Joseph Conrads dritter Roman erschien in den USA und in Großbritannien mit unterschiedlichen Titeln: In New York veröffentlichte man ihn 1897 als "The Children of the Sea"; gegenüber seinem Londoner Verlag aber setzte sich Conrad 1898 mit dem damals von ihm bevorzugten Titel durch, und die Geschichte einer dramatischen Überfahrt von Bombay nach London erhielt den Namen, der ihre Rezeption bis heute zum Dilemma macht: "The Nigger of the Narcissus". Der rassistischen Bezeichnung zum Trotz bürgt die Hauptfigur, der hünenhafte Matrose Jimmy Wait, für ihr Gegenteil: das würdevoll Menschliche in jedem Einzelnen, gleich welcher Hautfarbe, Religion und sozialen Stellung. Mit seiner brillanten Neuübersetzung wagt Mirko Bonné den Versuch, dieses literarische Großereignis und Zeugnis der Kameradschaft auf See endlich auch einer heutigen Leserschaft zugänglich zu machen.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Katharina Teutsch ist sehr glücklich mit der frischen Übersetzung von Joseph Conrads frühem Roman durch den Schriftsteller Mirko Bonné. Allein die Entscheidung, den Originaltitel "The Nigger of the Narcissus" durch "Niemand" zu ersetzen, erscheint der Kritikerin schon klug und "umsichtig" - Bonné selbst spricht hier von "poetischem Widerstand", weiß sie. Überhaupt besticht die Übertragung laut Teutsch durch Klang - und sicher übertragenes nautisches Vokabular, versichert die Kritikerin. Und so sticht sie einmal mehr fasziniert mit Conrads Besatzung der Narcissus in See, gibt sich den Naturgewalten, Gefühlen und der überschäumenden "Sinnlichkeit" des Romans hin - und empfiehlt nicht nur einen antirassistischen Roman, sondern auch "großes Männergefühlskino".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.01.2021Die Schlacht zwischen Antiken und Modernen erreicht die Seefahrt
Niemand ist unbedenklich: Joseph Conrads großer Roman um die abenteuerliche Reise und die Besatzung der "Narcissus" in neuer Übersetzung von Mirko Bonné
Zwei Jahre vor seinem furiosen Dschungel-Klassiker "Herz der Finsternis" veröffentlicht Joseph Conrad, der ehemalige Schiffsjunge, Matrose, Offizier und Kapitän, das Seefahrer-Drama "The Nigger of the ,Narcissus'". Es wird Conrads Ruhm als Autor begründen und sein zu Lebzeiten populärster Roman bleiben. Der für heutige Ohren unmögliche Titel erregte entsprechend dem damaligen Sprachgebrauch keinerlei Widerstände beim Publikum. Zumal der Roman geradezu das Gegenteil einer rassistischen Gesellschaftslehre entfaltet. "Der Niemand von der ,Narcissus'" heißt nun die kraftvolle Neubearbeitung des Romans durch den Lyriker Mirko Bonné.
Der hat den titelgebenden "Nigger", der in verschiedenen deutschen Varianten als "Neger" oder "Bimbo" übersetzt worden war, gegen einen "Niemand" getauscht. Denn ein wahrer Niemand sei er, heißt es einmal über den Vollmatrosen James Wait, einen Nachfahren von Sklaven auf den Westindischen Inseln. Gleich zu beginn stolpert dieser schlaksige Kerl komödiantisch in die heilige Zeremonie der Einmusterung hinein. Siebzehn Matrosen haben sich zur Stelle gemeldet. Einer fehlt noch. Der erste Offizier kann seinen Namen nicht entziffern, und da keiner vortritt, befiehlt er der restlichen Mannschaft unter Deck, auf weitere Anweisungen zu warten. Da ruft es auf einmal eindringlich von der Reling: "Wait!" Eine ungeheuerliche Aufmüpfigkeit gegenüber einem Offizier! Und obwohl sich das Missverständnis bald klären lässt, bleibt der spöttische Hüne von der ersten bis zur letzten Seite das emotionale Zentrum des Romans.
Sein Husten ist furchterregend, sein Verhalten undurchsichtig. Schon sehr bald wird klar, dass er sein Leben demnächst aushauchen wird. Aufgrund einer Lungentuberkulose verbringt der Matrose die gesamte Überfahrt nach Europa nicht an Deck, sondern in seiner Kajüte, um von dort aus die Ordnung der Dinge an Bord zu verspotten und dem Schicksal zu trotzen. Ein Mann, der keinen kaltlässt, zu dem sich alle hingezogen fühlen - selbst die, die ihn abstoßend finden.
