrieben hat, die seine Werke für die Bühne adaptieren will. Der alte Mann fühlt sich geschmeichelt, aber die Begegnung mit dem künstlerischen Kopf der Truppe, der attraktiven und kompromisslosen Feministin Unaico, konfrontiert ihn mit weiteren Problemen, denn auch Unaicos Familiengeschichte birgt dunkle Geheimnisse. Nun geht es um die Rolle der Frau in Japan, um Unterdrückung und Vergewaltigungen.
Es ist unmöglich, all die kleinen Bewegungen und langen Umwege, all die ausführlichen Exkurse und winzigen Details zu beschreiben, mit denen Oe auf den 430 Seiten dieses Buches sein Ziel verfolgt: einen Roman zu schreiben, der zutiefst persönlich ist und allgemein menschlich, intim und politisch zugleich. Man kann, so Oes unausgesprochene These, die Geschichte seiner Familie nicht verstehen, ohne die politische Geschichte Japans zu kennen. Und man kann weder das frühere noch das heutige Japan begreifen, ohne die Geschichten aller japanischen Familien zu kennen. So ist es oft bei diesem Autor: Er beginnt im Kleinen und greift unmerklich aus, nach und nach, immer weiter und weiter. Ein seltsames Aufeinandertreffen von großer Bescheidenheit und einem maximalen Anspruch auf Wahrhaftigkeit hat Oe zu einem Stil geführt, der Vorgänge größter Komplexität in einer Sprache von oft geradezu verstörend wirkender Schlichtheit beschreibt. Oe hat immer schon Dialoge geschrieben, die so spröde sind, dass man beim Umblättern der Seiten fürchtet, sie würden zerbröseln wie welkes Laub. Jetzt schürt er solche Befürchtungen noch, indem er derartige Dialoge über Seiten hinweg in indirekter Rede wiedergibt, als Botenberichte nämlich, wie sie Kogitos Schwester Asa ihrem Bruder regelmäßig in Briefform schickt.
Asas Briefe, ihre Wiedergabe von Telefongesprächen, Perspektiv- und Tempuswechsel, längere, meist wie die Briefpassagen kursiv gedruckte Auszüge aus Theaterstücken und Drehbüchern - all das sorgt zwar für formale Abwechslung, ändert aber kaum etwas daran, dass auch "Der nasse Tod" zu jenen Romanen Oes gehört, die den Eindruck machen, sie hätten einen Stock verschluckt.
Offenbar will ihr Autor es nicht anders. "Werden Ihre Romane noch als richtige Romane wahrgenommen?", lautet die Frage, mit der Oe in seinem Roman, der kein "richtiger" Roman sein will, sein alter ego, das nicht weiß, ob es noch ein "richtiger" Schriftsteller sein kann, konfrontiert. Gestellt wird sie von einem Bewunderer des Künstlers, allerdings einem recht freimütigen.
In "Der nasse Tod", im Original 2009 erschienen, beschreibt sich Oe als "Deprikloß" und "armseligen Alten", als lebensmürben Lear in den mythischen Wäldern seiner Heimatinsel, der seinen Narren, das Geistwesen Kogii, das ihn in der Kindheit begleitet hat, allzu früh entbehren musste. Nun muss er den Narren eben selbst spielen. Denn wahre Künstler sind, wie Oe seinen Freund Edward Said zitiert, "im Alter keineswegs gereift oder versöhnt, sondern gehen umgekehrt in ihrem Spätwerk den Dingen erst auf den Grund. Manchmal werden sie sogar von Katastrophen heimgesucht."
HUBERT SPIEGEL.
Kenzaburo Oe: "Der nasse Tod". Roman über meinen Vater.
