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Stuart Kauffmann, ein visionärer Vorkämpfer der neuen Wissenschaft von der Komplexität, überträgt seine Erkenntnisse auf die moderne Biotechnologie, auf Ökosysteme, Wirtschafts- und kulturelle Systeme.

Produktbeschreibung
Stuart Kauffmann, ein visionärer Vorkämpfer der neuen Wissenschaft von der Komplexität, überträgt seine Erkenntnisse auf die moderne Biotechnologie, auf Ökosysteme, Wirtschafts- und kulturelle Systeme.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.04.1996

Leben ist unvermeidlich
Konkurrenz für die Evolution: Stuart Kauffman vertraut auf die Selbstorganisation der Natur

Wir leben in einer Welt erstaunlicher biologischer Komplexität. Moleküle schließen sich zu Stoffwechselreigen zusammen, aus denen schließlich Zellen hervorgehen. Durch die Wechselwirkungen zwischen Zellen entstehen Organismen; durch die Wechselwirkungen zwischen Organismen entstehen Ökosysteme, Wirtschaftssysteme und Gesellschaften. Über ein Jahrhundert lang gründete die einzige Theorie, die uns die Wissenschaft zur Erklärung dieser Ordnung anzubieten hatte, auf der natürlichen Selektion. Laut Darwin entsteht die Ordnung der biologischen Welt dadurch, daß die natürliche Auslese unter den Zufallsmutationen die seltenen, nützlichen Formen aussiebt. Nach dieser Theorie der Entwicklungsgeschichte des Lebens sind Organismen zusammengeschusterte Stückwerke, gestaltet von der Selektion, dem schweigenden opportunistischen Bastler.

In unserer Welt sind die geordneten Zustände die weniger wahrscheinlichen. Ordnung kann jedoch auf zwei Weisen entstehen: Entweder wird durch Entzug von Energie ein stabiler Gleichgewichtszustand erreicht, oder es wird durch ständige Zufuhr von Energie und Materie ein "dissipatives Nichtgleichgewichtssystem" erzeugt. Beispiele für letzteres sind Wasserstrudel in Badewannen, der Große Rote Fleck auf dem Jupiter oder eben Zellen, Lebewesen, Gesellschaften. Stuart Kauffman, Mediziner und Biologe am Santa Fe Institute, sucht die Ordnung, die solch komplexen Systemen wie Bakterien, Stubenfliegen oder Industriekonzernen innewohnt. Sein Bemühen, eine Ordnung zu finden, die die Entstehung von Leben in der Uratmosphäre und dem Urozean unseres Planeten möglich und vielleicht sogar unausweichlich machte, nennt Kauffman die Suche nach einer Theorie der Emergenz, also die Suche nach dem "Mehr", um das das Ganze die Summe seiner Teile übersteigt.

"Autokatalytische Verbände" können entstehen, wenn man einer Mischung von Substanzen einige "Nährstoffe" ständig zuführt und damit eine Vielfalt von Reaktionen in diesem Gemenge auslöst und in Gang hält. Wenn das Gemisch erst einmal eine genügend große Anzahl verschiedener Stoffe enthält, so besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, daß sich unter diesen vielen Stoffen Katalysatoren für eine Vielzahl von Reaktionen befinden, aus denen wiederum Ausgangssubstanzen und Katalysatoren für weitere Reaktionen hervorgehen können. Kauffman hält die Vermutung, daß das Leben begann, als sich Moleküle spontan zu autokatalytischen Stoffwechselsystemen zusammenschlossen, für plausibel. Meist werden solche autokatalytischen Systeme durch kleinste Störungen ihrer Umweltbedingungen zerstört. Unter günstigeren, nicht einmal besonders komplizierten Umständen jedoch können sie auch eine erstaunliche Stabilität entwickeln.

Kauffman hat seine Vermutungen in Computersimulationen nachvollzogen. Eine experimentelle Bestätigung gibt es noch nicht. Einzelne neuere Erkenntnisse der biologischen Forschung scheinen jedoch in die Richtung seiner Denkansätze zu weisen. Ein Vorteil der Arbeit mit dem Elektronenhirn besteht darin, daß die Argumentation auf eine algebraisch-logische Ebene verlagert wird, wodurch auch der biologisch weniger bewanderte Leser in die Lage versetzt wird, den kühnen Gedankengängen zu folgen.

