»Die Dummheit des Arguments Panzer und Waffen war so niederschmetternd ...« Heinrich Böll und der Prager Frühling.
Am 20. August 1968 reiste Heinrich Böll auf Einladung des tschechoslowakischen Schriftstellerverbands nach Prag. Zeit für die offiziell geplanten Gespräche blieb ihm nicht, denn kurz darauf rückten die Truppen des Warschauer Paktes ein, und die Besatzung begann.
Vier Tage verbrachte Böll gemeinsam mit seiner Frau Annemarie und seinem Sohn René in der Stadt, in der die Träume von einem »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« brutal zerschlagen wurden. Der Widerstand der Prager durch alle Bevölkerungsschichten hindurch beeindruckte ihn zutiefst. Böll tat das ihm Mögliche, seine Solidarität auszudrücken, sprach im Radio, schilderte für lokale Zeitungen seine Beobachtungen der Ereignisse. Als er wieder abreiste, versprach er den tschechischen Schriftstellerkollegen, so viel und oft wie möglich über das, was er gesehen hatte, zu berichten und darüber zu schreiben. Böll hielt Wort. Die Ergebnisse seines Engagements versammelt erstmals dieses Buch.
Neben den seinerzeit abgedruckten oder gesendeten Interviews und essayistischen Stellungnahmen umfasst der Band umfangreiche bislang unveröffentlichte Tagebuchaufzeichnungen, Briefe und Notizen des Autors. Erweitert wird das Material durch Fotografien René Bölls sowie Erinnerungsstücke aus den bewegten Prager Tagen.
Am 20. August 1968 reiste Heinrich Böll auf Einladung des tschechoslowakischen Schriftstellerverbands nach Prag. Zeit für die offiziell geplanten Gespräche blieb ihm nicht, denn kurz darauf rückten die Truppen des Warschauer Paktes ein, und die Besatzung begann.
Vier Tage verbrachte Böll gemeinsam mit seiner Frau Annemarie und seinem Sohn René in der Stadt, in der die Träume von einem »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« brutal zerschlagen wurden. Der Widerstand der Prager durch alle Bevölkerungsschichten hindurch beeindruckte ihn zutiefst. Böll tat das ihm Mögliche, seine Solidarität auszudrücken, sprach im Radio, schilderte für lokale Zeitungen seine Beobachtungen der Ereignisse. Als er wieder abreiste, versprach er den tschechischen Schriftstellerkollegen, so viel und oft wie möglich über das, was er gesehen hatte, zu berichten und darüber zu schreiben. Böll hielt Wort. Die Ergebnisse seines Engagements versammelt erstmals dieses Buch.
Neben den seinerzeit abgedruckten oder gesendeten Interviews und essayistischen Stellungnahmen umfasst der Band umfangreiche bislang unveröffentlichte Tagebuchaufzeichnungen, Briefe und Notizen des Autors. Erweitert wird das Material durch Fotografien René Bölls sowie Erinnerungsstücke aus den bewegten Prager Tagen.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.08.2018„Blass, schön
vor Zorn und Mut“
Heinrich Bölls Aufzeichnungen aus Prag, August 1968
Heinrich Böll ahnte nichts Besonderes, als er mit seiner Frau Annemarie am 20. August 1968 mit dem Zug in Prag einfuhr. Er war gespannt, wie sich die Atmosphäre in der Tschechoslowakei verändert hatte, und freute sich auf den „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, den der Prager KP-Chef Alexander Dubček seit ungefähr einem halben Jahr propagierte. Der dortige Schriftstellerverband hatte Böll eingeladen, um über den Reformprozess zu diskutieren und sich über einen „dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Sowjetkommunismus auszutauschen, eine Vorstellung, die Böll elektrisierte. Er hatte gegen den amerikanischen Krieg in Vietnam genauso protestiert wie gegen die Verhaftung der Schriftsteller Andrei Sinjawski und Juli Daniel in Moskau. Der „Prager Frühling“ war für ihn eine erste konkrete Hoffnung, Vorstellungen eines liberalen Sozialismus umsetzen zu können.
