Iran ist trotz autoritärer Regierung in jüngerer Zeit zu einem modernen, dynamischen, weltoffenen Land geworden - viel weniger religiös, dafür pragmatischer und weiblicher als nach der Revolution von 1979. Diesem »neuen Iran«" widmet Charlotte Wiedemann ihr großes Gesellschaftsportrait: von der großstädtischen Theaterszene zum schiitischen Volksislam, von der kurdischen Sufi-Zeremonie zum Sabbat in einer jüdischen Familie. Ein Alltag, in dem massenhaft gegen die Regeln des Regimes verstoßen wird; eine Zivilgesellschaft, die religiöse Ethik neu bestimmt.
Zugleich analysiert die Autorin das Weltbild der Iraner, ihren obsessiven Nationalstolz, die Iran eigene Mischung aus Hochmut und Komplexen und seine im Westen oft unverstandenen Ängste.
Zugleich analysiert die Autorin das Weltbild der Iraner, ihren obsessiven Nationalstolz, die Iran eigene Mischung aus Hochmut und Komplexen und seine im Westen oft unverstandenen Ängste.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.03.2017Große Erwartungen bergen große Missverständnisse
Wer das Land allein durch die religiöse Brille betrachtet, dem entgeht einiges: Charlotte Wiedemann plädiert für eine neue Sicht auf Iran.
Von Friederike Böge
In der westlichen Berichterstattung über Iran fehle "die Wirklichkeit des gelebten Lebens", beklagt Charlotte Wiedemann. Es werde stattdessen nur über ein "von staatlicher und religiöser Seite verordnetes Leben" berichtet. Mit ihrem Buch "Der neue Iran" will sie diese Lücke füllen. Die Autorin nimmt darin die Position einer reisenden Journalistin ein, die religiöse Zeremonien miterlebt, Orte des nationalen Kriegsgedenkens besucht, Zufallsbegegnungen schildert, aber auch gezielt Gespräche mit Künstlern, Zeitzeugen und Sozialaktivisten führt. Wie in ihren früheren Büchern und vielen ihrer journalistischen Reportagen probt Wiedemann den Perspektivwechsel, den nichtwestlichen Blick.
Dem Bild eines drakonischen islamistischen Regimes stellt die Autorin die Schilderung einer Kultur des massenhaften Regelverstoßes entgegen. Beispiel Satellitenschüsseln: In Iran ist es verboten, ausländische Fernsehprogramme zu empfangen. Doch fast zwei Drittel der Teheraner tun es trotzdem. Und wenn im Durchschnitt alle sieben Jahre ein Aufseher kommt, um ihre Schüssel zu beschlagnahmen, hat das nach Wiedemanns Einschätzung weniger mit religiösem Eifer zu tun als mit den Geschäftsinteressen der Revolutionsgarden. Denn der von ihnen kontrollierte Konzern namens "Das Siegel des Propheten" importiere die verbotenen Empfangsgeräte. Je mehr alte Geräte zerstört würden, desto mehr Nachfrage gebe es auf dem Schwarzmarkt nach neuen. Gelebtes Leben also.
Wiedemann geht noch einen Schritt weiter. Sie sieht in der Duldung des massenhaften Regelverstoßes ein Überlebensprinzip der Islamischen Republik, eine Art Gesellschaftsvertrag: "Ihr lasst uns trotz eurer großen Unzufriedenheit an der Macht, und wir machen euch dafür das Leben nicht so schwer, wie wir könnten." Überzeugend plädiert die Autorin auch dafür, den Begriff Gottesstaat, der gern für Iran verwendet wird, einzumotten. Wer das Land allein durch die religiöse Brille betrachtet, dem entgehen wichtige Aspekte wie die wachsende Kluft zwischen Reich und Arm, die Militarisierung des Staatsapparats, die allgegenwärtige Korruption und der Grad an Säkularisierung, der gerade wegen der Islamischen Revolution weiter fortgeschritten ist als in den Nachbarländern.
Ein paar Schritte zu weit geht Wiedemann hingegen in ihrem Bemühen, dem Bild des Aggressors Iran, der Israel bedroht und Terrororganisationen unterstützt, ein von Imperialismus und Invasion traumatisiertes Land entgegenzustellen. "Die Geschichte der vergangenen zwei Jahrhunderte gibt den Iranern wenig Anlass, dem Westen zu vertrauen", so die Autorin. Ausführlich geht sie auf die westliche Komplizenschaft mit dem autokratischen Schah-Regime ein; auf die Rolle der CIA beim Sturz des Premierministers Mossadegh; auf die westliche Unterstützung des Iraks im verlustreichen Krieg gegen Iran (1980 bis 1988).
