Anfang März 2008 wird Russlands neuer Präsident gewählt. Wladimir Putin darf nach der Verfassung kein drittes Mal antreten. Doch niemand bezweifelt, dass in der "gelenkten Demokratie" ein enger Vertrauter Putins sein Nachfolger wird. Sachkundig und lebendig porträtiert der Russland-Kenner Boris Reitschuster den neuen Herrn des Kreml: Wird er die Macht der Geheimdienste weiter stärken und den Großmacht-anspruch des amtierenden Präsidenten aufrecht erhalten? Oder wird er sich abwenden vom politischen Vermächtnis seines Vorgängers?
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.08.2008Schwache Hand mit starker Frau?
Annäherung an Russlands neuen Präsidenten Medwedjew
Von demokratischer Gewaltenteilung ist in Russland nach anfänglich durchaus ernsthaften Versuchen im Zuge des Untergangs der Sowjetunion kaum noch etwas geblieben. Was unter Boris Jelzin schon bald aus dem Ruder lief und schließlich geradezu chaotische Züge annehmen sollte, konterte sein Nachfolger Wladimir Putin mit einer ganz auf ihn zugeschnittenen sogenannten Machtvertikale, die so gut wie keinen Raum mehr für parlamentarische Mitsprache, das Entstehen einer unabhängigen Judikative oder freie Medienvielfalt ließ. Nichts sei dem Land abträglicher, so die vom Kreml gesteuerte Sprachregelung, als das Volk widerstreitenden Machtverhältnissen auszusetzen.
Und nun? Sieht sich Russland nicht doch unter Doppelherrschaft gestellt, seit Putin die politische Bedeutung des Ministerpräsidenten auf die Ebene derjenigen des Staatspräsidenten angehoben hat, jetzt, da sein langjähriger Adlatus Dmitrij Medwedjew von ihm auf den Kremlthron gehievt worden und er selbst an die Spitze der Regierung getreten ist? Boris Reitschuster, ein ebenso scharfsinniger wie scharfzüngiger Beobachter der Vorgänge in Moskau, wartet gleich im Titel seines Buches nicht von ungefähr mit einem weiteren Fragezeichen auf: Ist Dmitrij Medwedjew wirklich "Der neue Herr im Kreml?" Eine Antwort darauf kann so kurz nach dem Ämterwechsel niemand geben.
Vermutlich wissen nicht einmal die "Doppelherrscher" selbst, welchen Verlauf dieses Experiment nehmen wird. Zwar hat Medwedjew, der im Gegensatz zu Putin in Sankt Petersburg, dem damaligen Leningrad, vergleichsweise wohlbehütet als Spross einer Professorenfamilie aufwuchs und anders als Putin offenbar auch wenig Neigung zu einer "Tschekisten"-Karriere zeigte, vor seinem Einzug in den Kreml über Rechtsstaatlichkeit und Meinungsfreiheit in einer Weise gesprochen, die aufhorchen ließ. Fortan vielleicht doch ein "Liberaler" im Zentrum der Macht? Der Autor hat die so hoffnungsvoll klingenden Ankündigungen des neuen Präsidenten mit den Reden des Vorgängers verglichen - und siehe da: Was Medwedjew zu verheißen schien, hatte nahezu wortwörtlich schon Putin den Russen während seiner ersten Amtszeit von 2000 bis 2004 in Aussicht gestellt.
Nicht minder bemerkenswert ist ein von Reitschuster in Erinnerung gerufenes Interview, in dem Medwedjew kurz vor seiner Berufung zum Nachfolger Putins wissen lässt, sein Land könne nun einmal nur mit Hilfe einer "starken Macht des Präsidenten" geführt werden. Verwandle sich Russland hingegen in eine parlamentarische Republik, werde es "verschwinden". In seinem Gespräch mit der Zeitschrift "Itogi" ging er sogar noch weiter und reagierte auf die wohl kaum gegen seinen Willen gestellte Nachfrage, wo die Macht denn nun liegen werde, wenn im Kreml ein Präsident sitze, die Regierung aber von einem "Nationalen Führer", mithin Putin, geleitet werde: "Es wird keine zwei, drei oder fünf Zentren geben. Russland regiert der Präsident, und davon gibt es nach der Verfassung nur einen."
Damit sind den Spekulationen über das künftige Machtgefüge in Moskau selbstredend Tor und Tür geöffnet. Ihnen kann sich auch der Autor schwerlich entziehen, wobei er allerdings gelegentlich einen etwas flotten Hang zur Psychoanalyse erkennen lässt. Es täusche sich, wer beklage, dass Medwedjew blass und farblos wirke, wird dem Leser bedeutet. Immerhin könne der neue Präsident mit einem "eindrucksvollen Farbtupfer" in Gestalt seiner Frau Swetlana aufwarten. Ihres Zeichens Wirtschaftswissenschaftlerin, wird sie als eine starke und selbstbewusste Frau porträtiert, die "eine Schlüsselrolle für die Zukunft Russlands spielen" könne. Wie bitte? Zur Begründung lässt der Autor allen Ernstes einen "sehr gut vernetzten Moskauer Politiker" mit dem Satz zu Wort kommen: "Wenn Wladimir Putin damit rechnet, dass er mit Dmitrij Medwedjew eine Marionette im Präsidentenamt installieren kann, dann hat er diese Rechnung ohne Swetlana gemacht."
