»Der Osten hat keine Zukunft, solange er nur als Herkunft begriffen wird.«
Was bedeutet es, eine Ost-Identität auferlegt zu bekommen? Eine Identität, die für die wachsende gesellschaftliche Spaltung verantwortlich gemacht wird? Der Attribute wie Populismus, mangelndes Demokratieverständnis, Rassismus, Verschwörungsmythen und Armut zugeschrieben werden? Dirk Oschmann zeigt in seinem augenöffnenden Buch, dass der Westen sich über dreißig Jahre nach dem Mauerfall noch immer als Norm definiert und den Osten als Abweichung. Unsere Medien, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft werden von westdeutschen Perspektiven dominiert. Pointiert durchleuchtet Oschmann, wie dieses Othering unserer Gesellschaft schadet, und initiiert damit eine überfällige Debatte.
»Wer über den Beitritt und die Folgen sprechen will, wird um dieses Buch nicht herumkommen.« Ingo Schulze
Was bedeutet es, eine Ost-Identität auferlegt zu bekommen? Eine Identität, die für die wachsende gesellschaftliche Spaltung verantwortlich gemacht wird? Der Attribute wie Populismus, mangelndes Demokratieverständnis, Rassismus, Verschwörungsmythen und Armut zugeschrieben werden? Dirk Oschmann zeigt in seinem augenöffnenden Buch, dass der Westen sich über dreißig Jahre nach dem Mauerfall noch immer als Norm definiert und den Osten als Abweichung. Unsere Medien, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft werden von westdeutschen Perspektiven dominiert. Pointiert durchleuchtet Oschmann, wie dieses Othering unserer Gesellschaft schadet, und initiiert damit eine überfällige Debatte.
»Wer über den Beitritt und die Folgen sprechen will, wird um dieses Buch nicht herumkommen.« Ingo Schulze
"Dieses Buch wird für Furore sorgen, weil es mit dem alten Muster, den Osten aus dem Westen zu erklären, radikal bricht." Stefan Locke Frankfurter Allgemeine Zeitung 20230307
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Ja, Dirk Oschmann schießt übers Ziel hinaus, das gibt Rezensentin Claudia Schwartz gern zu. Er wird unsachlich und verharmlost die AfD ebenso wie die Putin-Anhängerschaft im Osten. Dennoch hat sein Buch in ihren Augen Gewicht, denn es sei einfach nicht von der Hand zu weisen, mit welcher Abschätzigkeit und Ignoranz der Westen dem Osten begegne. Das hat für Schwartz schon nach der Wende begonnen, als etwa Intellektuelle wie Arnulf Baring und Wolf Jobst Siedler von einem "verzwergten Menschenschlag" und der "Kolonisierungsaufgabe" sprachen, und es setzt sich bis heute fort, wenn etwa Armin Laschet erklärt, die DDR habe die Köpfe der Menschen zerstört, oder wenn sich taz und Spiegel über die mosernden Ossis in ihren Kleingärten und Kantinen mokieren, so die Rezensentin. Die Überheblichkeit, mit der das Buch ihrer Ansicht nach im Westen behandelt wird, spricht für Schwartz ebenfalls Bände.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.12.2023Her mit dem Generationenkonflikt!
Wie die Bücher von Anne Rabe, Charlotte Gneuß und Dirk Oschmann die Debatte um Ost und West 2023 neu belebten.
Von Tobias Rüther
Es war ein produktives Jahr für die Debatte um die Frage, wie es denen im Osten und denen im Westen untereinander und miteinander so geht. Es war produktiv, weil 2023 darüber debattiert worden ist wie seit Langem nicht mehr. Die Perspektive auf die Geschichte der Deutschen in Ost und West vor und nach dem Mauerfall beginnt sich langsam zu verändern. Vorstellungen, Formeln, die seit Ewigkeiten im Umlauf sind, werden revidiert. Dazu gehört ein Begriff wie die "friedliche Revolution" von 1989, die gar nicht so friedlich war. Oder die Beschwörung der sogenannten "inneren Einheit" - was nicht nur ein unerreichbares Ziel vorgibt, sondern auch die Idee, dass es erstrebenswert für eine pluralistische Gesellschaft sei, wenn sie sich einig ist in der hochindividuellen Frage der Identität. Darin also, wie es uns vielen unterschiedlichen Deutschen unterschiedlicher Herkunft geht, warum es uns so geht und dass es uns am besten entweder so oder so gehen sollte. Das Gelingen einer pluralistischen Gesellschaft zeigt sich am deutlichsten aber doch daran, dass sie Differenzen aushält oder aushandelt.