Auf dem dramatischen Höhepunkt des Romans wird James Wait von seinen Kameraden unter Einsatz ihres Lebens aus seiner Kajüte gerettet. Das Schiff ist am Horn von Afrika in einen grässlichen Sturm geraten. Obwohl es bereits erbarmungswürdig zur Seite gekippt ist, weigert sich der Kapitän, den Mast zu kappen. "Sie alle sahen darin ihre einzige Chance - ein kleiner Mann mit harter Miene aber schüttelte den grauen Kopf und rief ,Nein!', ohne sie eines Blickes zu würdigen." Später soll der Kapitän auf wundersame Weise recht behalten haben. Es läuft ohnehin manches nicht nach irdischen Maßstäben ab an Bord. "Käpt'n Allistoun sah nichts - in übermenschlicher Kräftebündelung schien er mit seinen Augen das Schiff über Wasser zu halten."
Doch fahren wir wieder ein paar Schiffsmeilen zurück in den Hafen von Bombay. Alle Matrosen sind inzwischen an Bord. Die Narcissus ist "seeklar". Das heißt in der Sprache des erfahrenen Seefahrers Joseph Conrad: "Die Decks waren geschrubbt, das Spill geölt und bereit gemacht, den Anker zu hieven, das große Schleppseil lag in langen Schlaufen längs einer Seite des Hauptdecks, das eine Ende aufgenommen und über den Bug gehängt, fertig für den Schlepper, der schaufelnd und laut fauchend, hitzig und qualmend in der klaren, kühlen Stille des frühen Morgens herankommen würde."
Dieser vor Emotionen und Sinnlichkeit berstende Roman aus Conrads Frühwerk zeigt schon auf den ersten Seiten, dass er nicht von einem Haufen verkommener Matrosen handelt, sondern von einer Daseinsform im Zeichen von Plackerei und Naturgewalt. Methusalemische Seebären stehen an der Seite von Grünschnäbeln, die als Nächstes ohne Bedauern auf einem modernen Dampfschiff anheuern. La Querelle des Anciens et des Modernes macht Ende des neunzehnten Jahrhunderts auch vor der Schifffahrt nicht halt.
Der älteste Seebär an Bord, ein gewisser Singleton, steht für die alte Schule. Auch angesichts des aufkommenden Arbeiterklassenbewusstseins der Matrosen ist er als Typus ein Auslaufmodell: "Männer, die schwer zu lenken, aber leicht zu begeistern gewesen waren, wortkarge Männer, aber Manns genug, um in ihren Herzen die sentimentalen Stimmen gering zu schätzen, die sich über die Härte ihres Schicksals beklagten."
Jener alte Seemann wird es sein, der - ganz Mystagoge der See - die lähmende Flaute vor den Azoren dem kranken Matrosen James Wait in die Schuhe schiebt. Denn der werde erst von seinem Matrosenleben entlassen, wenn Land in Sicht komme. Im Umkehrschluss: Solange das Schiff auf dem Ozean herumtreibe, werde der Kranke nicht sterben müssen. Er verwandle die Narcissus vielmehr in ein Geisterschiff und übe so eine unheimliche Macht über die Lebenden aus.
Nein, Joseph Conrad erzählt in seinem Epos von der Brigg Narcissus keine Geschichte von rassistisch begründeten Rangfolgen. Alle, die Gläubigen und die Frevler, die Alten und die Jungen, die Braunen und die Weißen an Bord fahren unter dem Kommando ihrer großen Gleichmacherin, der See. Die Narcissus selbst ähnelt dabei "einer stets bewegten, plötzlich kippenden und schließlich fast kenternden Bühne": so das Nachwort des Übersetzers.
Tatsächlich wird James Wait, kurz bevor europäisches Festland in Sicht kommt, seinen letzten Atemzug tun. Bei seiner feierlichen Seebestattung fährt Conrad ganz großes Männergefühlskino auf. Wie Mirko Bonné das in den Kielspuren von "Moby-Dick" in ein klangvolles Deutsch bringt, ist bewundernswert. Und auch das reichlich gebrauchte nautische Vokabular steht nicht wie ein Fremdkörper vor dem Leser. Nein, nachdem man zum zehnten Mal von der Poop, der Back und dem Schanzkleid gelesen hat, meint man sich auszukennen auf der Narcissus. Das Glossar am Ende dieser Ausgabe wirkt so nur noch wie eine nachträgliche Bestätigung des längst Vermuteten.
