Nach dem Tod der Eltern haben sich die drei Geschwister der Familie Gabel auseinandergelebt. Während die alleinerziehende Sidsel in einem Kopenhagener Museum arbeitet, schlägt sich Niels als Plakatierer durch. Ea, die älteste der drei, lebt in San Francisco und versucht, Kontakt zur verstorbenen Mutter aufzunehmen. Doch dann müssen die Geschwister auf einmal Stellung zueinander und zu ihrer Vergangenheit beziehen. Ein beglückendes Buch über das Wagnis, alte Hüllen abzustreifen und Veränderung zuzulassen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.09.2021Geklimperte Ohrwürmer
Kaltgelassen ob all der Kälte: Caroline Albertine Minors Roman über Trennung und Einsamkeit
Von allem etwas. Ein bisschen spannend, ein bisschen dramatisch, ein bisschen moralisch, ein bisschen lesbisch, ein bisschen pädagogisch, ein bisschen esoterisch. Von allem etwas. Für jeden etwas.
Dieser Roman hat viele Stimmen, die viele Geschichten erzählen. Es beginnt mit einer gewissen Charlotte, die offenbar von jemandem gerufen worden ist, sie befindet sich zwischen "Säulen von gelbem Licht im Nebel", sie sieht einen Birkenhain, der sich "in der Mitte o-beinig ausdehnt", irgendwann "plumpst sie erschöpft auf den Boden", es "stülpt sich der Himmel um", sie erzählt von einer zarten Membran, die später eine "ungesunde Farbe" annimmt. Am Ende, nach zehn unverständlichen Seiten, trifft sie auf ihren Exmann, der "lächelt sein Ziegenbocklächeln, als wären seit unserer letzten Begegnung nicht sowohl das Leben als auch eine unbestimmbare Spanne an Tod vergangen". Was ist hier los? Ist das ein surrealistischer Text? Hat die Autorin bewusstseinserweiternde Drogen genommen?
Erst im Laufe der weiteren Lektüre stellt sich heraus, dass sich die Dame aus dem Jenseits äußert. Reicht das als Grund, warum sie sich verrätselt, hochtrabend und oft genug unbeholfen ausdrückt? Vielleicht. Vielleicht aber ist ihre gestelzte Sprache nur ein Zeichen, dass ihr Gehirn nicht mehr klar denken kann, ein "Gehirn, das auf schwingende Saiten befestigt wird, auf denen das Gedächtnis sofort seine Ohrwürmer klimpert". Mit Verlaub, das ist nichts anderes als blühender Unsinn.
Hier wird so ausführlich auf die ersten zehn Seiten eingegangen, weil sie erstens eine Art Prolog bilden, der freilich statt einzuführen oder ein gewisses Interesse zu erwecken bloß verwirrt und abstößt. Zweitens kriegen wir gleich am Anfang einen Vorgeschmack auf das, was uns in Sachen Metaphern und Stil erwartet.
Versuchen wir, den Inhalt dieses Romans zweier Familien zu skizzieren, ohne uns zu verheddern. Auf der einen Seite steht die dänische Familie Gabel. Sie besteht aus drei Geschwistern, die - was nicht selten ist - sehr verschieden sind. Niels, der Jüngste, hat eine Karriere als Plakatierer eingeschlagen und ist bei einem Freund im feinen Charlottenlund untergekommen. Die Mittlere, Sidsel, arbeitet als Kunsthistorikerin und Konservatorin an der Kopenhagener Glyptothek. Ea, die Älteste, lebt in San Francisco mit dem Verfasser eines Gedichtbands zusammen, der sich jetzt als Immobilienfotograf verdingt. Sie trinkt Guavensaft, und des fotografierenden Dichters Haar (das er vermutlich offen trägt) hat einen "erdigen, melonenartigen Duft". Die Personen dieses Romans sind in ihrer Unkonventionalität dermaßen konventionell, dass es schmerzt.
