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Schauplatz des Romans ist die fiktive Kleinstadt Judenschlucht an der deutsch-tschechischen Grenze zu Beginn der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts. Der aus Petersburg stammende Erzähler verkleidet sich als Frau, um (via Frauenquote) in den Genuß eines Stipendiums im "Kulturbunker" zu kommen, und schon häufen sich die erzählerisch ergiebigen Verwicklungen. Und weitere Geschichten stoßen dazu: hier die Suche nach dem Golem, dort Recherchen des Erzählers, die einem kleinen, in Judenschlucht ansässigen jüdischen Stamm gelten ... Oleg Jurjew ist ein Meister der Vermischung, des Spiels mit Fakten…mehr

Produktbeschreibung
Schauplatz des Romans ist die fiktive Kleinstadt Judenschlucht an der deutsch-tschechischen Grenze zu Beginn der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts. Der aus Petersburg stammende Erzähler verkleidet sich als Frau, um (via Frauenquote) in den Genuß eines Stipendiums im "Kulturbunker" zu kommen, und schon häufen sich die erzählerisch ergiebigen Verwicklungen. Und weitere Geschichten stoßen dazu: hier die Suche nach dem Golem, dort Recherchen des Erzählers, die einem kleinen, in Judenschlucht ansässigen jüdischen Stamm gelten ...
Oleg Jurjew ist ein Meister der Vermischung, des Spiels mit Fakten und Fiktionen. Sein Spott geht schonungslos, doch liebevoll differenzierend zu Werk - dank einer Sprache, die alle Register bedient, mal poetisch und metaphernreich, mal umgangssprachlich und vulgär daherkommt, stets zu Anzüglichkeiten und Wortspielen bereit. Der neue Golem zielt auf eine Zeit der Umbrüche in Ost und West, als längst gebannte Geister freikamen, die wir bis heute nicht loswerden.
Oleg Jurjew, bekannt für ausgetüftelte Romankompositionen und eine facettenreiche Sprache, für satirische Sujets und poetische Details, legt mit dem Neuen Golem eine Synthese seines bisherigen Schaffens vor - und wagt sich in Neuland.
Autorenporträt
Oleg Jurjew, geboren 1959 in Leningrad, ist Lyriker, Dramatiker, Essayist und Erzähler. Veröffentlicht seit 1980. Seit 1991 lebt er in Frankfurt am Main. 1992 Stipendium der Akademie Schloß Solitude. Aufsehen erregte 1993 sein Stück "Kleiner Pogrom am Bahnhofsbuffet" während der Berliner Festwochen. Im Jahr 2010 wurde ihm der Hilde-Domin-Preis für Literatur im Exil verliehen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.01.2004

Karneval im Kulturbunker
Mythen-Travestie in Judenschlucht: Oleg Jurjews "Neuer Golem"

Rabbi Löws Golem, der Schutzengel des Prager Ghettos, war ein formloser Tonklumpen, belebt und in Schach gehalten durch das Zauberwort auf seiner Stirn. Gustav Meyrink fand ihn im Haus zur letzten Latern und hauchte der kabbalistischen Sagenfigur neues Leben ein: Sein Roman war eine vieldeutige Kreuzung aus Schauergeschichte und Spießersatire und eine hellsichtige Vorahnung des Holocaust. Der neue Golem des in Frankfurt lebenden Russen Oleg Jurjew ist ein grotesker Wiedergänger des alten: ein hochartifizieller, multikultureller Homunculus, in dem alle Sprachen, Epochen und politischen Systeme formlos zusammenklumpen. Noch immer spukt er in der Rumpelkammer der Geschichte, aber er ist nicht mehr Metapher und Vexierbild jüdischer Identität, sondern Modell des Neuen Menschen schlechthin.

