Europa steckt tief in der Krise. Die von den Rechtspopulisten angestrebte Rückkehr zu nationalstaatlicher Konkurrenz kann nicht die Lösung sein. Ulrike Guérot plädiert für einen radikalen Neuanfang: Dem gemeinsamen Markt und der gemeinsamen Währung muss endlich eine gemeinsame europäische Demokratie folgen. Nur so können wir das weltoffene Europa bewahren, das die Mehrheit der Europäer nach wie vor will.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.12.2017Realität hier, Utopie dort
Europäische Republik
Die krisenhafte Entwicklung der EU von der Bankenkrise bis zum Brexit-Votum löste verschiedene Reaktionen aus. Die an der Donau-Universität Krems lehrende Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot ist vor diesem Hintergrund entschiedenste Verfechterin einer umstürzenden Einigungspolitik: Eine EU-Bestandssicherung reicht ihr nicht aus. Sie schreibt aufwühlend, packend und mitreißend, so dass man nicht nur mitfühlen, sondern auch Sympathie dafür entwickeln kann.
In knappen, skizzenhaften und scharfsinnigen Reflexionen wird ein "Krieg gegen den inneren, unsichtbaren Feind des europäischen Geistes" - praktisch zwischen Europa-Anhängern und EU-Gegnern - sowie ein transnationaler Verteilungs- und Kulturkampf diagnostiziert, der weder national noch für die EU zu lösen sei, weshalb sich die europäische liberale Demokratie in einem Abwärtstrend befinde: Gespalten sind Europas Gesellschaften zwischen Arm und Reich, Alt und Jung, Stadt und Land sowie Zentralismus und Regionalismus, was sich zuletzt in Frankreich, Großbritannien, Österreich, Deutschland und Spanien mit rechtsbürgerlichen, rechtskonservativen, nationalistischen und sezessionistischen Tendenzen artikulierte. Rechtspopulismus und Renationalisierung werden als Reaktionen auf die Perversionen des von der EU systemisch geförderten Neoliberalismus gewertet.
Die heutigen Konfliktlinien gehen tatsächlich im Unterschied zum europäischen Bürgerkrieg von 1914/18 bis 1939/45 nicht mehr zwischen, sondern durch alle ideologisch-politischen Lager. Bundeskanzlerin Angela Merkels Spruch "Scheitert der Euro, scheitert Europa!" stellt Guérot mit der Gegenbehauptung "Bleibt der Euro, wie er ist, scheitert die europäische Demokratie!" auf den Kopf, wobei sie in der deutschen Ideologie der Geldwertstabilität und der Exportüberschüsse sowie der Verwechslung von wohlwollender Hegemonie und nationaler Macht den größten "Knackpunkt" des neuen europäischen Bürgerkriegs ausmacht. Die Verwerfungen dürften aber, so meint der Rezensent, mehr mit Defiziten nationalstaatlicher Parteien-, Politik- und Sozialsysteme in Europa zu tun haben als mit dem "bösen" Deutschland und der EU, die beide als Projektionsflächen verschiedener linker wie rechter Populismen dienen.
Soweit die Gegenwartsanalyse Guérots weitgehend überzeugt, fragt sich die Autorin selbst bei all ihren wiederholt beschwörenden, ja flammenden Appellen zur Gründung einer europäischen Republik, wie diese realisiert werden soll. Selbst räumt sie ein, dass ein ökonomischer Treiber der europäischen Demokratie fehle und von einer diffusen politischen Mitte keine Initiativen ausgingen, zwar "Pulse of Europe" als "Sonntagsdemonstration" ein Nukleus für einen "europäischen Vormärz" sein könne, aber der größte Teil des "Volkes" wie europäische Biedermänner noch auf dem Sofa sitze. Guérots Vorschläge (Bürgerunion durch Wahlrechtsgleichheit, Fiskal-, Steuer-, Sozial- und Transferunion) laufen hingegen auf Überwindung der Politik der EU-Mitgliedstaaten hinaus, die jedoch mehr Kompetenzen als die Union besitzen.