Die Eltern - jene Charlotte und ihr Ex - sind beide tot und doch wieder nicht. Charlotte rumort im Kopf der Kinder herum. Besonders Ea ist davon derart bedrückt, dass sie eines Tages eine Hellseherin aufsucht, ein Medium, über das sie mit ihrer Mutter Kontakt aufnehmen will.
Das ist die erste Verbindung der dänischen Familie Gabel mit der amerikanischen Familie Wallens. Besagte Hellseherin heißt Beatrice Wallens, genannt "Bee", eben von ihrer Frau geschieden und schwer unter Trennungsschmerz leidend, vor allem deshalb, weil sie jetzt ihre komfortable Unterkunft räumen muss, die nämlich der Ex gehört. Ihre Tochter Fifi, 23, hat entdeckt, dass ganz viele Leute ganz wild nach ihrer Stimme und den Geräuschen sind, die sie so von sich gibt, sie hat einen eigenen Youtube-Kanal. Einer ihrer Fans ist Niels Gabel, der sich halt sehr um sein "spirituelles Wachstum" kümmert. Das ist die zweite Verbindung.
Es geht in diesem Roman um die Abwesenheit der Eltern, um alleinerziehende Mütter, die sich natürlich selbst suchen und verwirklichen wollen, die ihrer Tochter nicht verraten möchten, wer ihr Vater ist, oder dem Vater, dass er eine Tochter hat, und die meinen, zehnjährige Mädchen sollten ein Deo benutzen, weil "solche Sachen entscheidend sein können". Was bitte ist gemeint? Es geht um Trennung in allen möglichen Versionen, um das Leid, das die Einsamkeit hervorruft, und die verschiedenen Versuche, sich daraus zu befreien. Es geht um Patchworkfamilien. Oder schlicht um Dinge, die wir heute in der westlichen Welt, in der sich die Formen und Normen zunehmend auflösen, fast alle kennen und erfahren haben.
Aber Caroline Albertine Minor hat die Flut von Haupt- und Nebenfiguren, die sie hier aufmarschieren lässt, nicht in der Hand, ihr Text ist die Summe unverdauter Beobachtungen und banaler Gedanken, der eine durchdachte Konstruktion fremd ist. Es ist eine sich bedeutungsvoll gebende Ansammlung nichtssagender Scheinerkenntnisse, etwa so: "Manchmal besteht das größte Mysterium einfach nur darin, dass die Dinge so sind, wie sie sind." Gespickt ist das Ganze mit affektierten Metaphern, unglücklichen Bildern und hilflosen Formulierungen: Da klammert sich eine Frau "schon an die äußersten Zweige des Baums der Jugend"; Schultern hängen und sind "in ihrer Breite unbrauchbar und beschwerlich geworden"; Ea will kein Kind, denn "die Mutterschaft vi- brierte auf einer Frequenz, die sie nicht empfangen konnte"; bildende Künstler sind Leute, aus deren "Händen und Hirnen Dinge wuchsen". Eigentlich weiß man schon nach 25 Seiten, dass das stilistisch alles nur schiefgehen kann. Dementsprechend ist das größte Problem des Romans: Er gibt den Lesern keine Chance zur Einfühlung. Man muss sich nicht mit den Figuren identifizieren, aber faszinieren sollten sie uns schon! "Der Panzer des Hummers" (der nicht nur Schutz, sondern auch Gefängnis sein kann, das haben wir verstanden) lässt einen kalt, es ist kein "zärtlicher" Roman, wie die Verlagswerbung verlautbart, sondern ein trockener, uninteressanter, aufgeblasener Text. PETER URBAN-HALLE
Caroline Albertine Minor: "Der Panzer des Hummers". Roman.
Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein. Diogenes Verlag, Zürich 2021. 330 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kaltgelassen ob all der Kälte: Caroline Albertine Minors Roman über Trennung und Einsamkeit
Von allem etwas. Ein bisschen spannend, ein bisschen dramatisch, ein bisschen moralisch, ein bisschen lesbisch, ein bisschen pädagogisch, ein bisschen esoterisch. Von allem etwas. Für jeden etwas.