Und es tauchten deutsche und deutsch-deutsche Differenzen auf in diesem Jahr 2023. Sie zeigten sich in neuen Büchern, aber genauso auch darin, wie über diese Bücher diskutiert wurde. Über Anne Rabes Roman "Die Möglichkeit von Glück" und Charlotte Gneuß' Roman "Gittersee", über Dirk Oschmanns Polemik "Der Osten", um die drei prominentesten Beispiele zu nennen. 34 Jahre sind seit dem Mauerfall vergangen. Eine Generation also. Die Frage nach der Identität in West und Ost lässt sich endgültig nicht mehr nur nach Himmelsrichtungen bestimmen. Auch wenn der Leipziger Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann in seiner Wutschrift vom "Osten" als "westdeutscher Erfindung" das noch einmal in voller Absicht tat. Der Ossi als zurückgesetztes, nie für voll genommenes, geduldetes Mitglied im Weststaat: Oschmann hat mit diesem Stoff sehr viele Bücher verkauft und ist durch die Zeitungen und Talkshows im Westen der Republik getourt - wo er dann verkündete, dass der Westen sich immer noch nicht für den Osten interessiere, wieder und wieder.
Dass sich der Autor der Kritik an seinem Buch nach wie vor stellt (statt sich in die Pose des Verfolgten zurückzuziehen), auch das spricht dafür, dass es doch Räume gibt, in denen man sich seriös austauscht, und sie auch genutzt werden. Von Desinteresse kann keine Rede sein. Von Ressentiments aber natürlich schon. Dass sich im Westen die Vorstellung hält, die AfD sei ein Problem des Ostens, das dürfte sich erledigt haben, seit die Rechtsextremen bei den Wahlen in Hessen zweitstärkste und in Bayern drittstärkste Kraft wurden, mit deutlichen Zugewinnen.
Der Raum aber, in dem sich eine Gesellschaft immer schon besonders intensiv über Widersprüche und Ungereimtheiten, Verdrängtes und Ressentiments austauschen kann, bleibt: die Literatur. Zwei große Romane sind in diesem Jahr erschienen und auf Interesse im Osten wie im Westen gestoßen. Beiden gelingt es, nicht nur von Erinnerung zu handeln: Sie bringen dabei auch zur Sprache, wie überhaupt erinnert wird. Wie schwierig das ist. Wie es aber auch funktionieren kann, dass Erinnern ein gegenwärtiger Prozess ist, der Gestern und Heute verbindet. Beide Romane waren in der engeren und engsten Auswahl für den Deutschen Buchpreises 2023. Gewonnen hat ihn keiner von beiden. Dass sie aber auf allen Bestenlisten dieses Jahres auftauchen, spricht für sich.
Anne Rabes Familienroman "Die Möglichkeit von Glück" erzählt von Stine, die Mitte der Achtzigerjahre an der Ostsee geboren wird - und sich, als Erwachsene und junge Mutter, dem Verschwiegenen in der eigenen Familie, aber auch den Konflikten der Familien um sie herum stellt. Ins Archiv geht, um die Geschichte ihres Großvaters zu erforschen, der von der Ostfront zurückkehrte und an die neue DDR glaubte - und an das Versprechen, dass es nie wieder Faschismus geben würde, solange sie steht. Seine Tochter, Stines "Mutti", erzieht ihre beiden Kinder in einer brutalen Erbarmungslosigkeit, dass man die Lektüre oft kaum aushält. Einmal quält die Mutti die kleine Stine und den noch kleineren Tim in einer viel zu heißen Badewanne. Der Vater hört seine Kinder auch schreien.
