Matthias Bleuel, ein scheuer Büromensch, lebt seit der Trennung von seiner Frau wie betäubt vor sich hin. Ausgerechnet ihn schickt sein greiser und russlandsentimentaler Chef nach Sibirien, um dort in einer winzigen Zweigstelle des Unternehmens eine Urkunde zu überreichen. Zwischen Bauchschmerzen und Resignation schwankend, tritt er die Reise an. Doch alles kommt anders als erwartet: Erst verwandelt ein eigensinniger Dolmetscher Bleuels peinliche Ansprache in einen Starauftritt. Und als der Gast ein Konzert der schorischen Sängerin Ak Torgu erlebt, ist es um ihn geschehen. Zunächst stolpernd, dann immer drängender bewegt er sich in eine ganz fremde Welt hinein. Un in der mystischen sibirschen Sommerlandschaft wird der verzagte Logistiker zum liebestrunkenen Draufgänger.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.04.2009Der Deppenwolf
Von Schwaben nach Sibirien: Michael Ebmeyer folgt in seinem Reiseroman einem Stuttgarter Logistiker ins neue Dasein mit lebendigem Bier und Kehlkopfsängerinnen zum Dahinschmelzen.
Ilka heißt die Kuh. Acht Jahre hat sie ihn ertragen, den drögen Stuttgarter Versandhauslogistiker mit dem verbeulten Namen Matze Bleuel, bis sie endlich aufmuht: "Matthias, du bist ein einziger Irrweg." Wie recht sie damit hat, zeigt sich aber erst Monate später, als sich der Irrweg korkenziehermäßig in die Seele des Verlassenen hineinzuschrauben beginnt. Der Geist will aus der Flasche, aber nur quälend langsam nähert sich Bleuel in Michael Ebmeyers Aussteiger- und Erweckungsroman "Der Neuling" seiner Entkorkung.
Am Ende aber findet der "Tanzbär" im "Geisterland", der Heimat "friedlich trinkender Menschen", sein Glück, genauer: "die Wolfsspur". Dazu gibt er sich ganz der sibirischen Schamanin Ak Torgu und ihren Trommelrhythmen hin. Ilka ("Geh nach Sibirien, aber lass mich in Ruhe") würde sich jedenfalls gehörig wundern über Matwej mit der Zobelpfote, den Deppenwolf. Der immerhin ist endlich über sie hinweg: "Du hast das Nescht verlassen, nun habe ich das Nescht auch verlassen, alles ist vorbei, alles ist gut."
Was der schwäbische Zauderer überhaupt in Sibirien zu suchen hat, ist schnell erklärt: Die Vorsehung hat sich eingeschaltet, und zwar in Form des greisen Firmenpatriarchen Fengler. Der Leiterin einer sehr erfolgreichen Minizweigstelle des Unternehmens im russischen Kemerowo soll persönlich eine Urkunde ausgefertigt werden. Wir folgen also dem Überbringer, ohne auch nur ein einziges Detail zu verpassen: Visumantrag, "Russisch Wort für Wort", Einreiseformular, Moskauer Zwischenstopp, Verschiebung des Weiterflugs um einen Tag, Erwerb einer Einmalzahnbürste im Novotel.
Irgendwann langt Bleuel dennoch bei Galina Karpowa an, deren Familie ihn kernig herzlich aufnimmt. Vor allem Artjom, der Übersetzer, kümmert sich rührend und rettend um den aufgeregten Gast ("bin nicht der Typ, der gern vor Leuten spricht"). Darauf wird er von den Geehrten zu allem eingeladen, was Russen eben so tun: Wodka trinken, Piroggen essen, Wodka trinken, in die Datscha fahren, Wodka trinken, betrunken in der Banja schwitzen. Beim Kulturaustausch erfährt der Leser nicht nur, dass "Bier vom Fass" hier "lebendiges Bier" heißt, sondern auch, was es mit dem Turkvolk der Schoren auf sich hat: "Von alters her lebten sie nomadisch, als Jäger und Viehzüchter, und seit dem Mittelalter waren sie für ihre Schmiedekunst berühmt."
In seiner unaufdringlichen Authentizität hat der Roman etwas Tagebuchartiges - tatsächlich war Ebmeyer selbst an all den besungenen Orten -, aber in seiner Mitte sprießt das Pflänzchen eines magischen Exotismus. Als die Truppe ein Konzert der schorischen Kehlkopfsängerin Ak Torgu besucht, muss der käsige Besucher plötzlich feststellen, "dass er am ganzen Körper bebte": Kein Zweifel, der Langweiler ist verliebt. Er, der stets alles akzeptiert hat, weil er nicht anders konnte, beginnt nun, alles zu akzeptieren, weil er nicht anders will. Solange nur diese Stimme in seinem Kopf herumspukt und ihm Visionen macht. Einmal sinkt er in den Sumpf ein und scheint geradezu verzückt: "Das Land der Schoren empfängt mich und nimmt mich zu sich. Da bin ich. Ich werde Taiga."