Dieser Roman hat viele Stimmen, die viele Geschichten erzählen. Es beginnt mit einer gewissen Charlotte, die offenbar von jemandem gerufen worden ist, sie befindet sich zwischen "Säulen von gelbem Licht im Nebel", sie sieht einen Birkenhain, der sich "in der Mitte o-beinig ausdehnt", irgendwann "plumpst sie erschöpft auf den Boden", es "stülpt sich der Himmel um", sie erzählt von einer zarten Membran, die später eine "ungesunde Farbe" annimmt. Am Ende, nach zehn unverständlichen Seiten, trifft sie auf ihren Exmann, der "lächelt sein Ziegenbocklächeln, als wären seit unserer letzten Begegnung nicht sowohl das Leben als auch eine unbestimmbare Spanne an Tod vergangen". Was ist hier los? Ist das ein surrealistischer Text? Hat die Autorin bewusstseinserweiternde Drogen genommen?
Erst im Laufe der weiteren Lektüre stellt sich heraus, dass sich die Dame aus dem Jenseits äußert. Reicht das als Grund, warum sie sich verrätselt, hochtrabend und oft genug unbeholfen ausdrückt? Vielleicht. Vielleicht aber ist ihre gestelzte Sprache nur ein Zeichen, dass ihr Gehirn nicht mehr klar denken kann, ein "Gehirn, das auf schwingende Saiten befestigt wird, auf denen das Gedächtnis sofort seine Ohrwürmer klimpert". Mit Verlaub, das ist nichts anderes als blühender Unsinn.
Hier wird so ausführlich auf die ersten zehn Seiten eingegangen, weil sie erstens eine Art Prolog bilden, der freilich statt einzuführen oder ein gewisses Interesse zu erwecken bloß verwirrt und abstößt. Zweitens kriegen wir gleich am Anfang einen Vorgeschmack auf das, was uns in Sachen Metaphern und Stil erwartet.
Versuchen wir, den Inhalt dieses Romans zweier Familien zu skizzieren, ohne uns zu verheddern. Auf der einen Seite steht die dänische Familie Gabel. Sie besteht aus drei Geschwistern, die - was nicht selten ist - sehr verschieden sind. Niels, der Jüngste, hat eine Karriere als Plakatierer eingeschlagen und ist bei einem Freund im feinen Charlottenlund untergekommen. Die Mittlere, Sidsel, arbeitet als Kunsthistorikerin und Konservatorin an der Kopenhagener Glyptothek. Ea, die Älteste, lebt in San Francisco mit dem Verfasser eines Gedichtbands zusammen, der sich jetzt als Immobilienfotograf verdingt. Sie trinkt Guavensaft, und des fotografierenden Dichters Haar (das er vermutlich offen trägt) hat einen "erdigen, melonenartigen Duft". Die Personen dieses Romans sind in ihrer Unkonventionalität dermaßen konventionell, dass es schmerzt.
Die Eltern - jene Charlotte und ihr Ex - sind beide tot und doch wieder nicht. Charlotte rumort im Kopf der Kinder herum. Besonders Ea ist davon derart bedrückt, dass sie eines Tages eine Hellseherin aufsucht, ein Medium, über das sie mit ihrer Mutter Kontakt aufnehmen will.
Das ist die erste Verbindung der dänischen Familie Gabel mit der amerikanischen Familie Wallens. Besagte Hellseherin heißt Beatrice Wallens, genannt "Bee", eben von ihrer Frau geschieden und schwer unter Trennungsschmerz leidend, vor allem deshalb, weil sie jetzt ihre komfortable Unterkunft räumen muss, die nämlich der Ex gehört. Ihre Tochter Fifi, 23, hat entdeckt, dass ganz viele Leute ganz wild nach ihrer Stimme und den Geräuschen sind, die sie so von sich gibt, sie hat einen eigenen Youtube-Kanal. Einer ihrer Fans ist Niels Gabel, der sich halt sehr um sein "spirituelles Wachstum" kümmert. Das ist die zweite Verbindung.