Wiedemann beschreibt, welchen zentralen Stellenwert das Gedenken an die Opfer dieses Krieges bis heute im iranischen Alltag, aber auch in der Propaganda des Regimes einnimmt. Aufschlussreich ist auch, wie dabei Elemente des jahrhundertealten Passionsritus aufgegriffen werden, der die Schlacht von Kerbela aus dem Jahr 680 nachempfindet; nach schiitischem Verständnis eine Art Urkampf zwischen Gut und Böse. Die Gefallenen des Irak-Kriegs - und übrigens auch des aktuellen Syrien-Krieges - werden als Märtyrer idealisiert, so wie Hussein, der Enkel des Propheten Mohammed, sich in Kerbela heldenhaft einer Übermacht stellte.
Wiedemann besucht das Kriegsdenkmal von Shalamcheh an der Grenze zum Irak, wo Schulkinder aufgefordert werden, die Flaggen Amerikas und Israels mit Füßen zu treten. Von Saddam Hussein, schreibt Wiedemann, sei unter den Besuchern nicht die Rede. Der Irak ist inzwischen ein Verbündeter Teherans. Der Krieg ist in der offiziellen Darstellung zum Sinnbild des Verrats durch den Westen geronnen. So unterstützten die Vereinigten Staaten seinerzeit den Irak etwa mit Satellitenbildern von iranischen Stellungen, und deutsche Firmen lieferten Chemikalien zur Herstellung von Giftgas, das Saddam Hussein gegen die iranische Zivilbevölkerung einsetzte. Iran bemühte sich vergeblich um eine Verurteilung der Angriffe durch die Vereinten Nationen. In der Teheraner Darstellung der Ereignisse wird allerdings gern verschwiegen, dass Iran 1982 nach dem Abzug der irakischen Truppen einen Friedensschluss ablehnte, zum Angriff überging und den Krieg sechs Jahre verlängerte.
"In dieser Situation entschied die Führung der Islamischen Republik, das Nuklearprogramm wiederaufzunehmen", das in der Schah-Zeit mit amerikanischer und französischer Hilfe begonnen und von Chomeini aus religiösen Gründen zunächst eingestellt worden sei. Nicht nur an dieser Stelle liest sich der Text wie eine Rechtfertigung des iranischen Atom- und Raketenprogramms. In ihrem Bemühen, westliche Zerrbilder zu korrigieren und der iranischen Sicht Raum zu geben, macht sich die Autorin das Selbstbild der Iraner zu eigen. So bezeichnet sie etwa die Sorgen Israels und des Westens mit Blick auf das iranische Streben nach Nuklearwaffen lapidar als "Bevormundung".
Besser wäre Wiedemann bei dem im Vorwort beschriebenen Ansinnen geblieben, das iranische Selbstbild dem westlichen Fremdbild gegenüberzustellen. Denn die Kenntnis der iranischen Verwundungen ist tatsächlich notwendig, um die Politik Teherans zu verstehen, die so stark wie in kaum einem anderen Land geprägt ist vom Misstrauen gegenüber dem Westen - und zugleich vom Durst nach Anerkennung durch den gleichen Westen, wie Wiedemann anmerkt. Ein solches Verständnis ist wichtiger denn je, denn bei der Lösung des Syrien-Konflikts und der Bekämpfung des "Islamischen Staates" führt kaum ein Weg an Iran vorbei.
Der Titel des Buches, "Der neue Iran", führt ein wenig in die Irre. Denn mit "neu" meint Wiedemann die Entwicklungen nach der ersten Phase der Revolution, also nach 1989. Seither sei Iran pragmatischer, weiblicher, nationaler und weniger religiös geworden. Man darf aber vermuten, dass der Verlag mit dem Titel bewusst auf jene übertriebenen Erwartungen eines sich rasch öffnenden Irans anspielt, die nach dem Abschluss des Atomabkommens mancherorts geweckt wurden - und die von Wiedemann selbst zurückgewiesen werden.
In ihrem Buch präsentiert sie, eingebettet in geschichtliche Exkurse, ein Mosaik aus anregenden Begegnungen und interessanten Beobachtungen, die doch in ihrer Zusammenstellung bisweilen kursorisch, wenn nicht gar willkürlich wirken. An manchen Stellen gibt Wiedemann Hinweise, warum das womöglich so ist. Einer ihrer Gesprächspartner wird vom Geheimdienst einbestellt, andere müssen aus Sicherheitserwägungen anonym bleiben, und wieder andere ziehen es vor, gar nicht mit der Autorin zu sprechen. So ist das in Iran. Ein Land, das sich von der Welt missverstanden fühlt - und doch selbst jenen Steine in den Weg legt, die sich ernsthaft darum bemühen, es zu verstehen.
