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Nachdem die Ziele der Sicherheit, der Rechtsstaatlichkeit, der Demokratie und der Sozialstaatlichkeit in der Entwicklung des Verfassungsstaates Schritt für Schritt Gegenstand verfassungsrechtlicher Verbürgungen geworden sind, scheint mit der Aufnahme ökologischer Zielsetzungen eine neue Stufe der Verfassungsentwicklung erreicht zu sein. Die Bedeutung, die diese Aufnahme des Ökologiegrundsatzes für die moderne Verfassung und damit für die Grundordnung des Gemeinwesens besitzt, ist bislang noch nicht ausreichend erfaßt worden. Zwar gibt es Untersuchungen zu zahlreichen Einzelfragen aus…mehr

Produktbeschreibung
Nachdem die Ziele der Sicherheit, der Rechtsstaatlichkeit, der Demokratie und der Sozialstaatlichkeit in der Entwicklung des Verfassungsstaates Schritt für Schritt Gegenstand verfassungsrechtlicher Verbürgungen geworden sind, scheint mit der Aufnahme ökologischer Zielsetzungen eine neue Stufe der Verfassungsentwicklung erreicht zu sein. Die Bedeutung, die diese Aufnahme des Ökologiegrundsatzes für die moderne Verfassung und damit für die Grundordnung des Gemeinwesens besitzt, ist bislang noch nicht ausreichend erfaßt worden. Zwar gibt es Untersuchungen zu zahlreichen Einzelfragen aus verfassungsrechtlicher und verwaltungsrechtlicher Sicht, doch fehlt eine Gesamtschau, welche die einzelnen Elemente sichtet, systematisiert und im Hinblick auf das erreichte neue Stadium der Verfassungsstaatlichkeit deutet, aber auch die Folgerungen für das Selbstverständnis von Verfassung und Staat zieht. Diese Lücke zu schließen unternimmt die vorliegende Arbeit.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.12.1998

Möglichkeit + Ungewißheit = Wirklichkeit
Rudolf Steinberg ruft den ökologischen Verfassungsstaat aus

Rudolf Steinberg: Der ökologische Verfassungsstaat. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998. 480 Seiten, 56,- Mark.

"Der Verfassungsstaat ist in Gefahr." Steinbergs Buch soll helfen, sie abzuwehren. Gefahr ist das Bevorstehen eines schädigenden Ereignisses. Und welches schädigende Ereignis steht dem Verfassungsstaat bevor? Weder Erdbeben, Vulkanausbrüche, Dürre oder Sturmfluten - die sind Schicksal - noch individuell-privater Leichtsinn wie Autofahren, Rauchen oder offene Kamine - dafür muß jeder selbst büßen -, sondern Katastrophen wie Seveso oder Tschernobyl, die durch menschliches Handeln hätten vermieden werden können. Solche Schäden sind zwar grundsätzlich der Preis für die Entwicklung von Wissenschaft und Technik, aber sie lassen sich nicht mehr kalkulieren. Im Vergleich zu ihrem Nutzen sind die Schäden, die durch Atomenergie oder Gentechnik drohen . . . - jetzt wird es schwierig. Im Polizeirecht gilt die Regel: je größer der mögliche Schaden, desto geringer dürfen die Ansprüche an die Wahrscheinlichkeit seines Eintritts sein. Bei unermeßlichen Schäden kann man ihre Wahrscheinlichkeit nicht mehr diskutieren. Man muß den Gedanken an sie verdrängen oder sie dem Volk als Science-fiction vorführen. Welche Gefahren ernst genommen werden, hängt daher nicht von den Schäden, sondern von der Wahrnehmung und Einschätzung der Leute ab, der Fachleute wie der Laien. Die Gefahr, in der nach Steinbergs Ansicht der Verfassungsstaat schwebt, geht mithin vom Volke aus.