Rabes Roman präpariert - in der skrupulösen Recherche seiner Ich-Erzählerin Stine, die zum Bruch mit der Familie führt und in der Emanzipation endet - die Gewaltgeschichte der DDR heraus. "Die Möglichkeit von Glück" zeigt bedrückend klar, wie untrennbar Privates und Politisches zusammenhängen. Die Gewaltgeschichte der DDR beginnt in den Familien, die von den Traumata und Verbrechen des Nationalsozialismus geprägt wurden, ohne sich diesem Erbe je zu stellen, weil der staatlich verordnete Antifaschismus ja alle Fragen dazu eh schon beantwortet hatte. Sie geht weiter im Bildungssystem der DDR, mit ihren "Jugendwerkhöfen", fürchterlichen Umerziehungsanstalten. Und nach dem Mauerfall geht die Geschichte auf und wieder weiter in den sogenannten "Baseballschlägerjahren" rechtsradikaler Morde und Terrorakte und der Alltagsbrutalität. Wie haben die Eltern mit den Kindern geredet, als die von der Jagd auf "Ausländer" an den Abendbrottisch heimkamen? Wer hat wen was gefragt? Und wusste, wer dann auf Partys in den aufgelassenen Jugendwerkhöfen feierte, was den Gleichaltrigen ein paar Jahre zuvor dort angetan worden war?
"Die Möglichkeit von Glück" gehört in eine Reihe neuer Bücher, von Daniel Schulz, von Hendrik Bolz, die der Greifswalder Germanist Eckhard Schumacher in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift "Merkur" analysiert hat. Schumacher bringt es auf die Formel "Nachwendenarration als Gewaltgeschichte": Eine Generation meldet sich hier zu Wort und bringt Erfahrungen zur Sprache, die lange in der deutsch-deutschen Gegenwartsliteratur fehlten. Hier schreiben die Kinder der Umbruchzeit, die damals sich selbst überlassen waren mit ihren Fragen, weil ihre Eltern zu sehr mit sich selbst beschäftigt waren. Ein großes Loch aus Schweigen tut sich da auf. Auch Schweigen über den Unrechtsstaat DDR. Wie ihre Erzählerin Stine ist Anne Rabe Mitte der Achtziger in einer ostdeutschen Hafenstadt geboren worden. "Was Tim und ich uns erzählen, wenn wir über unsere Kindheit sprechen, sind Geschichten davon, wie wir gelernt haben, still zu sein", lässt sie Stine sagen.
Es tauchte in diesem Jahr auch wieder die Forderung nach einem "1968 für die DDR" auf. Also nach einem Gespräch zwischen ostdeutschen Großeltern und Eltern und Kindern und Enkeln über das, was die DDR war und wer was in dieser DDR war. Es geht um Verantwortung. Fragt man die Bielefelder Zeithistorikerin Christina Morina danach, die im eine vielbeachtete deutsch-deutsche Demokratiegeschichte der letzten vierzig Jahre vorgelegt hat, ob sich hier also ein Generationenkonflikt zeigt: dann reagiert sie vorsichtig, begrüßt aber die produktive Unruhe und den differenziert ausgetragenen Streit. Die Indizien eines Generationenkonfliktes zwischen denen, die über die DDR schreiben, sind jedoch offensichtlich, das zeigte sich erst wieder, als der Schriftsteller Christoph Hein, Jahrgang 1944, letzte Woche im Deutschlandfunk erklärte, "die ganzen Führungsschichten in Ostdeutschland" seien "immer noch zu 90 Prozent mit Westdeutschen besetzt". Nach der Wiedervereinigung habe im Osten "eine Auswechslung der Eliten" stattgefunden, die Hein "an die Zeit von 1935 erinnert, als die Universitäten gereinigt wurden von Juden, Sozialdemokraten und Kommunisten". Anne Rabe twitterte daraufhin, Heins Wortmeldung sei "das Ekelhafteste", was die deutsch-deutsche Debatte der letzten dreißig Jahren zu bieten gehabt habe.
Das stärkste Indiz des Generationenkonflikts war in diesem Jahr aber die Diskussion um Charlotte Gneuß und ihren Roman "Gittersee". Gneuß, 1992 im Westen als Kind von Eltern geboren, die aus der DDR ausgereist waren, erzählt darin die Geschichte der sechzehnjährigen Karin: Es ist 1976, ein Vorort von Dresden, und Karin sehr verliebt in Paul. Der in den Westen flieht, ohne ihr von seinen Plänen erzählt zu haben. Karin, gebrochenes Herz, verliert den Halt, und wohin sie sich wendet, spürt sie nur Kälte, Desinteresse, Funktionieren. Aber da ist der Stasimann Wickwalz, der sie verhört, ein Raucher, Motorradfahrer wie Paul, ein Musikhörer und Zuhörer - also lässt sich Karin auf die Zusammenarbeit mit ihm ein, vielleicht, weil ihr nichts anderes bleibt, vielleicht, weil sie so herausfindet, warum Paul ihr das angetan hat.
