Zurück von der Reise, lauscht Andrzej Stasiuk des Nachts hinaus in die Weite: Was ist das, der Osten, dieses "Reich der Wunder", das ihn magisch anzieht? Dieses Kontinuum, dessen Erschütterungen von Kamtschatka bis an die Elbe zu spüren sind. Ostpolen, die Heimat, aus der seine Eltern vertrieben wurden? Der Osten namens Sowjetkommunismus, dessen Präsenz die Gesellschaft, in der er aufwuchs, kontaminiert hatte?
Dies ist Stasiuks großes Buch über "den Osten": Eine Summe seines Reisens und Schreibens - niedergelegt in einem epischen Strom, hinreißend erzählten Episoden und Epiphanien. Nie hat er bitterer über den "deutschen Osten" im eigenen Land geschrieben: jenes Territorium, auf dem die Nazis Gaskammern errichteten.
Aus der Vogelschau blickt er auf sein Leben, das Gewirr aus Wegen und Routen, in dem ein Kindertraum von China sich mit dem Glücksgefühl in der Wüste Gobi kreuzt. Osten - so könnte eine Quintessenz des neuen Buches lauten - ist keine Himmelsrichtung, sondern die Verheißung einer Dimension jenseits der vom Grauen der Vergangenheit unterminierten europäischen Landschaften. Wie Stasiuk die Strahlkraft der Transzendenz beschwört, erinnert an die poetische Kraft der Welt hinter Dukla - nur dass diese Welt weiter geworden ist.
Dies ist Stasiuks großes Buch über "den Osten": Eine Summe seines Reisens und Schreibens - niedergelegt in einem epischen Strom, hinreißend erzählten Episoden und Epiphanien. Nie hat er bitterer über den "deutschen Osten" im eigenen Land geschrieben: jenes Territorium, auf dem die Nazis Gaskammern errichteten.
Aus der Vogelschau blickt er auf sein Leben, das Gewirr aus Wegen und Routen, in dem ein Kindertraum von China sich mit dem Glücksgefühl in der Wüste Gobi kreuzt. Osten - so könnte eine Quintessenz des neuen Buches lauten - ist keine Himmelsrichtung, sondern die Verheißung einer Dimension jenseits der vom Grauen der Vergangenheit unterminierten europäischen Landschaften. Wie Stasiuk die Strahlkraft der Transzendenz beschwört, erinnert an die poetische Kraft der Welt hinter Dukla - nur dass diese Welt weiter geworden ist.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Lena Bopp findet es leicht befremdlich, dass der Suhrkamp-Verlag Andrzej Stasiuks Buch unter dem Label "Roman" vertreibt, schließlich habe der Ich-Erzähler verdächtig viel Ähnlichkeit mit dem polnischen Autor. Zudem liefere "Der Osten" vor allem Erinnerungen und Biographisches, wie die Rezensentin bemerkt. Davon abgesehen findet Bopp besonderen Gefallen an der "gewissen Disharmonie" des Buches. Die entspringt ihrer Meinung nach daraus, dass Stasiuk Erklärungen für das Entstehen des Kommunismus und somit für die Vergangenheit mitten in der Gegenwart suche, nämlich in Gegenden zwischen Russland, der Mongolei und China, "wo man das Nichts gewohnt sei, weil es buchstäblich nichts gebe". Dass es nur in solchen Landschaften möglich sei, revolutionäre Gedanken zu entwickeln, hält die Kritikerin Lena Bopp für eine interessante Idee Stasiuks.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.04.2016Nur das nackte Leben in der verdünnten Luft
Ein Loser, der die Endzeit liebt? Der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk macht sich wieder auf die Reise - natürlich gen Osten.
Es vergeht kaum ein Jahr, in dem nicht ein Buch von Andrzej Stasiuk erscheint, und in den meisten dieser Bücher begibt sich der Autor auf Reisen. Seine Reisen kennen nur eine Richtung - den Osten: In dem 2008 erschienenen "Fado" schrieb Stasiuk über eine Autofahrt nach Albanien, in "Unterwegs nach Babadag" (2005) über einen Trip durch Ungarn, Rumänien und Bulgarien, und in dem erst vergangenes Jahr erschienenen "Der Stich im Herzen" ging es nach Sibirien und in die Mongolei. Stasiuks neues Buch heißt daher folgerichtig einfach nur "Der Osten" und wirkt ein wenig wie die Summe all dieser Rastlosigkeiten, denen sich der polnische Schriftsteller so gerne hingibt.
