Einsamer Rufer in der (Medien-) Wüste
„Wenn sich die Wirklichkeit dem eigenen Denkmuster nicht fügen will, werden auch in seriösen Zeitungen notfalls die Gesetze der Statistik auf den Kopf gestellt.“ (12) Thilo Sarrazin erläutert, was er damit meint. Das „eigene Denkmuster“ in diesem Sinne ist
die von den Medien verbreitete gesellschaftlich opportune Meinung, welche im Dienste einer höheren…mehrEinsamer Rufer in der (Medien-) Wüste
„Wenn sich die Wirklichkeit dem eigenen Denkmuster nicht fügen will, werden auch in seriösen Zeitungen notfalls die Gesetze der Statistik auf den Kopf gestellt.“ (12) Thilo Sarrazin erläutert, was er damit meint. Das „eigene Denkmuster“ in diesem Sinne ist die von den Medien verbreitete gesellschaftlich opportune Meinung, welche im Dienste einer höheren moralischen Wahrheit zu stehen scheint. Wer hiervon abweicht, gilt als Provokateur. Meinungsvielfalt, wie sie in der Medienlandschaft vor 30 Jahren noch üblich war, ist heute nicht mehr vorhanden.
Autor Sarrazin beschäftigt sich mit diesem Phänomen. Er untersucht den Begriff Meinungsfreiheit, berichtet über eigene Erfahrungen mit Meinungsherrschaft und analysiert Meinungsbildungsprozesse. Er resümiert, dass die meisten Menschen (auch gegen besseres Wissen) Mehrheitsmeinungen von Gruppen annehmen, zu denen sie selbst gehören. Dieses Phänomen wurde hinlänglich psychologisch untersucht und ist allgemein bekannt. Offensichtlich fehlt es an kritischer Selbstreflexion bzw. an Mut, eine eigene (individuelle) Meinung zu vertreten.
Sarrazin untersucht vierzehn Axiome des Tugendwahns im Deutschland der Gegenwart. Damit stößt er eine gesellschaftliche Debatte an, die von Politik und Medien gern ausgeblendet wird, jedoch überfällig ist. Die Axiome sollten gründlich gelesen und kritisch reflektiert werden. Es mangelt heute an sachlich geführten offenen Diskussionen, ohne dass gleich die moralische Keule geschwungen oder massiver Druck ausgeübt wird.
Das Buch ist ein Plädoyer für Meinungsfreiheit und gegen Gleichmacherei. „Urteilen soll dann der Leser … welche Position ihn jeweils mehr überzeugt.“ (342) Der Autor verkündet nicht „die Wahrheit“, denn „die Wahrheit“ gibt es nicht. Menschen konstruieren ihre eigenen Wirklichkeiten. Die Medien (i.V.m. der Politik) haben die Rolle übernommen, die Meinungen in eine bestimmte Richtung zu biegen. Auffallend ist, dass diese publizierten Meinungen, so einheitlich und einvernehmlich sie auch wirken, oftmals nicht mit den Meinungen der Bürgerinnen und Bürger des Landes übereinstimmen. Notwendig für einen ausgewogenen Meinungsbildungsprozess sind vielschichtige Informationen und offene Diskussionen. Nur so funktioniert Demokratie.