Kauffman zeigt, welche Parameter dafür entscheidend sind, daß sich Systeme entwickeln, die nicht nur die Komplexität des Lebens besitzen, sondern auch die nötige Stabilität und Flexibilität. All diesen Systemen, die sich analog zum Lebendigen verhalten, ist gemein, daß sie weder in starre Stabilität verfallen, andererseits aber auch nicht in ein strukturloses Chaos abstürzen. Kauffman spricht davon, daß sich solche Systeme auf dem Chaosrand bewegen. Das Faszinierende an diesen Systemen ist ihr spontanes Entstehen, das praktisch unvermeidbar ist, sobald die Randbedingungen stimmen. Die Entstehung von Leben - wenn die Analogie mit den Rechenmodellen denn zulässig ist - bedarf nicht mehr des blinden Zufalls und der Selektion, sondern ist eine emergente Eigenschaft unserer Welt. Die Entstehung von Leben ist geradezu unvermeidlich.

Kauffman kann noch keinen endgültigen Beweis für seine Thesen vorlegen, aber er kann mit seinen sich selbst organisierenden Systemen für einige noch ungelöste Geheimnisse der Biologie Erklärungen anbieten. So sieht er Lösungsansätze für das Verständnis der Ontogenese (der Entwicklung eines Individuums von der Zelle zum ausgewachsenen Organismus), erklärt die explosionsartige Zunahme der Arten im erdgeschichtlichen Zeitalter des Kambriums oder leitet den Zusammenhang zwischen der Zahl der Zelltypen und der Zahl der Gene eines Lebewesens aus seinen Simulationen her. Neue Technologien wie die evolutionäre Biotechnologie oder die kombinatorische Chemie gründen bereits auf ähnlichen selbstorganisierten Systemen, wie sie Kauffman beschreibt.

Die Modelle sich selbst organisierender Systeme lassen sich nicht nur auf die Entstehung des Lebens, sondern auch auf die Entwicklung von Arten unter dem Einfluß von Umweltbedingungen und anderen Spezies anwenden. In sogenannten Fitneßlandschaften streben die Arten nach den Gipfeln höchster Fitneß. Mutation und Selektion scheinen nur in solchen Fitneßlandschaften die Evolution vorantreiben zu können, die weder zu uniform noch zu zerklüftet sind. Kauffman kommt zu dem Schluß, daß eine Evolution durch Mutation und Selektion möglicherweise nur in solchen Systemen funktionieren kann, die bereits eine gewisse Ordnung durch Selbstorganisation ausgebildet haben.

Kauffmans Vermutungen über die Evolution von Lebewesen und Ökosystemen scheinen sich auch auf die Evolution von Artefakten und Wirtschafts- und Gesellschaftsformen übertragen zu lassen. Allen sich spontan selbstorganisierenden Systemen ist ihre "Kritizität" gemeinsam. Sie lassen sich mit einem Sandhaufen, auf den ständig weitere Sandkörner herabrieseln, vergleichen. Er wird nach einiger Zeit eine stabile Silhouettenform annehmen. Jedoch ist nicht bekannt, was passieren wird, wenn das nächste Sandkorn auf den Haufen fällt: Es kann obenauf liegen bleiben, es kann aber auch hinunterrutschen und dabei eine Lawine auslösen, deren Ausmaß nicht vorhersagbar ist. Sind wir in unserer Gesellschaft mit diesen Sandkörnern vergleichbar? Vielleicht leben wir auf einem selbstorganisierten Sandhaufen und lösen mit jedem Schritt Lawinen aus, die die Hänge hinabgleiten. Aber wir können nicht absehen, welche Folgen wir in Gang setzen, weil wir die funktionalen Beziehungen zwischen den politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Elementen unserer Gesellschaft nicht kennen. HARTMUT HÄNSEL

Stuart Kauffman: "Der Öltropfen im Wasser". Chaos, Komplexität, Selbstorganisation in Natur und Gesellschaft. Aus dem Amerikanischen von Thorsten Schmidt. Piper Verlag, München/Zürich 1996. 464 S., 59 S. Abb., geb., 49,80 DM.

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