«Wir schaffen das»
Als 92jähriger Schriftsteller mit einem beachtlichen Œuvre hat Günter de Bruyn nach 35 Jahren erstmals wieder einen Roman veröffentlicht, dessen symptomatischer Titel «Der neunzigste Geburtstag» die autobiografische Färbung offensichtlich werden lässt. Zeitlich im Jetzt
angesiedelt und örtlich in Wittenhagen, einem winzigen Dorf in Mecklenburg-Vorpommern mit gerade mal…mehr«Wir schaffen das»
Als 92jähriger Schriftsteller mit einem beachtlichen Œuvre hat Günter de Bruyn nach 35 Jahren erstmals wieder einen Roman veröffentlicht, dessen symptomatischer Titel «Der neunzigste Geburtstag» die autobiografische Färbung offensichtlich werden lässt. Zeitlich im Jetzt angesiedelt und örtlich in Wittenhagen, einem winzigen Dorf in Mecklenburg-Vorpommern mit gerade mal zweihundert Einwohnern, erzählt der Autor darin vordergründig von den Vorbereitungen zu einem hohen Geburtstag, im Wesentlichen aber von den Befindlichkeiten eines hoch betagten Geschwisterpaars im Rückblick auf ihr Leben.
Hedwig und Leonhardt Leydenfrost haben nach dem Mauerfall das ehemalige Gut der Familie als gemeinsamen Alterssitz bezogen, das inzwischen heruntergekommene Herrenhaus gehört ihnen je zur Hälfte, Hedy wohnt im ersten Stock, Leo bewohnt das Erdgeschoss. Bei Hedys 89tem Geburtstag beschließt der Familienrat, zu ihrem Neunzigsten ein großes Fest zu feiern, statt Geschenken sollen dabei aber Spenden für die Einrichtung eines Lagers für alleinstehende Flüchtlingskinder in der alten Reithalle des Gutes eingesammelt werden, Hedy ist Feuer und Flamme für diesen Plan. Sie war als ehemalige grüne Aktivistin in Westdeutschland eine politische Wortführerin der außerparlamentarischen Opposition, später hat sie dann dort Medizin studiert und als Ärztin gearbeitet. Der eher bedächtige, unpolitische Leo ist im Osten geblieben und hat sich als Bibliothekar in Ostberlin hinter seinen Büchern verschanzt, eine Berufswahl, mit der er bewusst allen Querelen von vornherein aus dem Weg ging, denn mit dem DDR-Regime war er keineswegs d’accord. Auch die Geschwister sind sich selten einig, zu verschieden ist ihr Temperament, und so ist ihr Zusammenleben bei aller gegenseitigen Achtung von häufigen Wortgefechten geprägt.
In einem entfernt an Fontane erinnernden, ruhigen Erzählfluss mit einer betulichen Diktion wird vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Ereignisse über zwei Charaktere berichtet, deren Intellekt in unterschiedlichen Geisteshaltungen mündet, die nun im hohen Alter immer mehr in ein Staunen übergehen angesichts einer ihnen unverständlicher werdenden Welt, - vor der sie jedoch keinesfalls zu kapitulieren gedenken. In vielen Rückblenden wird ihr Lebensweg verdeutlicht, und damit wird auch ihre gegenwärtige Verfasstheit erklärt. Wunderbar stimmig ist dabei der alte Eigenbrödler Leo gezeichnet, ein der deutschen Sprache verpflichteter Schöngeist mit ausgeprägtem historischen Gespür und herrlich sarkastischer Gegenwartskritik. Insbesondere die Absurdität einer gendergerechten Sprache bringt ihn in Wallung, und ausufernde Telefonitis wird äußerst skeptisch kommentiert: «Dauertelefonierer waren in seinen Augen Kranke, die an erhöhtem Mitteilungsbedürfnis litten». Und so sorgt der alte Nörgler, hinter dem sich in Vielem wohl auch der Autor selbst versteckt, häufig für ein Schmunzeln beim Leser.
Die vielen Fragen, die Günter de Bruyn in seinem Roman anreißt, kreisen allesamt um den Generationenkonflikt, um politische und wirtschaftliche Umbrüche, um das Verdängen des Alten und Bewährten durch das Neue und oftmals Fragwürdige, wie es die beiden greisen Idealisten sehen. Dem «Wir schaffen das» einer 2015 auf politischer Geisterfahrt befindlichen Kanzlerin nacheifernd, scheitert die idealistisch betriebene Gründung einer Flüchtlings-Unterkunft für Kinder kläglich. Die Berliner «Asylantenkinder», in Wirklichkeit allesamt Testosteron gesteuerte junge Männer, weigern sich schlicht und ergreifend, in den Bus nach Meckpomm zu steigen, ins Nirwana aus ihrer Sicht. Letztendlich entsteht eine von alten Seilschaften betriebene Wellness-Oase aus der ehemaligen Reithalle der Familie, eine herbe Niederlage für den dörflichen Gemeinsinn. Mit hintersinniger Ironie entwirft Günter de Bruyn ein Bild unserer Gegenwart, dessen Plausibilität kaum zu leugnen ist und das durchaus wehmütig machen kann, in jedem Fall aber nachdenklich.