Vor nicht allzu langer Zeit, heißt es einmal in diesem neuen Buch, sei der Erzähler in Amerika gewesen. Zwischen New York und Chicago habe er sich geschworen, unbedingt wieder in dieses Land zu kommen, von dem alle Völker so fasziniert und angelockt seien. Nun aber, da derselbe Erzähler in einem sibirischen Kaff namens Kosch-Agatsch an der Grenze zu China sitzt, das magere Vieh von den Weiden zurückkehren sieht, den Mist riecht, dessen Gestank sich mit dem von Benzin in niedriger Oktanzahl vermischt, da kehrt Amerika in seinen Gedanken an den ihm zustehenden Platz zurück. "Ich wusste, dass ich nicht wieder nach Manhattan fahren würde. Ich würde keinen Groschen dafür ausgeben und keinen Tag opfern, um dorthin zu gelangen. Ich war ein Loser und liebte die Endzeit. Das Scheitern in kosmischer Größenordnung gefiel mir."
Das Scheitern? Ein Hauch von Selbstironie mag in diesem Bekenntnis liegen, aber im Grunde beschreibt es nur auf schonungslose Art, worum es Andrzej Stasiuk abermals geht: Ausgehend von Erinnerungen an seine polnische Kindheit, in der sich die Armut des Landlebens mit wabernden Ängsten vor Deutschen und Russen vermischte, versucht er jene Teile der Welt zu durchmessen, denen seiner Ansicht nach im Lauf der Geschichte besonders übel mitgespielt wurde. Dass die Weite dieses geographischen Raums in unmittelbarem Zusammenhang mit den historischen Tragödien steht, die sich beispielsweise mit dem Namen Napoleons, Stalins und Hitlers verbinden, ist dabei wahrlich kein Gedanke, auf den Stasiuk als Erster kommt. Aber er treibt ihn auf die Spitze: Denn Politik gerät bei ihm zur Naturgewalt, Menschen mitunter zu wilden Tieren, die Natur selbst zu einer schicksalsprägenden Kraft. Auf diese Weise werden die Grenzen zwischen den Dimensionen fließend, gerät seine Reise zu einer Fahrt gleichermaßen durch Raum und Zeit und hält die Mystik Einzug in sein Buch.
Dieses Buch als einen Roman zu bezeichnen, wie es der Verlag auf dem Cover vorschlägt, käme einem gleichwohl nicht in den Sinn. Der Ich-Erzähler gibt sich wenig Mühe, seine Ähnlichkeit mit dem Autor zu verbergen, er erzählt auch eigentlich keine Geschichte, sondern reiht Erinnerungen an Polen in zunehmend assoziativer Art an biographische Episoden, Eindrücke von vergangenen Reisen, Leseeindrücke und Bilder von Landschaften, Städten sowie Menschen, die er auf seiner neuerlichen Fahrt aufnimmt. Sie führt ihn über Weißrussland nach Sibirien und über die Mongolei bis nach China. Was er dort sucht? Nichts Geringeres als eine Erklärung, warum diese Gegend so viele größenwahnsinnige Ideen hervorgebracht hat, von denen der Kommunismus nur eine, wenn auch die für das Leben des Erzählers bedeutendste Spielart gewesen ist. Er sucht aber auch eine Ahnung davon, wie es, da die Globalisierung den Kommunismus nun nahezu übergangslos abgelöst hat, in der Zukunft weitergehen könnte.
Auf struktureller Ebene führt dieses Ansinnen zu einer gewissen Disharmonie. Denn gedanklich bewegt sich Stasiuks Erzähler in der Vergangenheit, die er, wie er einmal zugibt, deutlicher sehen könne als die Gegenwart. "Schließlich erhält das, was ist, erst Sinn, wenn es vorbei ist." Implizit befindet er sich damit aber im Widerstreit zu dem, was er eigentlich tut, denn er reist mit weit geöffneten Augen durch ihm bis dato fremdes Gebiet, und diese Form des Reisens bedeutet immer Unmittelbarkeit, erzwingt also einen starken Bezug zur Gegenwart. Was Stasiuk aus diesem Widerspruch macht, ist nicht uninteressant: Die Idee zum Kommunismus, so lautet seine gewagteste These, könne nicht aus den Städten, sondern müsse vom Land gekommen sein. Nur in den Weiten des Raums zwischen Russland, der Mongolei und China, wo man das Nichts gewohnt sei, weil es buchstäblich nichts gebe, könne der revolutionäre Gedanke entstanden sein. "Hier ging es um mehr, hier ging es um die völlige Ungültigkeitserklärung der Materie, um ihre Überwindung - nie wieder sollte sie Bedeutung bekommen, ein für allemal wollte man sie loswerden. Deshalb war dieser Versuch größer als die Geschichte und schon sehr nah an der Geologie."