Die EWG war eine nationalstaatliche Gründung. Wenn man diese Basis ignoriert, negiert oder übergeht, verweigert man die Realität der gemeinschaftlich organisierten, nach wie vor von Mitgliedstaaten getragenen und gesponserten EU. Zudem fragt sich, ob das, was Guérot fordert, nicht erst recht zu einem von niemandem (auch von der Autorin selbst sicher nicht) gewünschten, militant ausgetragenen Bürgerkrieg zwischen Gemeinschafts- und Nationalstaatsverfechtern führt, so wie er sich ja schon in Polen und Ungarn zwischen nationalistischen Regierungsanhängern und proeuropäischen Vertretern der Zivilgesellschaft abspielt. Der Vorschlag einer zweiten Kammer zur Stärkung der regionalen Identitäten scheint auch wenig Abhilfe zu versprechen, wenn man den katalanischen Wunsch nach einem unabhängigen Nationalstaat sieht.
Guérot spricht nicht von "Vereinigten Staaten von Europa" wie Richard von Coudenhove-Kalergi mit seiner Paneuropa-Union 1923 oder der amerikanische Publizist Clarence Streit mit seiner Forderung "Union now!" zu Beginn des Zweiten Weltkriegs. Sie gibt ihrem Projekt einen Zeithorizont von 10, 20 und 25 Jahren, weil sie es noch erleben will. In ihrem Wunsch, "die europäischen Nationalstaaten zu einer wirklichen politischen Einheit zu verschmelzen", macht Guérot ihre Rechnung jedoch ohne die Nationen. Sie sind weiterhin für die Bevölkerungen ein weit mehr identitätsstiftender Faktor als eine alleinstehende übergeordnete europäische Republik als Zukunftsversprechen, wobei - ganz nebenbei bemerkt - in Europa auch noch zahlreiche Monarchien bestehen.
MICHAEL GEHLER
Ulrike Guérot: Der neue Bürgerkrieg. Das offene Europa und seine Feinde. Ullstein Verlag, Berlin 2017. 96 S., 8,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Europäische Republik
Die krisenhafte Entwicklung der EU von der Bankenkrise bis zum Brexit-Votum löste verschiedene Reaktionen aus. Die an der Donau-Universität Krems lehrende Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot ist vor diesem Hintergrund entschiedenste Verfechterin einer umstürzenden Einigungspolitik: Eine EU-Bestandssicherung reicht ihr nicht aus. Sie schreibt aufwühlend, packend und mitreißend, so dass man nicht nur mitfühlen, sondern auch Sympathie dafür entwickeln kann.
In knappen, skizzenhaften und scharfsinnigen Reflexionen wird ein "Krieg gegen den inneren, unsichtbaren Feind des europäischen Geistes" - praktisch zwischen Europa-Anhängern und EU-Gegnern - sowie ein transnationaler Verteilungs- und Kulturkampf diagnostiziert, der weder national noch für die EU zu lösen sei, weshalb sich die europäische liberale Demokratie in einem Abwärtstrend befinde: Gespalten sind Europas Gesellschaften zwischen Arm und Reich, Alt und Jung, Stadt und Land sowie Zentralismus und Regionalismus, was sich zuletzt in Frankreich, Großbritannien, Österreich, Deutschland und Spanien mit rechtsbürgerlichen, rechtskonservativen, nationalistischen und sezessionistischen Tendenzen artikulierte. Rechtspopulismus und Renationalisierung werden als Reaktionen auf die Perversionen des von der EU systemisch geförderten Neoliberalismus gewertet.
Die heutigen Konfliktlinien gehen tatsächlich im Unterschied zum europäischen Bürgerkrieg von 1914/18 bis 1939/45 nicht mehr zwischen, sondern durch alle ideologisch-politischen Lager. Bundeskanzlerin Angela Merkels Spruch "Scheitert der Euro, scheitert Europa!" stellt Guérot mit der Gegenbehauptung "Bleibt der Euro, wie er ist, scheitert die europäische Demokratie!" auf den Kopf, wobei sie in der deutschen Ideologie der Geldwertstabilität und der Exportüberschüsse sowie der Verwechslung von wohlwollender Hegemonie und nationaler Macht den größten "Knackpunkt" des neuen europäischen Bürgerkriegs ausmacht. Die Verwerfungen dürften aber, so meint der Rezensent, mehr mit Defiziten nationalstaatlicher Parteien-, Politik- und Sozialsysteme in Europa zu tun haben als mit dem "bösen" Deutschland und der EU, die beide als Projektionsflächen verschiedener linker wie rechter Populismen dienen.