Aus dem Japanischen von Nora Bierich. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2018. 432 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kenzaburo Oe erzählt in seinem Alterswerk "Der nasse Tod" die Geschichte seiner Familie als Geschichte Japans
Der Künstler ist alt geworden. Er hat manches erreicht in seinem Leben, viele Bücher geschrieben, Ruhm geerntet und Auszeichnungen erhalten. Aber all das ist lange her. Wird er überhaupt noch gelesen? Oder ist die Zeit längst über ihn hinweggegangen? Zwar scheint die Welt noch zu wissen, wer er einmal war, aber er weiß noch immer nicht, wer er wirklich ist. Um es herauszufinden, müsste er die Rätsel seiner Kindheit lösen. Sie sind auf obskure Weise mit der Geschichte Japans und der militaristischen Vergangenheit des Landes verknüpft.
Kenzaburo Oe, 1935 in einem kleinen Dorf in den Wäldern der Insel Shikoku geboren und 1994 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet, ist ein leidender Landvermesser der eigenen Seele, ein verzagter, aber nie aufgebender Höhlenforscher seiner selbst. Seine mühsam erarbeiteten Befunde stellt er stets unter den Verdacht der Vorläufigkeit. Wie gut können wir uns kennen? Flüchtig. Wie viel wollen wir wirklich über uns wissen? Alles, was wir ertragen.
In den letzten Wochen des Zweiten Weltkrieges hat sich der Vater unter mysteriösen Umständen das Leben genommen. Er war an einer Verschwörung ultranationalistischer Offiziere beteiligt. Der Aufstand kam jedoch nicht zustande, und der Vater, ein Mann von fünfzig Jahren, bestieg ein Ruderboot, um nicht zurückzukehren. Der glühende Nationalist, der die Niederlage Japans nicht ertragen wollte, wählte den "nassen Tod", wie es bei T. S. Eliot heißt, von dem Oe den Titel seines Romans entliehen hat. Wollte der Vater seinen damals zehnjährigen Sohn womöglich mit in den Tod nehmen, um ihm die doppelte Schande - der Niederlage und der Vaterlosigkeit - zu ersparen? Hat nur eine Verkettung von Zufällen dem Jungen das Leben gerettet, oder hat er den Vater nicht doch in letzter Sekunde im Stich gelassen, also Schuld auf sich geladen?
Die Hinterlassenschaft des Vaters wird in einem roten Koffer verwahrt, den die Frauen der Familie über Jahrzehnte hüten. Eines Tages wird der Sohn ihn erhalten. Wer weiß, so die Mutter bei einer Familienfeier, vielleicht werde ihr Sohn später einmal zum Schriftsteller: "In dem roten Lederkoffer ist ja jede Menge Stoff für einen Roman." Die Verwandten lachen.
Ein halbes Jahrhundert liegt zwischen den Worten der Mutter und dem Tag, an dem der Sohn den Koffer, der ihm längst zur Legende wie zum Fetisch geworden ist, endlich in Händen hält. Auch die Mutter ist nun tot, die von ihr verfügte zehnjährige Frist verstrichen. Jetzt kann der alte Schriftsteller den Inhalt des roten Koffers zu einem letzten großen Roman über seinen Vater verarbeiten. Für dieses Alterswerk, den Abschluss seines literarischen Schaffens, mit dem der Autor in seine Kindheit zurückkehrt, fährt der Schriftsteller Kogito Choko, das schon in früheren Romanen etablierte alter ego Kenzaburo Oes, zurück in die Wälder, die er als junger Mann verlassen hatte.