Steinberg hat sich jahrelang mit Umweltrecht beschäftigt und kennt natürlich das Problem. Einen Abschnitt überschreibt er ausdrücklich mit "Risiko als soziales Konstrukt". Trotzdem malt er immer wieder Katastrophen aus. "Mögliche Schäden können eine unbestimmte Vielzahl von Menschen - vielleicht erst in Zukunft - treffen." Die Möglichkeiten verwandelt er mit Hilfe von Ungewißheiten, die alles noch verschlimmern, in Wirklichkeiten. Dieses Kunststück kann er wagen, weil er über dem Abgrund der Realität das Netz einer hoffnungsfrohen Entwicklung gespannt hat. Der Verfassungsstaat habe sich vom Garanten der Sicherheit über den Rechtsstaat und die Demokratie zum Sozialstaat entwickelt. Jetzt "haben die neuen Bedrohungen und Zerstörungen der Umwelt auch zu neuen Antworten des Verfassungsstaates geführt: Der Verfassungsstaat ist damit auf seiner vorerst letzten Stufe, der Stufe des ökologischen Verfassungsstaates angelangt."

Nach dieser Feststellung kann es nur noch darum gehen, "die Verantwortung des Staates für die Umwelt" normativ festzuzurren. Staatstheorie, Ethik und dergleichen erweisen sich als nicht reißfest genug, wohl aber das positive Verfassungsrecht auf europäischer, Bundes- und Länderebene. Aus ihm entwickelt Steinberg eine solide Darstellung der Prinzipien des Umweltschutzrechtes. Das positive Verfassungsrecht begrenzt auch das Ausmaß der Umweltschäden. So unermeßlich können die Schäden nicht sein, daß sie es erlaubten, die klassischen Freiheitsrechte aufzuheben.

Schwerer tut sich Steinberg mit der Umweltverträglichkeit der Staatsorganisation. Für ihn ist das Verhältnis zwischen demokratischer, also politischer Rechtfertigung von Entscheidungen und wissenschaftlichem Sachverstand ein Problem, das durch die Umweltbedrohung eine neue Dimension erhalten hat. Immer schon galt, das Kosten/Nutzen-Kalkül bedarf des speziellen Sachverstandes, aber entscheiden müssen die nichtsachverständigen Abgeordneten. Entscheiden sie falsch, werden sie nicht wiedergewählt, während die Sachverständigen unbehelligt weiter Gutachten schreiben dürfen. Diese politische Kontrolle setzt jedoch voraus, daß die Abgeordneten nur kleine Fehler begehen. Fehlentscheidungen in der Umweltpolitik haben aber unabsehbare Folgen und können prinzipiell nicht wieder korrigiert werden. Also sind sie möglichst von vornherein zu verhindern. Sachverständige garantieren die Fehlerfreiheit nicht. Ihr Sachverstand ist begrenzt und interessengebunden. Die vorbeugende Maßnahme ist seit langem bekannt: Beteiligung der Öffentlichkeit. "Technokratische Verkürzung der umweltbezogenen Entscheidungen ist durch Stärkung ihrer deliberativen, das heißt Abwägung ermöglichenden Momente und effektiver Teilnahme der Bürgerinnen und Bürger" zu überwinden. Damit verwechselt Steinberg freiliche Krankheit und Symptome. Die Beteiligung der Öffentlichkeit schließt Fehler nicht aus. Sie absorbiert allenfalls Proteste, für die nächsten drei Tage.

Steinbergs Vertrauen in öffentliche Verhandlungen ist indessen nicht einmal durch die Gerichte zu erschüttern. "Die Gerichte, bei der Kontrolle des Verwaltungshandelns in erster Linie die Verwaltungsgerichte, übernehmen damit für die von ihnen kontrollierten Maßnahmen ein Stück Richtigkeitsgewähr." Aber doch nur für die Rechtmäßigkeit und nicht für die Umweltverträglichkeit der Maßnahmen! Woher sollen die Richter wissen, was Gesetzgeber, Verwaltung und Sachverständige nicht wissen? Aus der Rechtsprechung?

