Der Icherzähler der Geschichte kommt zu einer Beerdigung in seinen Heimatort im ländlichen Sussex zurück. Um abseits der Trauerfeier etwas Ruhe zu finden, biegt er wie automatisch in einen unbefestigten Pfad ein, an dem früher die Farm der Hempstocks lag. Damals war der Junge 7 Jahre alt, ein in
vielerlei Hinsicht magisches Alter. Mit 7 beginnt eine neue Epoche in der kindlichen Entwicklung. Als…mehrDer Icherzähler der Geschichte kommt zu einer Beerdigung in seinen Heimatort im ländlichen Sussex zurück. Um abseits der Trauerfeier etwas Ruhe zu finden, biegt er wie automatisch in einen unbefestigten Pfad ein, an dem früher die Farm der Hempstocks lag. Damals war der Junge 7 Jahre alt, ein in vielerlei Hinsicht magisches Alter. Mit 7 beginnt eine neue Epoche in der kindlichen Entwicklung. Als Zweitklässler vollziehen die meisten Kinder zu der Zeit einen gewaltigen Schritt in die Unabhängigkeit, nachdem sie selbstständig lesen gelernt haben. Sie sind damit unabhängig vom Urteil Erwachsener und deren Bücher-Auswahl geworden und können fortan ihren ganz persönlichen Interessen nachgehen. Wie die Leser entdecken werden, bringt dieses Alter bisher unbekannte Ängste und Bewährungsproben mit sich. Auch Letties Alter (sie ist 11) empfand ich als magisch, sie verbringt den letzten Sommer ihrer Kindheit mit dem jüngeren Jungen. Ob sie im folgenden Jahr noch Kinderspiele spielen wird, steht in den Sternen.
Gaimans Icherzähler sieht die Welt zunächst allein aus seiner kindlich ichbezogenen Perspektive. Während sich fern von ihm unangenehme Dinge zusammenbrauen (seinen 7. Geburtstag verbringt er allein an der gedeckten Kaffeetafel; denn keiner der Eingeladenen erscheint), interpretiert er den drohenden finanziellen Abstieg seiner Familie um seine Befindlichkeit herum, verkörpert durch das gelbe Waschbecken in seinem Kinderzimmer. Obwohl das Handwaschbecken nach Maß für ihn an der Wand befestigt wurde, lebt in diesem Zimmer neuerdings als Untermieter ein geheimnisvoller Mann, der in Australien als Opalschürfer gearbeitet hat. Indirekt führt der Opalsucher den Jungen zu den Hempstocks. In der Familie heißen Großmutter, Mutter und Tochter alle Hempstock; falls es früher einmal Männer gegeben sollte, sind die in die Welt hinaus gezogen, erklärt ihm die Tochter Lettie. Die Elfjährige betreut den Jungen in einer Krisensituation wie eine Mutter und wird fortan seine Beschützerin und Erklärerin sein. Der Ententeich hinter der Farm ist Letties Ozean, hinter dem sich die übrige Welt befindet, aber auch der Übergang in eine zunehmend bedrohlich wirkende magische Welt. Auch Lettie hängt kindlichen Allmachtsphantasien an, dass sie mit ihren magischen Fähigkeiten den Jüngeren vor allem Bösen beschützen kann, das dort draußen lauert und sich aktuell in der Person der neuen Haushälterin Ursula in seinem Elternhaus eingenistet hat.
Lettie verfügt über magische Fähigkeiten, die deutlich durch die einfache Lebensweise der Familie unterstützt werden. Wer über ein offenes Herdfeuer mit dazugehörigem Feuerhaken verfügt, kann es entschlossen mit den wispernden und flatternden Ungeheuern aufnehmen, die außerhalb des Portals zur magischen Welt lauern. Die mächtige Haushälterin, die die Freiheit des Jungen empfindlich einschränkt, könnte man zur Phantasiegestalt erklären, aber auch zur Verkörperung seiner kindlichen Ängste, als er erkennt, dass sie sich nicht wie ihre Vorgängerinnen durch ein paar Frösche im Bett vertreiben lassen wird.
"Der Ozean am Ende der Straße" ist kein Kinderbuch, sondern ein Roman für Erwachsene, die sich den Bildern ihrer Kindheit noch oder wieder verbunden fühlen. Wie schwer das sein kann, hat Gaiman selbst erfahren, der die Landschaft und die Bilder seiner Kindheit erst mit der Unterstützung seiner Schwester wieder hervorholen konnte. Ein Buch über die Macht der Phantasie und der phantastischen Literatur, das ich jederzeit als mein einziges Buch mit in die berühmte einsame Hütte ohne Stromanschluss nehmen würde.