"Gittersee" ist ein stiller Thriller, Charlotte Gneuß erzählt in kurzen Kapiteln das Drama einer Zwangslage, und auch bei ihr spielen Gewalt und besonders sexuelle Übergriffigkeit - ständig belästigen Karin irgendwelche älteren Männer - eine zentrale Rolle. Statt aber über den Konflikt zu reden, den sie in ihrem Romandebüt inszeniert, ging es plötzlich darum, ob eine nach dem Mauerfall im Westen geborene Autorin über die DDR schreiben darf, wie sie das tut. Ausgelöst hatte das der Schriftsteller Ingo Schulze, dessen Romane genau wie "Gittersee" im Fischer-Verlag erscheinen und der seinem Verleger eine Liste vermeintlicher Mängel und Fehler zukommen ließ, die dann an die Buchpreisjury weitergereicht wurde, unter anderem ging es Schulze darum, ob man in der DDR 1976 "lecker" gesagt habe oder in der Elbe geschwommen sei.
Als der Vorgang publik wurde, legte Schulze in der "Süddeutschen" nach: "Da schreibt jemand, die zwar die Zeit nicht selbst erlebt hat, aber durch ihre Familie trotzdem davon geprägt ist. Das kann Blickweisen eröffnen, über die jemand, der es miterlebt hat, nicht verfügt. Aber man riskiert dafür eben, sich in einer Welt zu bewegen, die andere besser kennen." Damit war dann markiert, wer sich im Besitz der Diskurshoheit fühlt. Es ging hier am wenigsten um die Frage ,authentischen Erzählens'.
Den Begriff "lecker", stellte sich heraus, kannte man auch in der DDR. Die Eltern der Autorin waren in der Elbe geschwommen, wie Gneuß in Interviews erklärte. Überhaupt hat sie in dieser Machtdebatte um ihren Roman die klügsten Dinge gesagt: "Die Geschichte von 'Gittersee' hätte 1976 im Osten ja niemand schreiben können, im Westen schon gar nicht", zum Beispiel. Und dass sie gerade über den Stil eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart herstellen wollte, weil das Thema von Verstrickung und Verantwortung in der DDR auch 2023 noch virulent sei, wie sich 2023 gezeigt habe. Charlotte Gneuß hat in ihrem großen Roman diese Erzählposition genau markiert. Einmal trifft sich Karin wieder konspirativ mit Wickwalz. "Ich wünschte, ich hätte ein Foto davon, wie wir so zurückgelehnt im Auto saßen." Es ist vollkommen klar, hier wird aus der Distanz erzählt, und es mischt sich die Gegenwart sprachlich in die Beschreibung eines erinnerten Augenblicks. Keine neue Erzähltechnik.
Aber der Streit darum hat gezeigt, welche Bewegung ins deutsche Erinnern zwischen den Generationen und Herkünften gekommen ist. Und das ist ein guter Anfang. In seinem "Merkur"-Aufsatz öffnet Eckhard Schumacher die Bibliothek neuer deutscher Gewaltliteratur auch für die Romane migrantischer Autorinnen und Autoren wie Shida Bazyar, die von rechter Alltagsgewalt erzählen. Ohne damit die Hintergründe und Unterschiede verwischen zu wollen, verbindet diese Gewalterfahrungstexte die gleiche Zeit: die Neunzigerjahre des rechtsradikalen Terrors und des sogenannten Asylkompromisses. Wir werden uns also noch sehr viel erzählen müssen.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie die Bücher von Anne Rabe, Charlotte Gneuß und Dirk Oschmann die Debatte um Ost und West 2023 neu belebten.