Die übersetzerische Entscheidung, den titelgebenden "Nigger" des Originals gegen den im Text vorkommenden "Niemand" als Bezeichnung für den personifizierten Tod zu tauschen, will Mirko Bonné als "poetischen Widerstand" gegen einen längst diskreditierten Diskurs verstanden wissen. Zu Recht erinnert er im Nachwort daran, dass jede Übersetzung auch eine Aneignung ist. Man traut dieser Aktualisierung gerade wegen dieser umsichtigen Lösung eine lange Haltbarkeit zu.
Bis zur Abmusterung im Hafen von London muss der Leser zusammen mit der Besatzung so manches Abenteuer bestehen. Er wird dabei kräftig herumgeschüttelt auf den Wellen einer sehr schönen deutschen Sprache.
KATHARINA TEUTSCH
Joseph Conrad: "Der Niemand von der ,Narcissus'". Roman.
Aus dem Englischen von Mirko Bonné. Mare Verlag, Hamburg 2020.
256 S., geb., 32,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Niemand ist unbedenklich: Joseph Conrads großer Roman um die abenteuerliche Reise und die Besatzung der "Narcissus" in neuer Übersetzung von Mirko Bonné
Zwei Jahre vor seinem furiosen Dschungel-Klassiker "Herz der Finsternis" veröffentlicht Joseph Conrad, der ehemalige Schiffsjunge, Matrose, Offizier und Kapitän, das Seefahrer-Drama "The Nigger of the ,Narcissus'". Es wird Conrads Ruhm als Autor begründen und sein zu Lebzeiten populärster Roman bleiben. Der für heutige Ohren unmögliche Titel erregte entsprechend dem damaligen Sprachgebrauch keinerlei Widerstände beim Publikum. Zumal der Roman geradezu das Gegenteil einer rassistischen Gesellschaftslehre entfaltet. "Der Niemand von der ,Narcissus'" heißt nun die kraftvolle Neubearbeitung des Romans durch den Lyriker Mirko Bonné.
Der hat den titelgebenden "Nigger", der in verschiedenen deutschen Varianten als "Neger" oder "Bimbo" übersetzt worden war, gegen einen "Niemand" getauscht. Denn ein wahrer Niemand sei er, heißt es einmal über den Vollmatrosen James Wait, einen Nachfahren von Sklaven auf den Westindischen Inseln. Gleich zu beginn stolpert dieser schlaksige Kerl komödiantisch in die heilige Zeremonie der Einmusterung hinein. Siebzehn Matrosen haben sich zur Stelle gemeldet. Einer fehlt noch. Der erste Offizier kann seinen Namen nicht entziffern, und da keiner vortritt, befiehlt er der restlichen Mannschaft unter Deck, auf weitere Anweisungen zu warten. Da ruft es auf einmal eindringlich von der Reling: "Wait!" Eine ungeheuerliche Aufmüpfigkeit gegenüber einem Offizier! Und obwohl sich das Missverständnis bald klären lässt, bleibt der spöttische Hüne von der ersten bis zur letzten Seite das emotionale Zentrum des Romans.
Sein Husten ist furchterregend, sein Verhalten undurchsichtig. Schon sehr bald wird klar, dass er sein Leben demnächst aushauchen wird. Aufgrund einer Lungentuberkulose verbringt der Matrose die gesamte Überfahrt nach Europa nicht an Deck, sondern in seiner Kajüte, um von dort aus die Ordnung der Dinge an Bord zu verspotten und dem Schicksal zu trotzen. Ein Mann, der keinen kaltlässt, zu dem sich alle hingezogen fühlen - selbst die, die ihn abstoßend finden.
Auf dem dramatischen Höhepunkt des Romans wird James Wait von seinen Kameraden unter Einsatz ihres Lebens aus seiner Kajüte gerettet. Das Schiff ist am Horn von Afrika in einen grässlichen Sturm geraten. Obwohl es bereits erbarmungswürdig zur Seite gekippt ist, weigert sich der Kapitän, den Mast zu kappen. "Sie alle sahen darin ihre einzige Chance - ein kleiner Mann mit harter Miene aber schüttelte den grauen Kopf und rief ,Nein!', ohne sie eines Blickes zu würdigen." Später soll der Kapitän auf wundersame Weise recht behalten haben. Es läuft ohnehin manches nicht nach irdischen Maßstäben ab an Bord. "Käpt'n Allistoun sah nichts - in übermenschlicher Kräftebündelung schien er mit seinen Augen das Schiff über Wasser zu halten."