Charlotte Wiedemann: "Der neue Iran". Eine Gesellschaft tritt aus dem Schatten.
dtv Verlagsgesellschaft, München 2017. 304 S., Abb., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wer das Land allein durch die religiöse Brille betrachtet, dem entgeht einiges: Charlotte Wiedemann plädiert für eine neue Sicht auf Iran.
Von Friederike Böge
In der westlichen Berichterstattung über Iran fehle "die Wirklichkeit des gelebten Lebens", beklagt Charlotte Wiedemann. Es werde stattdessen nur über ein "von staatlicher und religiöser Seite verordnetes Leben" berichtet. Mit ihrem Buch "Der neue Iran" will sie diese Lücke füllen. Die Autorin nimmt darin die Position einer reisenden Journalistin ein, die religiöse Zeremonien miterlebt, Orte des nationalen Kriegsgedenkens besucht, Zufallsbegegnungen schildert, aber auch gezielt Gespräche mit Künstlern, Zeitzeugen und Sozialaktivisten führt. Wie in ihren früheren Büchern und vielen ihrer journalistischen Reportagen probt Wiedemann den Perspektivwechsel, den nichtwestlichen Blick.
Dem Bild eines drakonischen islamistischen Regimes stellt die Autorin die Schilderung einer Kultur des massenhaften Regelverstoßes entgegen. Beispiel Satellitenschüsseln: In Iran ist es verboten, ausländische Fernsehprogramme zu empfangen. Doch fast zwei Drittel der Teheraner tun es trotzdem. Und wenn im Durchschnitt alle sieben Jahre ein Aufseher kommt, um ihre Schüssel zu beschlagnahmen, hat das nach Wiedemanns Einschätzung weniger mit religiösem Eifer zu tun als mit den Geschäftsinteressen der Revolutionsgarden. Denn der von ihnen kontrollierte Konzern namens "Das Siegel des Propheten" importiere die verbotenen Empfangsgeräte. Je mehr alte Geräte zerstört würden, desto mehr Nachfrage gebe es auf dem Schwarzmarkt nach neuen. Gelebtes Leben also.
Wiedemann geht noch einen Schritt weiter. Sie sieht in der Duldung des massenhaften Regelverstoßes ein Überlebensprinzip der Islamischen Republik, eine Art Gesellschaftsvertrag: "Ihr lasst uns trotz eurer großen Unzufriedenheit an der Macht, und wir machen euch dafür das Leben nicht so schwer, wie wir könnten." Überzeugend plädiert die Autorin auch dafür, den Begriff Gottesstaat, der gern für Iran verwendet wird, einzumotten. Wer das Land allein durch die religiöse Brille betrachtet, dem entgehen wichtige Aspekte wie die wachsende Kluft zwischen Reich und Arm, die Militarisierung des Staatsapparats, die allgegenwärtige Korruption und der Grad an Säkularisierung, der gerade wegen der Islamischen Revolution weiter fortgeschritten ist als in den Nachbarländern.
Ein paar Schritte zu weit geht Wiedemann hingegen in ihrem Bemühen, dem Bild des Aggressors Iran, der Israel bedroht und Terrororganisationen unterstützt, ein von Imperialismus und Invasion traumatisiertes Land entgegenzustellen. "Die Geschichte der vergangenen zwei Jahrhunderte gibt den Iranern wenig Anlass, dem Westen zu vertrauen", so die Autorin. Ausführlich geht sie auf die westliche Komplizenschaft mit dem autokratischen Schah-Regime ein; auf die Rolle der CIA beim Sturz des Premierministers Mossadegh; auf die westliche Unterstützung des Iraks im verlustreichen Krieg gegen Iran (1980 bis 1988).
Wiedemann beschreibt, welchen zentralen Stellenwert das Gedenken an die Opfer dieses Krieges bis heute im iranischen Alltag, aber auch in der Propaganda des Regimes einnimmt. Aufschlussreich ist auch, wie dabei Elemente des jahrhundertealten Passionsritus aufgegriffen werden, der die Schlacht von Kerbela aus dem Jahr 680 nachempfindet; nach schiitischem Verständnis eine Art Urkampf zwischen Gut und Böse. Die Gefallenen des Irak-Kriegs - und übrigens auch des aktuellen Syrien-Krieges - werden als Märtyrer idealisiert, so wie Hussein, der Enkel des Propheten Mohammed, sich in Kerbela heldenhaft einer Übermacht stellte.