Der Autor ist milde, erhört die Gebete seines Helden, lässt ihn die Sängerin treffen und mit ihr einen weiteren Märchenwald bereisen. Die Austreibung des Logistikers geht in die nächste Runde. Es hat etwas Resolutes, wie der Entrückte bald alle Sicherheit verachtet, die Rückreise einfach nicht antritt und sein altes deutsches Leben von sich wirft. Sein einziges Ziel: schorischer Nomade zu werden.
Und doch ist es so eine Sache mit Erleuchtungen: "Nun musste er kichern, er versuchte den Mund geschlossen zu halten, es schüttelte ihn, als hätte er auf eine Zitrone gebissen." Ja, man weiß nicht recht, welche der beiden Matthias-Versionen eigentlich die kläglichere ist. Alte Bekannte sind indes beide: "Der Eine in mir schmeißt sein Leben weg wie eine Hand voll Spielmarken, und der Andere in mir rennt jeder dünnen Marke gierig nach", heißt es in Hermann Hesses "Aus dem Tagebuch eines Entgleisten", einer Vorstudie zur Erweckungsdichtung über Tanzbär Harry Haller ("Ich tanzte ununterbrochen, mit jeder Frau, die mir eben in den Weg lief") aus dem Jahre 1922.
Nun hat der Autor im Gegensatz zu trommelnden Schamanen bekanntlich hierzulande schon lange keine wirkliche Macht mehr. So wurde ja schon Hesses schwülstig-esoterischer "Steppenwolf" von 1927 vor allem deshalb so begeistert aufgenommen, weil die Leser in ihm ein Krisenmanifest erkannten. Sie beeindruckte auch das neue Nachwort aus dem Jahre 1941 kaum, in dem Hesse nachdrücklich darauf beharrte, es handele sich keineswegs um "das Buch eines Verzweifelten", sondern um "das eines Gläubigen".
So darf man vielleicht auch im sprachlich wackeren "Neuling" statt einer Reise zum Ursprung des Selbst ein Buch zur Krise sehen: aus dem "Nescht" fallen als Chance. Sosehr man sich auch in dackelhafter Zufriedenheit mit hirn- und willenstötenden Strukturen abgefunden, ja angefreundet haben mag, auf einen Schlag steht alles in Frage. "Man muss ja" gilt nicht mehr. Man muss nicht. Kann nicht einmal mehr. Harte Zeiten für Schwaben.
OLIVER JUNGEN
Michael Ebmeyer: "Der Neuling". Roman. Kein & Aber Verlag, Zürich 2009. 288 S., geb., 19,90 [Euro].
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Von Schwaben nach Sibirien: Michael Ebmeyer folgt in seinem Reiseroman einem Stuttgarter Logistiker ins neue Dasein mit lebendigem Bier und Kehlkopfsängerinnen zum Dahinschmelzen.
Ilka heißt die Kuh. Acht Jahre hat sie ihn ertragen, den drögen Stuttgarter Versandhauslogistiker mit dem verbeulten Namen Matze Bleuel, bis sie endlich aufmuht: "Matthias, du bist ein einziger Irrweg." Wie recht sie damit hat, zeigt sich aber erst Monate später, als sich der Irrweg korkenziehermäßig in die Seele des Verlassenen hineinzuschrauben beginnt. Der Geist will aus der Flasche, aber nur quälend langsam nähert sich Bleuel in Michael Ebmeyers Aussteiger- und Erweckungsroman "Der Neuling" seiner Entkorkung.
Am Ende aber findet der "Tanzbär" im "Geisterland", der Heimat "friedlich trinkender Menschen", sein Glück, genauer: "die Wolfsspur". Dazu gibt er sich ganz der sibirischen Schamanin Ak Torgu und ihren Trommelrhythmen hin. Ilka ("Geh nach Sibirien, aber lass mich in Ruhe") würde sich jedenfalls gehörig wundern über Matwej mit der Zobelpfote, den Deppenwolf. Der immerhin ist endlich über sie hinweg: "Du hast das Nescht verlassen, nun habe ich das Nescht auch verlassen, alles ist vorbei, alles ist gut."
Was der schwäbische Zauderer überhaupt in Sibirien zu suchen hat, ist schnell erklärt: Die Vorsehung hat sich eingeschaltet, und zwar in Form des greisen Firmenpatriarchen Fengler. Der Leiterin einer sehr erfolgreichen Minizweigstelle des Unternehmens im russischen Kemerowo soll persönlich eine Urkunde ausgefertigt werden. Wir folgen also dem Überbringer, ohne auch nur ein einziges Detail zu verpassen: Visumantrag, "Russisch Wort für Wort", Einreiseformular, Moskauer Zwischenstopp, Verschiebung des Weiterflugs um einen Tag, Erwerb einer Einmalzahnbürste im Novotel.