Es war deswegen eine besondere Fügung, dass Böll ausgerechnet am Vorabend des Einmarschs sowjetischer Truppen in Prag ankam. Der Prager Frühling fand damit gewaltsam ein Ende. Böll verbrachte mit seiner Frau und dem Sohn René anschließend vier angespannte, aufgeladene und erregende Tage in Prag. Er beobachtete die Ereignisse genau, nahm den gewaltlosen Widerstand der Bevölkerung wahr und den undefinierbaren Habitus der Besatzungssoldaten, bevor er wieder zurückreiste.
Obwohl er eigentlich Distanz zu den Medien bewahrte, waren seine öffentlichen Stellungnahmen in und nach diesen vier Tagen sehr zahlreich: Zu einschneidend waren die Erfahrungen für ihn. Der Band „Der Panzer zielte auf Kafka“ versammelt jetzt zum ersten Mal alle Materialien, die es von Böll über dieses historisch äußerst bedeutsame Ereignis gibt.
Faksimiliert sind 49 Seiten aus einem kleinen Vokabelheft, in dem Böll spontane Eindrücke festhielt. Sie bildeten die Grundlage zu seinem zentralen Text, der am 30. September 1968 im Wochenmagazin Der Spiegel erschien – unter eben diesem pathetischen Panzer-Kafka-Titel, der aber vermutlich von der Redaktion stammte und nicht von Böll selbst.
In seinem Text gibt es folgende Beobachtung: „Vor Kafkas Geburtshaus stand ein Panzer, das Rohr auf die Kafka-Büste gerichtet. Hier auch wurden Symbol und Wirklichkeit kongruent.“ In seinen fragmentarisch hingeworfenen handschriftlichen Notizen findet sich der Eintrag „Panzer vor Kafkas Geb.Haus!“ als letzter Satz am Freitag, dem 23. August.
Interessant ist, wie Böll in seiner essayistischen Reportage Notizen über Kafka und Bohumil Hrabal direkt aufeinander bezieht, die im Vokabelheft zum Teil weit voneinander entfernt stehen. Am Tag zuvor traf er Hrabal in der Hotelhalle und schrieb: „Kein Alkohol in der Stadt zu haben – nur in den Hotels für Ausländer – Hrabal trank Pilsener“, und ein paar Sätze vorher: „Schwejk als Nationalfigur - + Kafka. Hrabal: Keine Ironie mehr möglich.“
Im ausgearbeiteten Text kommt es dann zu einem Assoziationsgeflecht von Hrabal, Bier, Ironie, Panzer, Kafka, und das ist ein schönes Beispiel für ästhetische Bearbeitung und Weiterentwicklung.
Unter den prägnanten Szenen der ersten Besatzungstage fällt eine besonders auf. Böll schreibt, wie ein sowjetischer Soldat einem jungen Deutschen seine Maschinenpistole auf die Brust setzt und dessen Kamera einfordert. Der Mann hatte gerade ein Foto des Denkmals von Jan Hus gemacht hat – dem Reformator war kurz vorher eine Augenbinde übergestreift worden. Böll erwähnt nicht, dass es sich um seinen Sohn René handelte, aber die Dramatik der Situation wird in wenigen Sätzen evoziert. Es kam zu einer heftigen Diskussion zwischen dem Soldaten und tschechischen Passanten, zwei weitere Posten wurden zur Verstärkung herangeholt, es wurde brenzlig. Schließlich wandten sich die Soldaten ab: „Meiner Frau und mir zitterten zum ersten Mal die Knie. Zum ersten Mal seit 23 Jahren und einigen Monaten hatten wir wieder erlebt, auf wie dumme Weise einer hätte sterben können.“
Hier wird deutlich, wie gegenwärtig für Böll sein zentrales Erlebnis, der Zweite Weltkrieg, immer war. Und noch ein anderes Leitmotiv tauchte auf, das Bild der reinen, der madonnenhaften jungen Frau, das in seinen frühen Romanen als moralischer Fluchtpunkt eine große Rolle spielt. Während der Sechzigerjahre war es eine Zeit lang etwas in den Hintergrund getreten, jetzt flammte es wieder auf: „Frauen und Mädchen, die mit den sowjetischen Soldaten diskutierten und auf sie einredeten, blass, schön vor Zorn und Mut, energisch und entschlossen. Ja, es gab sie, die Pragerin, und da nun Denkmäler wieder einen Sinn haben, wird man ihr eines Tages eins setzen, ich hoffe, in Prag. Sie ist blond, schmal, leidenschaftlich, ganz und gar unfanatisch und doch glühend.“
Der vorliegende Band versammelt auch einige Interviews, die Böll während und nach den Prager Tagen gegeben hat, und lebt zudem von den Fotos René Bölls, die das Prager Straßenbild mit den sowjetischen Panzern, die diskutierenden Menschengruppen und charakteristische Alltagsmomente einfangen. Aus heutiger Sicht ist es wie eine archäologische Erfahrung einer Zeit, in der noch Utopien existierten.