Von Tobias Rüther
Es war ein produktives Jahr für die Debatte um die Frage, wie es denen im Osten und denen im Westen untereinander und miteinander so geht. Es war produktiv, weil 2023 darüber debattiert worden ist wie seit Langem nicht mehr. Die Perspektive auf die Geschichte der Deutschen in Ost und West vor und nach dem Mauerfall beginnt sich langsam zu verändern. Vorstellungen, Formeln, die seit Ewigkeiten im Umlauf sind, werden revidiert. Dazu gehört ein Begriff wie die "friedliche Revolution" von 1989, die gar nicht so friedlich war. Oder die Beschwörung der sogenannten "inneren Einheit" - was nicht nur ein unerreichbares Ziel vorgibt, sondern auch die Idee, dass es erstrebenswert für eine pluralistische Gesellschaft sei, wenn sie sich einig ist in der hochindividuellen Frage der Identität. Darin also, wie es uns vielen unterschiedlichen Deutschen unterschiedlicher Herkunft geht, warum es uns so geht und dass es uns am besten entweder so oder so gehen sollte. Das Gelingen einer pluralistischen Gesellschaft zeigt sich am deutlichsten aber doch daran, dass sie Differenzen aushält oder aushandelt.
Und es tauchten deutsche und deutsch-deutsche Differenzen auf in diesem Jahr 2023. Sie zeigten sich in neuen Büchern, aber genauso auch darin, wie über diese Bücher diskutiert wurde. Über Anne Rabes Roman "Die Möglichkeit von Glück" und Charlotte Gneuß' Roman "Gittersee", über Dirk Oschmanns Polemik "Der Osten", um die drei prominentesten Beispiele zu nennen. 34 Jahre sind seit dem Mauerfall vergangen. Eine Generation also. Die Frage nach der Identität in West und Ost lässt sich endgültig nicht mehr nur nach Himmelsrichtungen bestimmen. Auch wenn der Leipziger Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann in seiner Wutschrift vom "Osten" als "westdeutscher Erfindung" das noch einmal in voller Absicht tat. Der Ossi als zurückgesetztes, nie für voll genommenes, geduldetes Mitglied im Weststaat: Oschmann hat mit diesem Stoff sehr viele Bücher verkauft und ist durch die Zeitungen und Talkshows im Westen der Republik getourt - wo er dann verkündete, dass der Westen sich immer noch nicht für den Osten interessiere, wieder und wieder.
Dass sich der Autor der Kritik an seinem Buch nach wie vor stellt (statt sich in die Pose des Verfolgten zurückzuziehen), auch das spricht dafür, dass es doch Räume gibt, in denen man sich seriös austauscht, und sie auch genutzt werden. Von Desinteresse kann keine Rede sein. Von Ressentiments aber natürlich schon. Dass sich im Westen die Vorstellung hält, die AfD sei ein Problem des Ostens, das dürfte sich erledigt haben, seit die Rechtsextremen bei den Wahlen in Hessen zweitstärkste und in Bayern drittstärkste Kraft wurden, mit deutlichen Zugewinnen.
Der Raum aber, in dem sich eine Gesellschaft immer schon besonders intensiv über Widersprüche und Ungereimtheiten, Verdrängtes und Ressentiments austauschen kann, bleibt: die Literatur. Zwei große Romane sind in diesem Jahr erschienen und auf Interesse im Osten wie im Westen gestoßen. Beiden gelingt es, nicht nur von Erinnerung zu handeln: Sie bringen dabei auch zur Sprache, wie überhaupt erinnert wird. Wie schwierig das ist. Wie es aber auch funktionieren kann, dass Erinnern ein gegenwärtiger Prozess ist, der Gestern und Heute verbindet. Beide Romane waren in der engeren und engsten Auswahl für den Deutschen Buchpreises 2023. Gewonnen hat ihn keiner von beiden. Dass sie aber auf allen Bestenlisten dieses Jahres auftauchen, spricht für sich.
Anne Rabes Familienroman "Die Möglichkeit von Glück" erzählt von Stine, die Mitte der Achtzigerjahre an der Ostsee geboren wird - und sich, als Erwachsene und junge Mutter, dem Verschwiegenen in der eigenen Familie, aber auch den Konflikten der Familien um sie herum stellt. Ins Archiv geht, um die Geschichte ihres Großvaters zu erforschen, der von der Ostfront zurückkehrte und an die neue DDR glaubte - und an das Versprechen, dass es nie wieder Faschismus geben würde, solange sie steht. Seine Tochter, Stines "Mutti", erzieht ihre beiden Kinder in einer brutalen Erbarmungslosigkeit, dass man die Lektüre oft kaum aushält. Einmal quält die Mutti die kleine Stine und den noch kleineren Tim in einer viel zu heißen Badewanne. Der Vater hört seine Kinder auch schreien.