Gegen Ende des Buches kommen freilich auch Reitschuster in dieser Hinsicht so manche Bedenken. Er hält es für "weitaus wahrscheinlicher", dass Medwedjew "als schwacher Präsident eine Fußnote in der Geschichte Russlands bleiben wird". Zwar hat Medwedjew in steter Nähe zu seinem Mentor Putin über Jahre hinweg viele Erfahrungen im Moskauer "Haifischbecken" sammeln können: als Chef des Präsidialamtes im Kreml, als stellvertretender Ministerpräsident und nicht zuletzt als Aufsichtsratsvorsitzender des keineswegs nur wirtschaftlich mächtigen Gasprom-Giganten. Ein politisches Leichtgewicht ist er mithin wohl kaum.
Putin hat kurz vor seinem Umzug ins Weiße Haus, dem Regierungssitz an der Moskwa, ein nach ihm benanntes Programm zur Entwicklung Russlands hinterlassen, das zeitlich bis zum Jahr 2020 reicht. Da nun bietet sich ein Zahlenspiel an, dem auch Reitschuster nicht widerstehen kann. Möglicherweise hat die Rechnung nach allen bisherigen Erfahrungen mit Putins Einfallsreichtum sogar etwas für sich. Also: Nach vierjähriger Amtszeit Medwedjews im Kreml könnte sich 2012 wieder Putin zum Präsidenten küren lassen und ebendies 2016 ein weiteres Mal. Dann wäre ein zeitlicher Gleichklang seiner Kremlherrschaft mit seinem Entwicklungsprogramm hergestellt - und das alles im Rahmen der russischen Verfassung.
WERNER ADAM
Boris Reitschuster: Der neue Herr im Kreml? Dmitrij Medwedjew. Econ Verlag, Berlin 2008. 254 S., 16,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Annäherung an Russlands neuen Präsidenten Medwedjew
Von demokratischer Gewaltenteilung ist in Russland nach anfänglich durchaus ernsthaften Versuchen im Zuge des Untergangs der Sowjetunion kaum noch etwas geblieben. Was unter Boris Jelzin schon bald aus dem Ruder lief und schließlich geradezu chaotische Züge annehmen sollte, konterte sein Nachfolger Wladimir Putin mit einer ganz auf ihn zugeschnittenen sogenannten Machtvertikale, die so gut wie keinen Raum mehr für parlamentarische Mitsprache, das Entstehen einer unabhängigen Judikative oder freie Medienvielfalt ließ. Nichts sei dem Land abträglicher, so die vom Kreml gesteuerte Sprachregelung, als das Volk widerstreitenden Machtverhältnissen auszusetzen.
Und nun? Sieht sich Russland nicht doch unter Doppelherrschaft gestellt, seit Putin die politische Bedeutung des Ministerpräsidenten auf die Ebene derjenigen des Staatspräsidenten angehoben hat, jetzt, da sein langjähriger Adlatus Dmitrij Medwedjew von ihm auf den Kremlthron gehievt worden und er selbst an die Spitze der Regierung getreten ist? Boris Reitschuster, ein ebenso scharfsinniger wie scharfzüngiger Beobachter der Vorgänge in Moskau, wartet gleich im Titel seines Buches nicht von ungefähr mit einem weiteren Fragezeichen auf: Ist Dmitrij Medwedjew wirklich "Der neue Herr im Kreml?" Eine Antwort darauf kann so kurz nach dem Ämterwechsel niemand geben.
Vermutlich wissen nicht einmal die "Doppelherrscher" selbst, welchen Verlauf dieses Experiment nehmen wird. Zwar hat Medwedjew, der im Gegensatz zu Putin in Sankt Petersburg, dem damaligen Leningrad, vergleichsweise wohlbehütet als Spross einer Professorenfamilie aufwuchs und anders als Putin offenbar auch wenig Neigung zu einer "Tschekisten"-Karriere zeigte, vor seinem Einzug in den Kreml über Rechtsstaatlichkeit und Meinungsfreiheit in einer Weise gesprochen, die aufhorchen ließ. Fortan vielleicht doch ein "Liberaler" im Zentrum der Macht? Der Autor hat die so hoffnungsvoll klingenden Ankündigungen des neuen Präsidenten mit den Reden des Vorgängers verglichen - und siehe da: Was Medwedjew zu verheißen schien, hatte nahezu wortwörtlich schon Putin den Russen während seiner ersten Amtszeit von 2000 bis 2004 in Aussicht gestellt.