HELMUT BÖTTIGER
Heinrich Böll: Der Panzer zielte auf Kafka. Heinrich Böll und der Prager Frühling. Hrsg. von René Böll. Mit einem einführenden Essay von Martin Schulze Wessel. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018. 219 Seiten, 20 Euro.
„Schwejk als Nationalfigur
- + Kafka. Hrabal: Keine Ironie
mehr möglich.“
Heinrich Böll 1970 in Castrop-Rauxel.
Foto: picture alliance / Horst Ossinger
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
vor Zorn und Mut“
Heinrich Bölls Aufzeichnungen aus Prag, August 1968
Heinrich Böll ahnte nichts Besonderes, als er mit seiner Frau Annemarie am 20. August 1968 mit dem Zug in Prag einfuhr. Er war gespannt, wie sich die Atmosphäre in der Tschechoslowakei verändert hatte, und freute sich auf den „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, den der Prager KP-Chef Alexander Dubček seit ungefähr einem halben Jahr propagierte. Der dortige Schriftstellerverband hatte Böll eingeladen, um über den Reformprozess zu diskutieren und sich über einen „dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Sowjetkommunismus auszutauschen, eine Vorstellung, die Böll elektrisierte. Er hatte gegen den amerikanischen Krieg in Vietnam genauso protestiert wie gegen die Verhaftung der Schriftsteller Andrei Sinjawski und Juli Daniel in Moskau. Der „Prager Frühling“ war für ihn eine erste konkrete Hoffnung, Vorstellungen eines liberalen Sozialismus umsetzen zu können.
Es war deswegen eine besondere Fügung, dass Böll ausgerechnet am Vorabend des Einmarschs sowjetischer Truppen in Prag ankam. Der Prager Frühling fand damit gewaltsam ein Ende. Böll verbrachte mit seiner Frau und dem Sohn René anschließend vier angespannte, aufgeladene und erregende Tage in Prag. Er beobachtete die Ereignisse genau, nahm den gewaltlosen Widerstand der Bevölkerung wahr und den undefinierbaren Habitus der Besatzungssoldaten, bevor er wieder zurückreiste.
Obwohl er eigentlich Distanz zu den Medien bewahrte, waren seine öffentlichen Stellungnahmen in und nach diesen vier Tagen sehr zahlreich: Zu einschneidend waren die Erfahrungen für ihn. Der Band „Der Panzer zielte auf Kafka“ versammelt jetzt zum ersten Mal alle Materialien, die es von Böll über dieses historisch äußerst bedeutsame Ereignis gibt.
Faksimiliert sind 49 Seiten aus einem kleinen Vokabelheft, in dem Böll spontane Eindrücke festhielt. Sie bildeten die Grundlage zu seinem zentralen Text, der am 30. September 1968 im Wochenmagazin Der Spiegel erschien – unter eben diesem pathetischen Panzer-Kafka-Titel, der aber vermutlich von der Redaktion stammte und nicht von Böll selbst.
In seinem Text gibt es folgende Beobachtung: „Vor Kafkas Geburtshaus stand ein Panzer, das Rohr auf die Kafka-Büste gerichtet. Hier auch wurden Symbol und Wirklichkeit kongruent.“ In seinen fragmentarisch hingeworfenen handschriftlichen Notizen findet sich der Eintrag „Panzer vor Kafkas Geb.Haus!“ als letzter Satz am Freitag, dem 23. August.
