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Welcher Stellenwert kommt dem Ödipuskomplex, den Freud als den "Kernkomplex der Neurosen" bezeichnete, in der heutigen Theorie und Praxis der kleinianischen Psychoanalyse zu? Mit dieser Frage beschäftigen sich die hier veröffentlichten Vorträge, die im September 1987 von renommierten britischen Psychoanalytikern auf der "Melanie Klein Conference" in London gehalten wurden.
Kleins klassische Arbeit "Der Ödipuskomplex im Lichte früher Ängste" aus dem Jahr 1945, hier in neuer Übersetzung vorgelegt, enthält die Konzepte, die zur Grundlage der an zahlreichen Fallbeispielen aus Kinder- und
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Produktbeschreibung
Welcher Stellenwert kommt dem Ödipuskomplex, den Freud als den "Kernkomplex der Neurosen" bezeichnete, in der heutigen Theorie und Praxis der kleinianischen Psychoanalyse zu? Mit dieser Frage beschäftigen sich die hier veröffentlichten Vorträge, die im September 1987 von renommierten britischen Psychoanalytikern auf der "Melanie Klein Conference" in London gehalten wurden.

Kleins klassische Arbeit "Der Ödipuskomplex im Lichte früher Ängste" aus dem Jahr 1945, hier in neuer Übersetzung vorgelegt, enthält die Konzepte, die zur Grundlage der an zahlreichen Fallbeispielen aus Kinder- und Erwachsenenanalyse illustrierten theoretischen und klinischen Fortschritte wurden.

Eine zentrale Rolle spielen in sämtlichen Beiträgen Probleme der Behandlungstechnik, da sich gerade auf diesem Gebiet in den vergangenen Jahrzehnten die frappierendsten Entwicklungen vollzogen. So konzentriert sich die Aufmerksamkeit heute auf die frühen, primitiven und psychotischen Formen des ödipalen Konfliktes und die Versuche des Patienten, den Analytiker zum Mitagieren in seinem ödipalen Drama zu verführen, um seine Denk- und Wahrnehmungsfähigkeit zu zerstören. Deutlich wird dabei - wie Hanna Segal in ihrer "Einleitung" hervorhebt - die zwingende Wechselwirkung zwischen psychoanalytischer Theorie und Behandlungstechnik.

Die Einleitung stammt von Hanna Segal. Sie ist Lehranalytikerin der British Psychoanalytical Society und arbeitet in privater Praxis mit Kindern und erwachsenen Patienten. In deutscher Übersetzung erschienen bei Klett-Cotta ihre Bücher "Wahnvorstellungen und künstlerische Kreativität" (1992) sowie "Traum, Phantasie und Kunst" (1996).
Autorenporträt
Ronald Britton ist Lehranalytiker der British Psychoanalytical Society und arbeitet heute nach langjähriger Tätigkeit an der Tavistock Clinic in privater Praxis in London.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.1998

Wenn ihr die wilden Gesellen fragt
Nach Melanie Klein geht schon der Säugling ran wie Blücher / Von Caroline Neubaur

Heideggerisierende oder lacanisierende Köder wird man im "Ödipuskomplex in der Schule Melanie Kleins" nicht finden. Es handelt sich zwar um ein kleines, aber um ein kleines großes Buch, das für alle angehenden Analytiker Pflichtlektüre sein sollte. Außerdem ist es so geschrieben, daß auch jemand, der von der Sache gar nichts versteht, es mit Spannung lesen kann. Die Fallgeschichten sind, wie weiland schon Freud verblüfft feststellte, wirklich Geschichten. Die "methodologische Entrostung" der Freudschen Psychoanalyse, auf die sich die Franzosen so viel einbilden, geschieht in diesem Buch wie nebenbei.

Was sind das nun für "ödipale" Geschichten, von denen das Buch handelt? Erzählen sie die ödipale Inzestgeschichte noch in mythologischer Manier? Haben sie die Behauptung der Biologen einer natürlichen Vermeidung von Inzest, die Freuds These über den Ursprung des sozialen Inzesttabus widerlege, berücksichtigt? Das müssen sie nicht. Die Sache ist offen. Der Berliner Flußpferdbulle Knautschke beispielsweise zeugte Nachkommenschaft mit seinen Töchtern. Inzest bei Tieren ist einfach deshalb kein Inzest, weil sie ihn nicht als solchen wahrnehmen. Für die von den Biologen reklamierte Inzestschranke spräche das Verhalten der Kibbuzkinder, die sich später füreinander nicht sexuell erwärmen können: Allzu große Vertrautheit schafft "Inzestabneigung".

Um "Entfremdung" in einem kraß konkretistischen Sinn geht es in Michael Feldmanns Essay, der sich mit den pathologischen Versionen des Modells vom ödipalen Paar befaßt: "Der Säugling ist nicht mit einem kreativen Paar konfrontiert, das seinen Neid erregt, sondern mit einer Elternfigur oder einem Paar, das ihm unzugänglich erscheint, unfähig, seine Projektionen wirklich aufzunehmen oder auf sie zu reagieren." Dies führt zu destruktiven Phantasien und paranoiden Ängsten mörderischen Ausmaßes. Wer die Verbindung der Eltern als destruktive wahrnimmt, wird später das Denken als solches als so unerträglich empfinden wie die Patientin Ronald Brittons, die sein Überlegen als elterlichen Geschlechtsverkehr erlebt und ihn auffordert: "Schalten Sie Ihr abgefucktes Denken aus."