Es geht in diesem Roman um die Abwesenheit der Eltern, um alleinerziehende Mütter, die sich natürlich selbst suchen und verwirklichen wollen, die ihrer Tochter nicht verraten möchten, wer ihr Vater ist, oder dem Vater, dass er eine Tochter hat, und die meinen, zehnjährige Mädchen sollten ein Deo benutzen, weil "solche Sachen entscheidend sein können". Was bitte ist gemeint? Es geht um Trennung in allen möglichen Versionen, um das Leid, das die Einsamkeit hervorruft, und die verschiedenen Versuche, sich daraus zu befreien. Es geht um Patchworkfamilien. Oder schlicht um Dinge, die wir heute in der westlichen Welt, in der sich die Formen und Normen zunehmend auflösen, fast alle kennen und erfahren haben.
Aber Caroline Albertine Minor hat die Flut von Haupt- und Nebenfiguren, die sie hier aufmarschieren lässt, nicht in der Hand, ihr Text ist die Summe unverdauter Beobachtungen und banaler Gedanken, der eine durchdachte Konstruktion fremd ist. Es ist eine sich bedeutungsvoll gebende Ansammlung nichtssagender Scheinerkenntnisse, etwa so: "Manchmal besteht das größte Mysterium einfach nur darin, dass die Dinge so sind, wie sie sind." Gespickt ist das Ganze mit affektierten Metaphern, unglücklichen Bildern und hilflosen Formulierungen: Da klammert sich eine Frau "schon an die äußersten Zweige des Baums der Jugend"; Schultern hängen und sind "in ihrer Breite unbrauchbar und beschwerlich geworden"; Ea will kein Kind, denn "die Mutterschaft vi- brierte auf einer Frequenz, die sie nicht empfangen konnte"; bildende Künstler sind Leute, aus deren "Händen und Hirnen Dinge wuchsen". Eigentlich weiß man schon nach 25 Seiten, dass das stilistisch alles nur schiefgehen kann. Dementsprechend ist das größte Problem des Romans: Er gibt den Lesern keine Chance zur Einfühlung. Man muss sich nicht mit den Figuren identifizieren, aber faszinieren sollten sie uns schon! "Der Panzer des Hummers" (der nicht nur Schutz, sondern auch Gefängnis sein kann, das haben wir verstanden) lässt einen kalt, es ist kein "zärtlicher" Roman, wie die Verlagswerbung verlautbart, sondern ein trockener, uninteressanter, aufgeblasener Text. PETER URBAN-HALLE
Caroline Albertine Minor: "Der Panzer des Hummers". Roman.
Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein. Diogenes Verlag, Zürich 2021. 330 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Peter Urban-Halle findet klare Worte für diesen Roman von Caroline Albertine Minor: nur aufgemotzte Nichtigkeiten findet er darin. Dass er dennoch versucht, uns den Inhalt wiederzugeben, sei ihm hoch angerechnet. Allein, es gelingt nicht wirklich. Zu verworren scheint die Geschichte um eine dänische und eine amerikanische Patchworkfamilie, um Trennung, Abwesenheiten und Einsamkeit. Vor allem aber sind die Figuren im Text dem Rezensenten fremd, und die konstruktiven Mängel des Buches sorgen dafür, dass dies auch so bleibt. Der Rest sind "nichtssagende Scheinerkenntnisse" und "unverdaute Beobachtungen", ärgert sich der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Rezensent Peter Urban-Halle findet klare Worte für diesen Roman von Caroline Albertine Minor: nur aufgemotzte Nichtigkeiten findet er darin. Dass er dennoch versucht, uns den Inhalt wiederzugeben, sei ihm hoch angerechnet. Allein, es gelingt nicht wirklich. Zu verworren scheint die Geschichte um eine dänische und eine amerikanische Patchworkfamilie, um Trennung, Abwesenheiten und Einsamkeit. Vor allem aber sind die Figuren im Text dem Rezensenten fremd, und die konstruktiven Mängel des Buches sorgen dafür, dass dies auch so bleibt. Der Rest sind "nichtssagende Scheinerkenntnisse" und "unverdaute Beobachtungen", ärgert sich der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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