Rabes Roman präpariert - in der skrupulösen Recherche seiner Ich-Erzählerin Stine, die zum Bruch mit der Familie führt und in der Emanzipation endet - die Gewaltgeschichte der DDR heraus. "Die Möglichkeit von Glück" zeigt bedrückend klar, wie untrennbar Privates und Politisches zusammenhängen. Die Gewaltgeschichte der DDR beginnt in den Familien, die von den Traumata und Verbrechen des Nationalsozialismus geprägt wurden, ohne sich diesem Erbe je zu stellen, weil der staatlich verordnete Antifaschismus ja alle Fragen dazu eh schon beantwortet hatte. Sie geht weiter im Bildungssystem der DDR, mit ihren "Jugendwerkhöfen", fürchterlichen Umerziehungsanstalten. Und nach dem Mauerfall geht die Geschichte auf und wieder weiter in den sogenannten "Baseballschlägerjahren" rechtsradikaler Morde und Terrorakte und der Alltagsbrutalität. Wie haben die Eltern mit den Kindern geredet, als die von der Jagd auf "Ausländer" an den Abendbrottisch heimkamen? Wer hat wen was gefragt? Und wusste, wer dann auf Partys in den aufgelassenen Jugendwerkhöfen feierte, was den Gleichaltrigen ein paar Jahre zuvor dort angetan worden war?
"Die Möglichkeit von Glück" gehört in eine Reihe neuer Bücher, von Daniel Schulz, von Hendrik Bolz, die der Greifswalder Germanist Eckhard Schumacher in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift "Merkur" analysiert hat. Schumacher bringt es auf die Formel "Nachwendenarration als Gewaltgeschichte": Eine Generation meldet sich hier zu Wort und bringt Erfahrungen zur Sprache, die lange in der deutsch-deutschen Gegenwartsliteratur fehlten. Hier schreiben die Kinder der Umbruchzeit, die damals sich selbst überlassen waren mit ihren Fragen, weil ihre Eltern zu sehr mit sich selbst beschäftigt waren. Ein großes Loch aus Schweigen tut sich da auf. Auch Schweigen über den Unrechtsstaat DDR. Wie ihre Erzählerin Stine ist Anne Rabe Mitte der Achtziger in einer ostdeutschen Hafenstadt geboren worden. "Was Tim und ich uns erzählen, wenn wir über unsere Kindheit sprechen, sind Geschichten davon, wie wir gelernt haben, still zu sein", lässt sie Stine sagen.
Es tauchte in diesem Jahr auch wieder die Forderung nach einem "1968 für die DDR" auf. Also nach einem Gespräch zwischen ostdeutschen Großeltern und Eltern und Kindern und Enkeln über das, was die DDR war und wer was in dieser DDR war. Es geht um Verantwortung. Fragt man die Bielefelder Zeithistorikerin Christina Morina danach, die im eine vielbeachtete deutsch-deutsche Demokratiegeschichte der letzten vierzig Jahre vorgelegt hat, ob sich hier also ein Generationenkonflikt zeigt: dann reagiert sie vorsichtig, begrüßt aber die produktive Unruhe und den differenziert ausgetragenen Streit. Die Indizien eines Generationenkonfliktes zwischen denen, die über die DDR schreiben, sind jedoch offensichtlich, das zeigte sich erst wieder, als der Schriftsteller Christoph Hein, Jahrgang 1944, letzte Woche im Deutschlandfunk erklärte, "die ganzen Führungsschichten in Ostdeutschland" seien "immer noch zu 90 Prozent mit Westdeutschen besetzt". Nach der Wiedervereinigung habe im Osten "eine Auswechslung der Eliten" stattgefunden, die Hein "an die Zeit von 1935 erinnert, als die Universitäten gereinigt wurden von Juden, Sozialdemokraten und Kommunisten". Anne Rabe twitterte daraufhin, Heins Wortmeldung sei "das Ekelhafteste", was die deutsch-deutsche Debatte der letzten dreißig Jahren zu bieten gehabt habe.