Die Suche nach dem verlorenen Golem, ein "MacGuffin" in Hitchcocks Sinne, führt den Erzähler Jurik Goldstein auf eine Geisterbahnfahrt durch zweitausend Jahre abendländischer Geschichte, um die halbe Welt und tief in die Lebensgeschichte Jurjews. Aber am Ende bleibt uns nur seine höhnische These im Ohr, wonach nach tausend Jahren Diktatur der Toleranz "jedes Individuum der Neuen Westlichen Welt nicht nur das Recht hat, sondern auch geradezu die Pflicht, im Interesse der Zivilisation, des Fortschritts und der Humanität alle wesentlichen Attribute der Rassen, der Religionen und der beiden Geschlechter in sich zu vereinen. (Der Mensch der neuen Epoche wird ein roter grüner rosa schwarzer Jude-Christ-Moslem sein oder er wird nicht sein.")

Nacherzählen läßt sich diese Geburt des neuen Menschen natürlich nur andeutungsweise. Im Zweiten Weltkrieg wollte die SS-Einheit "Bumerang" Meyrinks Golem in Kafkas Prag aufspüren, um ihn als Wunderwaffe einzusetzen; der KGB brauchte ihn später für den Aufbau des Sozialismus, Amerika kaufte sein Gerippe fürs Völkerkundemuseum. Seine Spur verliert sich in Judenschlucht, einem fiktiven Städtchen im Niemandsland zwischen Tschechien, Ost- und Westdeutschland. Goldstein beantragt ein Stipendium, um einen Roman zu schreiben; aber Turmschreiber im Judenschluchter "Kulturbunker" kann nach den Vergaberichtlinien des sudentendeutschen Kulturfonds nur eine Quotenfrau werden, und so verwandelt sich Jurik in die taubstumme Julie Goldstein. Am Ende wird aus der Verbindung zwischen dem als Jude, Frau, Behinderter und Asylant vielfach gehandicapten Goldstein und einer äthiopischen Studentin ein afrorussischer Messias und Pseudo-Golem hervorgehen.

In Jurjews satirischem Universum ist nichts heilig, nichts, was es scheint, aber alles mit allem verwandt: Männer und Frauen, Rußland und Amerika, Sudetendeutsche und Tschechen, Antisemiten und Juden. Kinder sind Greise und Greise kindisch: Der "Krieg der Kinder und der Greise" steht nämlich auch für den Konflikt zwischen dem alten Europa und der Neuen Welt. Jurjew verwischt in seiner Tour de force planmäßig alle Grenzen von Zeit und Raum und kettet feindliche Antipoden aneinander. Nach der "Methode simultaner Simulakren-Überlagerung" sind etwa der "sanguinische Kommunist Hasek" und der cholerische Faschist Céline Brüder, der brave Soldat Schwejk und Ferdinand Bardamu Helden ein und desselben Metaromans. Die Sowjetunion firmiert nur als Skythoparther-Reich, Amerika als neues Imperium Romanum, und wenn ein Staatsmann nach Judenschlacht kommt, kann es "Joschka Goebbels", "Gaius Julius Kennedy" oder Großkhan Gorbatschow sein: Karel Gott singt für Stalin wie für Hitler, und Saddam Hussein ist auch dabei.

"Welch wundersame geschweifte Gedanken", staunt Jurjew-Goldstein immer wieder, "steigen auf in meinem Kopf!" Ist die Jüdin Marilyn Monroe von Kennedys Hofeunuchen mit einem vergifteten Klistier getötet worden? Sind Russen klüger und schneller, als das Vorurteil sagt? Jurjews "Roman in fünf Satiren" ist ein Sammelsurium von übermütigen Einfällen und literarischen Anspielungen, autobiographischen Erinnerungssplittern und kabarettistischen Dissonanzen, nach den strengen Gesetzen der kabbalistischen Zahlen- und Buchstabenmagie strukturiert, aber nach Inhalt und Form heillos verworren. Offensichtlich wollte der Autor den Zerfall der alten Weltordnung, die Bewußtseinsspaltung des russisch-jüdischen Emigranten, womöglich auch die Auflösung des postmodernen Subjekts überhaupt abbilden. Aber er verzettelt und verheddert sich so in polyglotten Sprachspielen, enzyklopädischen Abschweifungen und hermetischen "Assoziations-Pimmelionen", daß man dem Feuerwerk der Pointen bald weder folgen kann noch mag. Es fehlt seiner Satire durchaus nicht an boshaftem Witz und originellen Gedanken, und die beiden Übersetzerinnen haben Bewundernswertes geleistet. Aber die selbstverliebt ausufernde Phantasie Jurjews und Namenskalauer wie Kapellmeister-Golubchik, Symbolist Zimbalist und Boris Petrowitsch Hornostahl ermüden am Ende selbst an Jean Paul und Arno Schmidt gestählte Leser.