Die vierte Stufe des Verfassungsstaates, die ökologische, hat jedenfalls mit Treibstoffproblemen zu kämpfen. Deshalb fragt Steinberg weiter: "Versagen der Repräsentativverfassung?" Für diese Frage beruft er sich im wesentlichen auf eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland von 1985 über "Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie", in der etwas von "Zweifeln gegenüber dem Instrumentarium der Demokratie" steht. Da die Religionsgesellschaften nach dem Grundgesetz vor allem für Jenseitsfragen, aber nicht für Politik und schon gar nicht für Umweltverträglichkeitsprüfungen zuständig sind, ist man fast erleichtert, daß Steinberg aus Zeit- und Raumgründen dann doch lieber auf eine Diskussion der "angedeuteten Grundsatzfragen heutiger staatlicher Existenz" verzichtet und statt dessen fragt, ob ein "ökologischer Rat", ein Umweltrat, ein Umweltbeauftragter, eine Einschränkung des Mehrheitsprinzips, ein Widerstandsrecht oder eine Anerkennung "zivilen Ungehorsams" die Sicherheitsrisiken des technischen Fortschritts verminderten. Sie tun es nicht. Das Sicherheitsrisiko liegt in der Unübersehbarkeit der Folgen politischer Entscheidungen. Es ist also dadurch definiert, daß der Entscheider die Folgen nicht kennt. Deshalb ist das Sicherheitsrisiko gegen weitere Instanzen und Verfahrensschritte ziemlich unempfindlich. Ein Gesangverein singt eben nicht schon besser, wenn er seine Satzung ändert.

So beginnt der Leser mit geringen Hoffnungen das letzte Kapitel "Die Verfassung des Umweltstaates" und klammert sich an den Satz: "Die liberal-staatlichen Elemente bleiben . . . prinzipiell erhalten." Aber dann überrascht ihn ganz zum Schluß doch noch eine waghalsige Volte: Das traditionelle Konzept bürgerlicher Freiheit sei mit den heutigen ökologischen Herausforderungen über "Prozesse freier Kommunikation" zu versöhnen, und freie Kommunikation setze "das Fehlen von Angst" voraus. "Angst" ist allerdings das falsche Wort. Seit Heidegger sollte man es im Sinne von "Sein zum Tode" verstehen. "Furcht" wäre richtiger, wenn man auch statt "Fehlen von Furcht" gleich "Mut" sagen könnte. Wesentlicher aber ist, daß Steinberg von den Umweltkatastrophen abgesprungen und bei den Wahrnehmungen und Einschätzungen der Leute gelandet ist: "Diese Angst entsteht, wenn und weil das Ausmaß der mit der Nutzung einer bestimmten Technologie verbundenen Risiken nicht gesehen und vor allem die Zusammenhänge zwischen Risiken und Nutzen nicht (mehr) verstanden werden. Es fehlt eine Zukunftsvorstellung, die Risiken und Chancen zusammenfaßt, für die es lohnt, Risiken überhaupt einzugehen."

Das ist richtig. Verstünde die Gesellschaft Leiden als Prüfungen auf dem Wege zur ewigen Seligkeit und den Tod als Tor zum Leben, gäbe es kein Umweltproblem. Zu dieser Einstellung könnte die euro-amerikanische Gesellschaft indessen nur unter Opfern zurückkehren, neben denen jeder GAU ein Blechschaden wäre. Die moderne Gesellschaft ist so komplex geworden, daß sie ohne das millionenfach vorhandene Individuum als letzten Zurechnungspunkt und letzte Problementsorgungsstation nicht existieren kann. Fokussiert sie aber ihre Ordnung auf den mündigen Bürger, kann sie diesem nicht Schäden zurechnen, für die andere verantwortlich sind, etwa die Politik. Trotzdem muß der Bürger die Schäden tragen. Eine andere Problementsorgung gibt es nicht. Damit verwandelt der offene Widerspruch zwischen Verantwortung und Belastung das politische Problem in ein moralisches. Moralisch kann sich das Individuum für das unabsehbare Fortexistieren der Menschheit einspannen lassen oder sagen: Nach mir die Sintflut.

GERD ROELLECKE

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