Nicht minder bemerkenswert ist ein von Reitschuster in Erinnerung gerufenes Interview, in dem Medwedjew kurz vor seiner Berufung zum Nachfolger Putins wissen lässt, sein Land könne nun einmal nur mit Hilfe einer "starken Macht des Präsidenten" geführt werden. Verwandle sich Russland hingegen in eine parlamentarische Republik, werde es "verschwinden". In seinem Gespräch mit der Zeitschrift "Itogi" ging er sogar noch weiter und reagierte auf die wohl kaum gegen seinen Willen gestellte Nachfrage, wo die Macht denn nun liegen werde, wenn im Kreml ein Präsident sitze, die Regierung aber von einem "Nationalen Führer", mithin Putin, geleitet werde: "Es wird keine zwei, drei oder fünf Zentren geben. Russland regiert der Präsident, und davon gibt es nach der Verfassung nur einen."
Damit sind den Spekulationen über das künftige Machtgefüge in Moskau selbstredend Tor und Tür geöffnet. Ihnen kann sich auch der Autor schwerlich entziehen, wobei er allerdings gelegentlich einen etwas flotten Hang zur Psychoanalyse erkennen lässt. Es täusche sich, wer beklage, dass Medwedjew blass und farblos wirke, wird dem Leser bedeutet. Immerhin könne der neue Präsident mit einem "eindrucksvollen Farbtupfer" in Gestalt seiner Frau Swetlana aufwarten. Ihres Zeichens Wirtschaftswissenschaftlerin, wird sie als eine starke und selbstbewusste Frau porträtiert, die "eine Schlüsselrolle für die Zukunft Russlands spielen" könne. Wie bitte? Zur Begründung lässt der Autor allen Ernstes einen "sehr gut vernetzten Moskauer Politiker" mit dem Satz zu Wort kommen: "Wenn Wladimir Putin damit rechnet, dass er mit Dmitrij Medwedjew eine Marionette im Präsidentenamt installieren kann, dann hat er diese Rechnung ohne Swetlana gemacht."
Gegen Ende des Buches kommen freilich auch Reitschuster in dieser Hinsicht so manche Bedenken. Er hält es für "weitaus wahrscheinlicher", dass Medwedjew "als schwacher Präsident eine Fußnote in der Geschichte Russlands bleiben wird". Zwar hat Medwedjew in steter Nähe zu seinem Mentor Putin über Jahre hinweg viele Erfahrungen im Moskauer "Haifischbecken" sammeln können: als Chef des Präsidialamtes im Kreml, als stellvertretender Ministerpräsident und nicht zuletzt als Aufsichtsratsvorsitzender des keineswegs nur wirtschaftlich mächtigen Gasprom-Giganten. Ein politisches Leichtgewicht ist er mithin wohl kaum.
Putin hat kurz vor seinem Umzug ins Weiße Haus, dem Regierungssitz an der Moskwa, ein nach ihm benanntes Programm zur Entwicklung Russlands hinterlassen, das zeitlich bis zum Jahr 2020 reicht. Da nun bietet sich ein Zahlenspiel an, dem auch Reitschuster nicht widerstehen kann. Möglicherweise hat die Rechnung nach allen bisherigen Erfahrungen mit Putins Einfallsreichtum sogar etwas für sich. Also: Nach vierjähriger Amtszeit Medwedjews im Kreml könnte sich 2012 wieder Putin zum Präsidenten küren lassen und ebendies 2016 ein weiteres Mal. Dann wäre ein zeitlicher Gleichklang seiner Kremlherrschaft mit seinem Entwicklungsprogramm hergestellt - und das alles im Rahmen der russischen Verfassung.
WERNER ADAM
Boris Reitschuster: Der neue Herr im Kreml? Dmitrij Medwedjew. Econ Verlag, Berlin 2008. 254 S., 16,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Ralf Altenhof weiß Boris Reitschusters Buch über Dmitrij Medwedew, "Der neue Herr des Kreml", durchaus zu schätzen, aber er verhehlt nicht, dass es neben großen Stärken auch einige Schwächen aufweist. Überzeugend findet er die Ausführungen über die russischen Verhältnisse, die Unterdrückung der Opposition, die Aufhebung der Gewaltenteilung und das System Putin. Kein Zufall scheint ihm, dass neben dem zukünftigen Präsidenten Russlands Medwedew auch Putin im Mittelpunkt des Buchs steht. Altenhof attestiert dem Autor, das Beziehungsgeflecht zwischen den beiden Politikern zu erhellen. Die Frage, ob Medwedew nun eine Marionette Putins sei oder nicht, bleibt in seinen Augen allerdings unergiebig unentschieden. Überhaupt erfährt man über Medwedew zu seinem Bedauern nichts viel Neues. Seines Erachtens kommt das Medwedew-Porträt auch "zu früh", um wirklich fundiert zu sein. Insgesamt hätte er sich gewünscht, der Autor hätte sich auf ein "Lagebild Russlands beim Übergang von Putin zu Medwedew" konzentriert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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