Aber der Koffer enthält nur nichtssagende Aufzeichnungen und einige Bücher, darunter "The Golden Bough", die Studie des schottischen Anthropologen James George Frazer über "Magie und Religion". Als Choko erkennen muss, dass er den geplanten Roman nun nie mehr wird schreiben können, stürzt er in eine schwere Krise, die sich immer weiter zuspitzt: Seine Frau muss wegen einer Krebserkrankung ins Hospital, er selbst leidet unter schweren Schwindelattacken und Konzentrationsstörungen, Hikari, sein geistig behinderter Sohn, dem Oe bereits mehrere Bücher gewidmet hat, wendet sich nach einer geradezu unverzeihlichen väterlichen Entgleisung von ihm ab. Überdies macht ihm seine sich spät emanzipierende Schwester zu schaffen, die ihn in die Fänge einer avantgardistischen Theatertruppe getrieben hat, die seine Werke für die Bühne adaptieren will. Der alte Mann fühlt sich geschmeichelt, aber die Begegnung mit dem künstlerischen Kopf der Truppe, der attraktiven und kompromisslosen Feministin Unaico, konfrontiert ihn mit weiteren Problemen, denn auch Unaicos Familiengeschichte birgt dunkle Geheimnisse. Nun geht es um die Rolle der Frau in Japan, um Unterdrückung und Vergewaltigungen.
Es ist unmöglich, all die kleinen Bewegungen und langen Umwege, all die ausführlichen Exkurse und winzigen Details zu beschreiben, mit denen Oe auf den 430 Seiten dieses Buches sein Ziel verfolgt: einen Roman zu schreiben, der zutiefst persönlich ist und allgemein menschlich, intim und politisch zugleich. Man kann, so Oes unausgesprochene These, die Geschichte seiner Familie nicht verstehen, ohne die politische Geschichte Japans zu kennen. Und man kann weder das frühere noch das heutige Japan begreifen, ohne die Geschichten aller japanischen Familien zu kennen. So ist es oft bei diesem Autor: Er beginnt im Kleinen und greift unmerklich aus, nach und nach, immer weiter und weiter. Ein seltsames Aufeinandertreffen von großer Bescheidenheit und einem maximalen Anspruch auf Wahrhaftigkeit hat Oe zu einem Stil geführt, der Vorgänge größter Komplexität in einer Sprache von oft geradezu verstörend wirkender Schlichtheit beschreibt. Oe hat immer schon Dialoge geschrieben, die so spröde sind, dass man beim Umblättern der Seiten fürchtet, sie würden zerbröseln wie welkes Laub. Jetzt schürt er solche Befürchtungen noch, indem er derartige Dialoge über Seiten hinweg in indirekter Rede wiedergibt, als Botenberichte nämlich, wie sie Kogitos Schwester Asa ihrem Bruder regelmäßig in Briefform schickt.
Asas Briefe, ihre Wiedergabe von Telefongesprächen, Perspektiv- und Tempuswechsel, längere, meist wie die Briefpassagen kursiv gedruckte Auszüge aus Theaterstücken und Drehbüchern - all das sorgt zwar für formale Abwechslung, ändert aber kaum etwas daran, dass auch "Der nasse Tod" zu jenen Romanen Oes gehört, die den Eindruck machen, sie hätten einen Stock verschluckt.
Offenbar will ihr Autor es nicht anders. "Werden Ihre Romane noch als richtige Romane wahrgenommen?", lautet die Frage, mit der Oe in seinem Roman, der kein "richtiger" Roman sein will, sein alter ego, das nicht weiß, ob es noch ein "richtiger" Schriftsteller sein kann, konfrontiert. Gestellt wird sie von einem Bewunderer des Künstlers, allerdings einem recht freimütigen.
In "Der nasse Tod", im Original 2009 erschienen, beschreibt sich Oe als "Deprikloß" und "armseligen Alten", als lebensmürben Lear in den mythischen Wäldern seiner Heimatinsel, der seinen Narren, das Geistwesen Kogii, das ihn in der Kindheit begleitet hat, allzu früh entbehren musste. Nun muss er den Narren eben selbst spielen. Denn wahre Künstler sind, wie Oe seinen Freund Edward Said zitiert, "im Alter keineswegs gereift oder versöhnt, sondern gehen umgekehrt in ihrem Spätwerk den Dingen erst auf den Grund. Manchmal werden sie sogar von Katastrophen heimgesucht."
HUBERT SPIEGEL.
Kenzaburo Oe: "Der nasse Tod". Roman über meinen Vater.
Aus dem Japanischen von Nora Bierich. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2018. 432 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main