Soweit die Gegenwartsanalyse Guérots weitgehend überzeugt, fragt sich die Autorin selbst bei all ihren wiederholt beschwörenden, ja flammenden Appellen zur Gründung einer europäischen Republik, wie diese realisiert werden soll. Selbst räumt sie ein, dass ein ökonomischer Treiber der europäischen Demokratie fehle und von einer diffusen politischen Mitte keine Initiativen ausgingen, zwar "Pulse of Europe" als "Sonntagsdemonstration" ein Nukleus für einen "europäischen Vormärz" sein könne, aber der größte Teil des "Volkes" wie europäische Biedermänner noch auf dem Sofa sitze. Guérots Vorschläge (Bürgerunion durch Wahlrechtsgleichheit, Fiskal-, Steuer-, Sozial- und Transferunion) laufen hingegen auf Überwindung der Politik der EU-Mitgliedstaaten hinaus, die jedoch mehr Kompetenzen als die Union besitzen.
Die EWG war eine nationalstaatliche Gründung. Wenn man diese Basis ignoriert, negiert oder übergeht, verweigert man die Realität der gemeinschaftlich organisierten, nach wie vor von Mitgliedstaaten getragenen und gesponserten EU. Zudem fragt sich, ob das, was Guérot fordert, nicht erst recht zu einem von niemandem (auch von der Autorin selbst sicher nicht) gewünschten, militant ausgetragenen Bürgerkrieg zwischen Gemeinschafts- und Nationalstaatsverfechtern führt, so wie er sich ja schon in Polen und Ungarn zwischen nationalistischen Regierungsanhängern und proeuropäischen Vertretern der Zivilgesellschaft abspielt. Der Vorschlag einer zweiten Kammer zur Stärkung der regionalen Identitäten scheint auch wenig Abhilfe zu versprechen, wenn man den katalanischen Wunsch nach einem unabhängigen Nationalstaat sieht.
Guérot spricht nicht von "Vereinigten Staaten von Europa" wie Richard von Coudenhove-Kalergi mit seiner Paneuropa-Union 1923 oder der amerikanische Publizist Clarence Streit mit seiner Forderung "Union now!" zu Beginn des Zweiten Weltkriegs. Sie gibt ihrem Projekt einen Zeithorizont von 10, 20 und 25 Jahren, weil sie es noch erleben will. In ihrem Wunsch, "die europäischen Nationalstaaten zu einer wirklichen politischen Einheit zu verschmelzen", macht Guérot ihre Rechnung jedoch ohne die Nationen. Sie sind weiterhin für die Bevölkerungen ein weit mehr identitätsstiftender Faktor als eine alleinstehende übergeordnete europäische Republik als Zukunftsversprechen, wobei - ganz nebenbei bemerkt - in Europa auch noch zahlreiche Monarchien bestehen.
MICHAEL GEHLER
Ulrike Guérot: Der neue Bürgerkrieg. Das offene Europa und seine Feinde. Ullstein Verlag, Berlin 2017. 96 S., 8,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
"Stürmisch" findet Rezensent Hannes Koch die Vorschläge, die die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot zur politischen Umgestaltung Europas unterbreitet. Mit "gleichem Wahlrecht für alle EuropäerInnen" bringt Koch diese auf den Punkt: Je ein Abgeordneter pro eine Million Stimmen und eine europäische Sozialgesetzgebung sollen die kriselnde Union in den Zustand einer Republik überführen und zugleich die bisherigen Gewichtungen innerhalb der EU nunmehr nach Einwohnerzahlen angleichen. Große Staaten würden damit allerdings noch mehr Einfluss gewinnen, merkt der Kritiker dazu an. Gegenüber solchen Einwänden macht Guérot allerdings die republikanische Idee stark, erläutert Koch weiter: In einem republikanischen Europaparlament mit Sozialgesetzgebung und voller Souveränität könnten mächtige Staaten nicht mehr ohne weiteres ihre Auflagen gegenüber kleineren durchdrücken, sagt er. Europa würde damit teurer - aber sozial sicherer, lautet Kochs Einschätzung von Guérots Thesen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Setzt sich wohltuend von den zahlreichen sonntagspredigthaften Europa-Statements ab." Adam Soboczynski Die Zeit 20170504