Dieser gedankliche Wagemut ändert allerdings nicht viel daran, dass man Stasiuks Schreiben am liebsten dort folgen mag, wo er sich ausnahmsweise ganz auf die Gegenwart einlässt. Seine Beschreibungen etwa der mongolischen Steppe, der Jurten, Kamele und Knochen, die das Land überziehen, der nächtlichen Kälte im Zelt, der Skepsis, aber auch der Herzlichkeit, die ihm in den Dörfern begegnet, des ungenießbaren Weins und der lächerlichen Grenzposten in diesem ohnehin unbeherrschbaren Raum sind von einer Poesie und einer Klarheit, die besser als jede geplagte Überlegung über die Ursachen des östlichen Elends begreifbar machen, warum es den Autor immer wieder in diese Gegend zieht. Weil sich die schutz- und schattenlose Kargheit dieser Gegend als ein Reichtum verstehen lässt: "Kein Buchara, kein Samarkand, keinerlei Sinn, nur das nackte Leben in der verdünnten Luft. Darum ging es mir. Um die Ausdruckskraft des Seins." Davon hat Andrzej Stasiuk erfreulicherweise noch nie genug bekommen. Und man darf gewiss davon ausgehen, dass dies auch in Zukunft so bleibt.
LENA BOPP
Andrzej Stasiuk:
"Der Osten". Roman.
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 295 S., geb., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Loser, der die Endzeit liebt? Der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk macht sich wieder auf die Reise - natürlich gen Osten.
Es vergeht kaum ein Jahr, in dem nicht ein Buch von Andrzej Stasiuk erscheint, und in den meisten dieser Bücher begibt sich der Autor auf Reisen. Seine Reisen kennen nur eine Richtung - den Osten: In dem 2008 erschienenen "Fado" schrieb Stasiuk über eine Autofahrt nach Albanien, in "Unterwegs nach Babadag" (2005) über einen Trip durch Ungarn, Rumänien und Bulgarien, und in dem erst vergangenes Jahr erschienenen "Der Stich im Herzen" ging es nach Sibirien und in die Mongolei. Stasiuks neues Buch heißt daher folgerichtig einfach nur "Der Osten" und wirkt ein wenig wie die Summe all dieser Rastlosigkeiten, denen sich der polnische Schriftsteller so gerne hingibt.
Vor nicht allzu langer Zeit, heißt es einmal in diesem neuen Buch, sei der Erzähler in Amerika gewesen. Zwischen New York und Chicago habe er sich geschworen, unbedingt wieder in dieses Land zu kommen, von dem alle Völker so fasziniert und angelockt seien. Nun aber, da derselbe Erzähler in einem sibirischen Kaff namens Kosch-Agatsch an der Grenze zu China sitzt, das magere Vieh von den Weiden zurückkehren sieht, den Mist riecht, dessen Gestank sich mit dem von Benzin in niedriger Oktanzahl vermischt, da kehrt Amerika in seinen Gedanken an den ihm zustehenden Platz zurück. "Ich wusste, dass ich nicht wieder nach Manhattan fahren würde. Ich würde keinen Groschen dafür ausgeben und keinen Tag opfern, um dorthin zu gelangen. Ich war ein Loser und liebte die Endzeit. Das Scheitern in kosmischer Größenordnung gefiel mir."
Das Scheitern? Ein Hauch von Selbstironie mag in diesem Bekenntnis liegen, aber im Grunde beschreibt es nur auf schonungslose Art, worum es Andrzej Stasiuk abermals geht: Ausgehend von Erinnerungen an seine polnische Kindheit, in der sich die Armut des Landlebens mit wabernden Ängsten vor Deutschen und Russen vermischte, versucht er jene Teile der Welt zu durchmessen, denen seiner Ansicht nach im Lauf der Geschichte besonders übel mitgespielt wurde. Dass die Weite dieses geographischen Raums in unmittelbarem Zusammenhang mit den historischen Tragödien steht, die sich beispielsweise mit dem Namen Napoleons, Stalins und Hitlers verbinden, ist dabei wahrlich kein Gedanke, auf den Stasiuk als Erster kommt. Aber er treibt ihn auf die Spitze: Denn Politik gerät bei ihm zur Naturgewalt, Menschen mitunter zu wilden Tieren, die Natur selbst zu einer schicksalsprägenden Kraft. Auf diese Weise werden die Grenzen zwischen den Dimensionen fließend, gerät seine Reise zu einer Fahrt gleichermaßen durch Raum und Zeit und hält die Mystik Einzug in sein Buch.