Jurjew kokettiert mit dem Mythos des ewigen Juden, der entwurzelt und ruhelos durch Geschichte und Weltliteratur wandert, Kafka und Bulgakow fortspinnt und atemlos weiter hetzt, ohne je ans Ziel zu kommen. Er beherrscht virtuos alle Tonlagen, Stilarten und Genres vom zarten Liebesroman bis zum derben Männerwitz, von Petronius' Satiren bis zum schrägen Humor eines Daniil Charms; er kennt Benjamins Geschichtsphilosophie und alle Ungereimtheiten der political correctness. Aber wie auf dem Fernsehbild des Zonenrandsenders Strassfurt beginnen die Zeilen zu hüpfen, bis das rasende Schelmenstück in Schneegeriesel und weißem Rauschen verschwindet. So hält man sich, dankbar für jedes Innehalten, lieber an die ruhigeren Passagen, in denen Jurjew wortmächtig und bildkräftig von seiner Jugend in Leningrad, vom Mutterwitz und den Spruchweisheiten seiner Oma und seiner Ammen erzählt.

Jonathan Safran Foer hat kürzlich in "Alles ist erleuchtet" mit Kauderwelsch und Kaskaden von Chagall-Bildern und bitteren Satiren ähnliche Arbeit am Mythos des russischen Judentums geleistet. Verglichen mit Jurjews Judenschlucht, war Trachimbrod ein beschauliches Schtetl und Foer von geradezu kindlicher Unschuld. Das mag aufs Konto unterschiedlicher Biographien und der greisenhaften Skepsis Alteuropas gehen. Aber Jurjew hat mutwillig einen neuen Golem beschworen, dem man nicht einmal in der Literatur begegnen will: Aus Fernsehbildern und Zitaten geklont, mit zweideutig schillerndem Fummel behängt, ist er seinem Schöpfer über den Kopf gewachsen und durch die Finger geschlüpft.

MARTIN HALTER

Oleg Jurjew: "Der neue Golem oder Der Krieg der Kinder und der Greise". Roman in fünf Satiren. Aus dem Russischen übersetzt von Elke Erb und Olga Martynova. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 277 S., geb., 22,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Martin Halter kommt nicht umhin, Oleg Jurjew zu bewundern: für seine schillernden Einfälle, die einander im Seitentakt ablösen, für seine enzyklopädische Kenntnis von zweitausend Jahren Mythen- und Realgeschichte, die er virtuos auf 277 Seiten implodieren lässt, für seinen "neuen Golem", diesen "hochartifiziellen, multikulturellen Homunculus, in dem alle Sprachen, Epochen und politischen Systeme formlos zusammenklumpen". Ohne jeden Zweifel habe der Leser es hier mit einem brillanten satirischen Feuerwerk zu tun, einer fulminanten Groteske, die mit dem Mythos des ewigen Juden spiele und die Archive des Abendlandes plündere, um - ja, was eigentlich? Um "den Zerfall der alten Weltordnung, die Bewusstseinsspaltung des russisch-jüdischen Emigranten, womöglich auch die Auflösung des postmodernen Subjekts überhaupt" abzubilden? In jedem Fall sei das Ganze so vollgestopft mit Schnipseln und Anspielungen, Pointen und "polyglotten Sprachspielen", und dabei so verworren, dass "das rasende Schelmenstück in Schneegeriesel und weißem Rauschen verschwindet" und "am Ende selbst an Jean Paul und Arno Schmidt gestählte Leser" ermüden müsse. Trotz der Qualitäten.

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