Das stärkste Indiz des Generationenkonflikts war in diesem Jahr aber die Diskussion um Charlotte Gneuß und ihren Roman "Gittersee". Gneuß, 1992 im Westen als Kind von Eltern geboren, die aus der DDR ausgereist waren, erzählt darin die Geschichte der sechzehnjährigen Karin: Es ist 1976, ein Vorort von Dresden, und Karin sehr verliebt in Paul. Der in den Westen flieht, ohne ihr von seinen Plänen erzählt zu haben. Karin, gebrochenes Herz, verliert den Halt, und wohin sie sich wendet, spürt sie nur Kälte, Desinteresse, Funktionieren. Aber da ist der Stasimann Wickwalz, der sie verhört, ein Raucher, Motorradfahrer wie Paul, ein Musikhörer und Zuhörer - also lässt sich Karin auf die Zusammenarbeit mit ihm ein, vielleicht, weil ihr nichts anderes bleibt, vielleicht, weil sie so herausfindet, warum Paul ihr das angetan hat.
"Gittersee" ist ein stiller Thriller, Charlotte Gneuß erzählt in kurzen Kapiteln das Drama einer Zwangslage, und auch bei ihr spielen Gewalt und besonders sexuelle Übergriffigkeit - ständig belästigen Karin irgendwelche älteren Männer - eine zentrale Rolle. Statt aber über den Konflikt zu reden, den sie in ihrem Romandebüt inszeniert, ging es plötzlich darum, ob eine nach dem Mauerfall im Westen geborene Autorin über die DDR schreiben darf, wie sie das tut. Ausgelöst hatte das der Schriftsteller Ingo Schulze, dessen Romane genau wie "Gittersee" im Fischer-Verlag erscheinen und der seinem Verleger eine Liste vermeintlicher Mängel und Fehler zukommen ließ, die dann an die Buchpreisjury weitergereicht wurde, unter anderem ging es Schulze darum, ob man in der DDR 1976 "lecker" gesagt habe oder in der Elbe geschwommen sei.
Als der Vorgang publik wurde, legte Schulze in der "Süddeutschen" nach: "Da schreibt jemand, die zwar die Zeit nicht selbst erlebt hat, aber durch ihre Familie trotzdem davon geprägt ist. Das kann Blickweisen eröffnen, über die jemand, der es miterlebt hat, nicht verfügt. Aber man riskiert dafür eben, sich in einer Welt zu bewegen, die andere besser kennen." Damit war dann markiert, wer sich im Besitz der Diskurshoheit fühlt. Es ging hier am wenigsten um die Frage ,authentischen Erzählens'.
Den Begriff "lecker", stellte sich heraus, kannte man auch in der DDR. Die Eltern der Autorin waren in der Elbe geschwommen, wie Gneuß in Interviews erklärte. Überhaupt hat sie in dieser Machtdebatte um ihren Roman die klügsten Dinge gesagt: "Die Geschichte von 'Gittersee' hätte 1976 im Osten ja niemand schreiben können, im Westen schon gar nicht", zum Beispiel. Und dass sie gerade über den Stil eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart herstellen wollte, weil das Thema von Verstrickung und Verantwortung in der DDR auch 2023 noch virulent sei, wie sich 2023 gezeigt habe. Charlotte Gneuß hat in ihrem großen Roman diese Erzählposition genau markiert. Einmal trifft sich Karin wieder konspirativ mit Wickwalz. "Ich wünschte, ich hätte ein Foto davon, wie wir so zurückgelehnt im Auto saßen." Es ist vollkommen klar, hier wird aus der Distanz erzählt, und es mischt sich die Gegenwart sprachlich in die Beschreibung eines erinnerten Augenblicks. Keine neue Erzähltechnik.
Aber der Streit darum hat gezeigt, welche Bewegung ins deutsche Erinnern zwischen den Generationen und Herkünften gekommen ist. Und das ist ein guter Anfang. In seinem "Merkur"-Aufsatz öffnet Eckhard Schumacher die Bibliothek neuer deutscher Gewaltliteratur auch für die Romane migrantischer Autorinnen und Autoren wie Shida Bazyar, die von rechter Alltagsgewalt erzählen. Ohne damit die Hintergründe und Unterschiede verwischen zu wollen, verbindet diese Gewalterfahrungstexte die gleiche Zeit: die Neunzigerjahre des rechtsradikalen Terrors und des sogenannten Asylkompromisses. Wir werden uns also noch sehr viel erzählen müssen.
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