Dieses Buch als einen Roman zu bezeichnen, wie es der Verlag auf dem Cover vorschlägt, käme einem gleichwohl nicht in den Sinn. Der Ich-Erzähler gibt sich wenig Mühe, seine Ähnlichkeit mit dem Autor zu verbergen, er erzählt auch eigentlich keine Geschichte, sondern reiht Erinnerungen an Polen in zunehmend assoziativer Art an biographische Episoden, Eindrücke von vergangenen Reisen, Leseeindrücke und Bilder von Landschaften, Städten sowie Menschen, die er auf seiner neuerlichen Fahrt aufnimmt. Sie führt ihn über Weißrussland nach Sibirien und über die Mongolei bis nach China. Was er dort sucht? Nichts Geringeres als eine Erklärung, warum diese Gegend so viele größenwahnsinnige Ideen hervorgebracht hat, von denen der Kommunismus nur eine, wenn auch die für das Leben des Erzählers bedeutendste Spielart gewesen ist. Er sucht aber auch eine Ahnung davon, wie es, da die Globalisierung den Kommunismus nun nahezu übergangslos abgelöst hat, in der Zukunft weitergehen könnte.
Auf struktureller Ebene führt dieses Ansinnen zu einer gewissen Disharmonie. Denn gedanklich bewegt sich Stasiuks Erzähler in der Vergangenheit, die er, wie er einmal zugibt, deutlicher sehen könne als die Gegenwart. "Schließlich erhält das, was ist, erst Sinn, wenn es vorbei ist." Implizit befindet er sich damit aber im Widerstreit zu dem, was er eigentlich tut, denn er reist mit weit geöffneten Augen durch ihm bis dato fremdes Gebiet, und diese Form des Reisens bedeutet immer Unmittelbarkeit, erzwingt also einen starken Bezug zur Gegenwart. Was Stasiuk aus diesem Widerspruch macht, ist nicht uninteressant: Die Idee zum Kommunismus, so lautet seine gewagteste These, könne nicht aus den Städten, sondern müsse vom Land gekommen sein. Nur in den Weiten des Raums zwischen Russland, der Mongolei und China, wo man das Nichts gewohnt sei, weil es buchstäblich nichts gebe, könne der revolutionäre Gedanke entstanden sein. "Hier ging es um mehr, hier ging es um die völlige Ungültigkeitserklärung der Materie, um ihre Überwindung - nie wieder sollte sie Bedeutung bekommen, ein für allemal wollte man sie loswerden. Deshalb war dieser Versuch größer als die Geschichte und schon sehr nah an der Geologie."
Dieser gedankliche Wagemut ändert allerdings nicht viel daran, dass man Stasiuks Schreiben am liebsten dort folgen mag, wo er sich ausnahmsweise ganz auf die Gegenwart einlässt. Seine Beschreibungen etwa der mongolischen Steppe, der Jurten, Kamele und Knochen, die das Land überziehen, der nächtlichen Kälte im Zelt, der Skepsis, aber auch der Herzlichkeit, die ihm in den Dörfern begegnet, des ungenießbaren Weins und der lächerlichen Grenzposten in diesem ohnehin unbeherrschbaren Raum sind von einer Poesie und einer Klarheit, die besser als jede geplagte Überlegung über die Ursachen des östlichen Elends begreifbar machen, warum es den Autor immer wieder in diese Gegend zieht. Weil sich die schutz- und schattenlose Kargheit dieser Gegend als ein Reichtum verstehen lässt: "Kein Buchara, kein Samarkand, keinerlei Sinn, nur das nackte Leben in der verdünnten Luft. Darum ging es mir. Um die Ausdruckskraft des Seins." Davon hat Andrzej Stasiuk erfreulicherweise noch nie genug bekommen. Und man darf gewiss davon ausgehen, dass dies auch in Zukunft so bleibt.
LENA BOPP
Andrzej Stasiuk:
"Der Osten". Roman.
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 295 S., geb., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"MIt einer grandiosen Sprache - von Renate Schmidgall bestens in Deutsche übertragen - beweist Stasiuk einmal mehr seine Virtuosität."
Thomas Mahr, Lesart 1/2016
Thomas Mahr, Lesart 1/2016
»In Stasiuks neuem Buch ... bleibt das Geheimnis um die eigenwillige Art seines Schreibens, seinen besonderen Aufmerksamkeitstypus bestehen.« Hans-Peter Kunisch Süddeutsche Zeitung 20160311