Wiedemann besucht das Kriegsdenkmal von Shalamcheh an der Grenze zum Irak, wo Schulkinder aufgefordert werden, die Flaggen Amerikas und Israels mit Füßen zu treten. Von Saddam Hussein, schreibt Wiedemann, sei unter den Besuchern nicht die Rede. Der Irak ist inzwischen ein Verbündeter Teherans. Der Krieg ist in der offiziellen Darstellung zum Sinnbild des Verrats durch den Westen geronnen. So unterstützten die Vereinigten Staaten seinerzeit den Irak etwa mit Satellitenbildern von iranischen Stellungen, und deutsche Firmen lieferten Chemikalien zur Herstellung von Giftgas, das Saddam Hussein gegen die iranische Zivilbevölkerung einsetzte. Iran bemühte sich vergeblich um eine Verurteilung der Angriffe durch die Vereinten Nationen. In der Teheraner Darstellung der Ereignisse wird allerdings gern verschwiegen, dass Iran 1982 nach dem Abzug der irakischen Truppen einen Friedensschluss ablehnte, zum Angriff überging und den Krieg sechs Jahre verlängerte.
"In dieser Situation entschied die Führung der Islamischen Republik, das Nuklearprogramm wiederaufzunehmen", das in der Schah-Zeit mit amerikanischer und französischer Hilfe begonnen und von Chomeini aus religiösen Gründen zunächst eingestellt worden sei. Nicht nur an dieser Stelle liest sich der Text wie eine Rechtfertigung des iranischen Atom- und Raketenprogramms. In ihrem Bemühen, westliche Zerrbilder zu korrigieren und der iranischen Sicht Raum zu geben, macht sich die Autorin das Selbstbild der Iraner zu eigen. So bezeichnet sie etwa die Sorgen Israels und des Westens mit Blick auf das iranische Streben nach Nuklearwaffen lapidar als "Bevormundung".
Besser wäre Wiedemann bei dem im Vorwort beschriebenen Ansinnen geblieben, das iranische Selbstbild dem westlichen Fremdbild gegenüberzustellen. Denn die Kenntnis der iranischen Verwundungen ist tatsächlich notwendig, um die Politik Teherans zu verstehen, die so stark wie in kaum einem anderen Land geprägt ist vom Misstrauen gegenüber dem Westen - und zugleich vom Durst nach Anerkennung durch den gleichen Westen, wie Wiedemann anmerkt. Ein solches Verständnis ist wichtiger denn je, denn bei der Lösung des Syrien-Konflikts und der Bekämpfung des "Islamischen Staates" führt kaum ein Weg an Iran vorbei.
Der Titel des Buches, "Der neue Iran", führt ein wenig in die Irre. Denn mit "neu" meint Wiedemann die Entwicklungen nach der ersten Phase der Revolution, also nach 1989. Seither sei Iran pragmatischer, weiblicher, nationaler und weniger religiös geworden. Man darf aber vermuten, dass der Verlag mit dem Titel bewusst auf jene übertriebenen Erwartungen eines sich rasch öffnenden Irans anspielt, die nach dem Abschluss des Atomabkommens mancherorts geweckt wurden - und die von Wiedemann selbst zurückgewiesen werden.
In ihrem Buch präsentiert sie, eingebettet in geschichtliche Exkurse, ein Mosaik aus anregenden Begegnungen und interessanten Beobachtungen, die doch in ihrer Zusammenstellung bisweilen kursorisch, wenn nicht gar willkürlich wirken. An manchen Stellen gibt Wiedemann Hinweise, warum das womöglich so ist. Einer ihrer Gesprächspartner wird vom Geheimdienst einbestellt, andere müssen aus Sicherheitserwägungen anonym bleiben, und wieder andere ziehen es vor, gar nicht mit der Autorin zu sprechen. So ist das in Iran. Ein Land, das sich von der Welt missverstanden fühlt - und doch selbst jenen Steine in den Weg legt, die sich ernsthaft darum bemühen, es zu verstehen.
Charlotte Wiedemann: "Der neue Iran". Eine Gesellschaft tritt aus dem Schatten.
dtv Verlagsgesellschaft, München 2017. 304 S., Abb., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In dem Buch wird viel Unbekanntes beleuchtet. [...] So gibt Wiedemann einen lesenswerten Überblick über den modernen Iran, dessen Beziehungen zum Westen in den letzten Jahren durch den Atom-Streit erkaltet sind.. Manuela Rosenthal-Kappi Preußische Allgemeine Zeitung 20190607