Edna O'Shaughnessy beginnt ihren Beitrag "Der unsichtbare Ödipuskomplex" mit Freuds alter Gretchenfrage: "Eine aktuelle Auseinandersetzung über den Ödipuskomplex betrifft die Frage, ob er wirklich universal und von entscheidender Bedeutung sei und nach wie vor als Kernkomplex der Neurosen betrachtet werden müsse." Jedem, der mit dem Thema zu tun hat, stellt sich in der Tat diese Frage. Nach dem Ersten Weltkrieg stand der Freudsche Ödipus bei Soziologen und Ethnologen in ähnlicher Weise auf dem empirischen Prüfstand wie Einsteins Thesen von der Schwere des Lichts. Überallhin schickte man Ethnologen aus, ließ Soziologen Gesellschaften untersuchen, um zu sehen, ob der Ödipus wirklich allgegenwärtig sei oder nicht. Das Bedürfnis, Freuds Konstruktion schnell zu relativieren, hängt mit seinem "Material", der patriarchalen Kleinfamilie, zusammen, die es so nicht mehr gibt. Das ist das Durchschlagende an Melanie Kleins Vorverlegung des Ödipus in das erste Jahr des Kindes: Selbst wenn die patriarchale Gesellschaft sich auflöst, wird es immer die Mutterbeziehung geben, sie ist transkulturell, deshalb gelten ihre Begriffe auch in nachbürgerlicher Zeit.

Nach vielen Modifizierungen und Relativierungen der Freudschen Konzeption hat die Melanie-Klein-Schule also den Ödipuskomplex wieder allgegenwärtig gemacht. Eine der entscheidenden Korrekturen Kleins am Freudschen Ödipus lautet: "Das erste introjizierte Objekt, die Brust der Mutter, formt die Basis des Über-Ichs" und also des Kleinschen Ödipuskomplexes. Erst ein "sicher verankertes mütterliches Objekt" ermöglicht es dem Kind, sich mit der elterlichen Beziehung zu konfrontieren, "die eine genitale und prokreative ist, im Unterschied zur Mutter-Kind-Beziehung, die weder genital ist noch der Fortpflanzung dient". Diese Wahrnehmung kann bei schwerer gestörten Kindern nur bis zur "ödipalen Illusion" gelangen, deren "starre Unveränderlichkeit" keine Durcharbeitung erlaubt.

Ronald Brittons große Trouvaille ist der "trianguläre Raum", in dem man sich selbst als Beobachter beobachten kann und Schuldgefühlen sowie Ambivalenzen gegenüber tolerant ist: "Dies vermittelt uns die Fähigkeit, uns selbst in der Interaktion mit anderen zu sehen, einen anderen Blickwinkel einzunehmen, ohne den eigenen aufzugeben, über uns selbst nachzudenken und dennoch ,wir selbst' zu bleiben." Britton weist nach, wie diese Funktionen sich bilden, und beschreibt auf diese Weise die Idee von "Gesundheit"; er beteiligt sich also an dem notwendigen psychoanalytischen Spiel, immer neue Formulierungen für deren Idealnorm zu finden. Das begann mit Freuds "Lieben und Arbeiten" als Therapieziel und ist jetzt mit Brittons "in der Gesellschaft anderer man selbst bleiben zu können" so formuliert, daß es all jene Menschen angeht, die das eben nicht können und entweder sofort wie die anderen werden oder jegliche Verschmelzung ablehnen. Der trianguläre Brittonsche Raum ermöglicht "Denken". Es ist dieses ödipale Denken, an dem es unseren "Tätern" fehlt, die die Gesellschaft unsicher machen, unterstützt von einer großen Zahl von Nichttätern, die ebenfalls die Spannung des Denkens nicht ertragen, sondern sich in wilde Projektionen flüchten.

Hanna Segal rechtfertigt das Buch damit, daß die Beschäftigung mit dem Ödipuskomplex in der Klein-Schule enorme Fortschritte bei der Behandlungstechnik gebracht habe. Die Beiträge "beschreiben den permanenten Druck, der auf den Analytiker ausgeübt wird und ihn veranlassen soll, eine Rolle in dem primitiven ödipalen Drama zu spielen, sowie die potentiell disruptiven Auswirkungen auf das Denken des Analytikers selbst." Dieser Schlüsselsatz benennt das Hauptkriterium für den Nutzen eines solchen Buches: Fälle, die den Analytiker einer großen Belastung aussetzen und darum früher als nicht behandelbar abgetan wurden, können heute dank des verfeinerten Instrumentariums in die psychoanalytische Situation eingebunden werden.

Was hat nun der "britische" Ödipuskomplex mit dem athenischen Ödipus zu tun? Wenn es irgendeine mythische Vorgabe gibt, dann ist es die der Katastrophensituation. Der mythische Ödipuskomplex trägt als Echtheitszertifikat, würde Freud sagen, das Katastrophische. Indem Melanie Klein den Blick auf die Mutter-Kind-Beziehung zurücklenkte, in der von "dyadischem Glück" keine Rede sein kann, wurde es möglich, die Mutter als den ersten katastrophalen Spaltungsproduzenten zu betrachten. Wenn das so ist, dann ist das Wort Ödipuskomplex nicht nur eins der Zurückverlegung eines später angesetzten Komplexes, sondern dann ist gerade das Katastrophische, das diesem Wort auch bei Freud anhaftet, die Rechtfertigung dafür, auch beim "britischen" Ödipuskomplex nicht nur an Übertragung und Metapher zu denken. Wir sind in Theben wie im Kinderzimmer auf Katastrophengelände und somit mit Uraltmaterial verbunden.

Ronald Britton, Michael Feldmann, Edna O'Shaughnessy: "Der Ödipuskomplex in der Schule Melanie Kleins". Klinische Beiträge. Mit Melanie Kleins Aufsatz "Der Ödipuskomplex im Lichte früher Ängste" und einer Einführung von Hanna Segal. Aus dem Englischen von Elisabeth Vorspohl. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1998. 170 S., geb., 58,- DM.

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