Irgendwann langt Bleuel dennoch bei Galina Karpowa an, deren Familie ihn kernig herzlich aufnimmt. Vor allem Artjom, der Übersetzer, kümmert sich rührend und rettend um den aufgeregten Gast ("bin nicht der Typ, der gern vor Leuten spricht"). Darauf wird er von den Geehrten zu allem eingeladen, was Russen eben so tun: Wodka trinken, Piroggen essen, Wodka trinken, in die Datscha fahren, Wodka trinken, betrunken in der Banja schwitzen. Beim Kulturaustausch erfährt der Leser nicht nur, dass "Bier vom Fass" hier "lebendiges Bier" heißt, sondern auch, was es mit dem Turkvolk der Schoren auf sich hat: "Von alters her lebten sie nomadisch, als Jäger und Viehzüchter, und seit dem Mittelalter waren sie für ihre Schmiedekunst berühmt."
In seiner unaufdringlichen Authentizität hat der Roman etwas Tagebuchartiges - tatsächlich war Ebmeyer selbst an all den besungenen Orten -, aber in seiner Mitte sprießt das Pflänzchen eines magischen Exotismus. Als die Truppe ein Konzert der schorischen Kehlkopfsängerin Ak Torgu besucht, muss der käsige Besucher plötzlich feststellen, "dass er am ganzen Körper bebte": Kein Zweifel, der Langweiler ist verliebt. Er, der stets alles akzeptiert hat, weil er nicht anders konnte, beginnt nun, alles zu akzeptieren, weil er nicht anders will. Solange nur diese Stimme in seinem Kopf herumspukt und ihm Visionen macht. Einmal sinkt er in den Sumpf ein und scheint geradezu verzückt: "Das Land der Schoren empfängt mich und nimmt mich zu sich. Da bin ich. Ich werde Taiga."
Der Autor ist milde, erhört die Gebete seines Helden, lässt ihn die Sängerin treffen und mit ihr einen weiteren Märchenwald bereisen. Die Austreibung des Logistikers geht in die nächste Runde. Es hat etwas Resolutes, wie der Entrückte bald alle Sicherheit verachtet, die Rückreise einfach nicht antritt und sein altes deutsches Leben von sich wirft. Sein einziges Ziel: schorischer Nomade zu werden.
Und doch ist es so eine Sache mit Erleuchtungen: "Nun musste er kichern, er versuchte den Mund geschlossen zu halten, es schüttelte ihn, als hätte er auf eine Zitrone gebissen." Ja, man weiß nicht recht, welche der beiden Matthias-Versionen eigentlich die kläglichere ist. Alte Bekannte sind indes beide: "Der Eine in mir schmeißt sein Leben weg wie eine Hand voll Spielmarken, und der Andere in mir rennt jeder dünnen Marke gierig nach", heißt es in Hermann Hesses "Aus dem Tagebuch eines Entgleisten", einer Vorstudie zur Erweckungsdichtung über Tanzbär Harry Haller ("Ich tanzte ununterbrochen, mit jeder Frau, die mir eben in den Weg lief") aus dem Jahre 1922.
Nun hat der Autor im Gegensatz zu trommelnden Schamanen bekanntlich hierzulande schon lange keine wirkliche Macht mehr. So wurde ja schon Hesses schwülstig-esoterischer "Steppenwolf" von 1927 vor allem deshalb so begeistert aufgenommen, weil die Leser in ihm ein Krisenmanifest erkannten. Sie beeindruckte auch das neue Nachwort aus dem Jahre 1941 kaum, in dem Hesse nachdrücklich darauf beharrte, es handele sich keineswegs um "das Buch eines Verzweifelten", sondern um "das eines Gläubigen".
So darf man vielleicht auch im sprachlich wackeren "Neuling" statt einer Reise zum Ursprung des Selbst ein Buch zur Krise sehen: aus dem "Nescht" fallen als Chance. Sosehr man sich auch in dackelhafter Zufriedenheit mit hirn- und willenstötenden Strukturen abgefunden, ja angefreundet haben mag, auf einen Schlag steht alles in Frage. "Man muss ja" gilt nicht mehr. Man muss nicht. Kann nicht einmal mehr. Harte Zeiten für Schwaben.
OLIVER JUNGEN
Michael Ebmeyer: "Der Neuling". Roman. Kein & Aber Verlag, Zürich 2009. 288 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Diese Art von Kulturaustausch lässt Oliver Jungen sich gefallen. Piroggen essen, Wodka trinken und darauf warten, das man selbst Taiga wird. So geht es dem schwäbischen Aussteiger-Hero in Michael Ebmeyers, wie Jungen findet, unaufdringlich-authentisch tagebuchartigem Roman. Authentisch kommen Jungen die Orte vor, Sibirien, und die geschilderten Fährnisse der Erleuchtung, fühlt man sich als "schorischer Nomade". Das Ganze ist auch "sprachlich wacker" gefasst, und so gefällt Jungen das Buch sogar als "Buch zur Krise", sieht er den Ausstieg wieder als Chance.
© Perlentaucher Medien GmbH
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