Doch fahren wir wieder ein paar Schiffsmeilen zurück in den Hafen von Bombay. Alle Matrosen sind inzwischen an Bord. Die Narcissus ist "seeklar". Das heißt in der Sprache des erfahrenen Seefahrers Joseph Conrad: "Die Decks waren geschrubbt, das Spill geölt und bereit gemacht, den Anker zu hieven, das große Schleppseil lag in langen Schlaufen längs einer Seite des Hauptdecks, das eine Ende aufgenommen und über den Bug gehängt, fertig für den Schlepper, der schaufelnd und laut fauchend, hitzig und qualmend in der klaren, kühlen Stille des frühen Morgens herankommen würde."
Dieser vor Emotionen und Sinnlichkeit berstende Roman aus Conrads Frühwerk zeigt schon auf den ersten Seiten, dass er nicht von einem Haufen verkommener Matrosen handelt, sondern von einer Daseinsform im Zeichen von Plackerei und Naturgewalt. Methusalemische Seebären stehen an der Seite von Grünschnäbeln, die als Nächstes ohne Bedauern auf einem modernen Dampfschiff anheuern. La Querelle des Anciens et des Modernes macht Ende des neunzehnten Jahrhunderts auch vor der Schifffahrt nicht halt.
Der älteste Seebär an Bord, ein gewisser Singleton, steht für die alte Schule. Auch angesichts des aufkommenden Arbeiterklassenbewusstseins der Matrosen ist er als Typus ein Auslaufmodell: "Männer, die schwer zu lenken, aber leicht zu begeistern gewesen waren, wortkarge Männer, aber Manns genug, um in ihren Herzen die sentimentalen Stimmen gering zu schätzen, die sich über die Härte ihres Schicksals beklagten."
Jener alte Seemann wird es sein, der - ganz Mystagoge der See - die lähmende Flaute vor den Azoren dem kranken Matrosen James Wait in die Schuhe schiebt. Denn der werde erst von seinem Matrosenleben entlassen, wenn Land in Sicht komme. Im Umkehrschluss: Solange das Schiff auf dem Ozean herumtreibe, werde der Kranke nicht sterben müssen. Er verwandle die Narcissus vielmehr in ein Geisterschiff und übe so eine unheimliche Macht über die Lebenden aus.
Nein, Joseph Conrad erzählt in seinem Epos von der Brigg Narcissus keine Geschichte von rassistisch begründeten Rangfolgen. Alle, die Gläubigen und die Frevler, die Alten und die Jungen, die Braunen und die Weißen an Bord fahren unter dem Kommando ihrer großen Gleichmacherin, der See. Die Narcissus selbst ähnelt dabei "einer stets bewegten, plötzlich kippenden und schließlich fast kenternden Bühne": so das Nachwort des Übersetzers.
Tatsächlich wird James Wait, kurz bevor europäisches Festland in Sicht kommt, seinen letzten Atemzug tun. Bei seiner feierlichen Seebestattung fährt Conrad ganz großes Männergefühlskino auf. Wie Mirko Bonné das in den Kielspuren von "Moby-Dick" in ein klangvolles Deutsch bringt, ist bewundernswert. Und auch das reichlich gebrauchte nautische Vokabular steht nicht wie ein Fremdkörper vor dem Leser. Nein, nachdem man zum zehnten Mal von der Poop, der Back und dem Schanzkleid gelesen hat, meint man sich auszukennen auf der Narcissus. Das Glossar am Ende dieser Ausgabe wirkt so nur noch wie eine nachträgliche Bestätigung des längst Vermuteten.
Die übersetzerische Entscheidung, den titelgebenden "Nigger" des Originals gegen den im Text vorkommenden "Niemand" als Bezeichnung für den personifizierten Tod zu tauschen, will Mirko Bonné als "poetischen Widerstand" gegen einen längst diskreditierten Diskurs verstanden wissen. Zu Recht erinnert er im Nachwort daran, dass jede Übersetzung auch eine Aneignung ist. Man traut dieser Aktualisierung gerade wegen dieser umsichtigen Lösung eine lange Haltbarkeit zu.
Bis zur Abmusterung im Hafen von London muss der Leser zusammen mit der Besatzung so manches Abenteuer bestehen. Er wird dabei kräftig herumgeschüttelt auf den Wellen einer sehr schönen deutschen Sprache.
KATHARINA TEUTSCH
Joseph Conrad: "Der Niemand von der ,Narcissus'". Roman.
Aus dem Englischen von Mirko Bonné. Mare Verlag, Hamburg 2020.
256 S., geb., 32,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main