Interessant ist, wie Böll in seiner essayistischen Reportage Notizen über Kafka und Bohumil Hrabal direkt aufeinander bezieht, die im Vokabelheft zum Teil weit voneinander entfernt stehen. Am Tag zuvor traf er Hrabal in der Hotelhalle und schrieb: „Kein Alkohol in der Stadt zu haben – nur in den Hotels für Ausländer – Hrabal trank Pilsener“, und ein paar Sätze vorher: „Schwejk als Nationalfigur - + Kafka. Hrabal: Keine Ironie mehr möglich.“
Im ausgearbeiteten Text kommt es dann zu einem Assoziationsgeflecht von Hrabal, Bier, Ironie, Panzer, Kafka, und das ist ein schönes Beispiel für ästhetische Bearbeitung und Weiterentwicklung.
Unter den prägnanten Szenen der ersten Besatzungstage fällt eine besonders auf. Böll schreibt, wie ein sowjetischer Soldat einem jungen Deutschen seine Maschinenpistole auf die Brust setzt und dessen Kamera einfordert. Der Mann hatte gerade ein Foto des Denkmals von Jan Hus gemacht hat – dem Reformator war kurz vorher eine Augenbinde übergestreift worden. Böll erwähnt nicht, dass es sich um seinen Sohn René handelte, aber die Dramatik der Situation wird in wenigen Sätzen evoziert. Es kam zu einer heftigen Diskussion zwischen dem Soldaten und tschechischen Passanten, zwei weitere Posten wurden zur Verstärkung herangeholt, es wurde brenzlig. Schließlich wandten sich die Soldaten ab: „Meiner Frau und mir zitterten zum ersten Mal die Knie. Zum ersten Mal seit 23 Jahren und einigen Monaten hatten wir wieder erlebt, auf wie dumme Weise einer hätte sterben können.“
Hier wird deutlich, wie gegenwärtig für Böll sein zentrales Erlebnis, der Zweite Weltkrieg, immer war. Und noch ein anderes Leitmotiv tauchte auf, das Bild der reinen, der madonnenhaften jungen Frau, das in seinen frühen Romanen als moralischer Fluchtpunkt eine große Rolle spielt. Während der Sechzigerjahre war es eine Zeit lang etwas in den Hintergrund getreten, jetzt flammte es wieder auf: „Frauen und Mädchen, die mit den sowjetischen Soldaten diskutierten und auf sie einredeten, blass, schön vor Zorn und Mut, energisch und entschlossen. Ja, es gab sie, die Pragerin, und da nun Denkmäler wieder einen Sinn haben, wird man ihr eines Tages eins setzen, ich hoffe, in Prag. Sie ist blond, schmal, leidenschaftlich, ganz und gar unfanatisch und doch glühend.“
Der vorliegende Band versammelt auch einige Interviews, die Böll während und nach den Prager Tagen gegeben hat, und lebt zudem von den Fotos René Bölls, die das Prager Straßenbild mit den sowjetischen Panzern, die diskutierenden Menschengruppen und charakteristische Alltagsmomente einfangen. Aus heutiger Sicht ist es wie eine archäologische Erfahrung einer Zeit, in der noch Utopien existierten.
HELMUT BÖTTIGER
Heinrich Böll: Der Panzer zielte auf Kafka. Heinrich Böll und der Prager Frühling. Hrsg. von René Böll. Mit einem einführenden Essay von Martin Schulze Wessel. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018. 219 Seiten, 20 Euro.
„Schwejk als Nationalfigur
- + Kafka. Hrabal: Keine Ironie
mehr möglich.“
Heinrich Böll 1970 in Castrop-Rauxel.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.09.2018Kleine Sachen ganz groß
Heinrich Bölls Notizen vom Ende des Prager Frühlings
Ob es für die Romane Heinrich Bölls "noch generationenlang Leser" geben wird, fragte Walter Kempowski einmal. "Billard um halb zehn"? Allein die "nahzielig konstruierten" Titel seiner Bücher wirkten auf ihn ermüdend: "Man merkt die Absicht und lässt es bleiben." Kempowskis Statement scheint zunächst kaum beachtenswert, weil es bloß ein verbreitetes Rezeptionsklischee wiederholt. Interessanter ist die Einschränkung, die er hinterherschickt: Demnach blitze Bölls "Talent" vor allem in dessen "kleineren Sachen" auf, in der Sphäre des weniger Absichtsvollen. Und tatsächlich: In der vorliegenden Dokumentation seines Aufenthaltes in Prag an jenen weltbewegenden Tagen im August 1968 - er befand sich auf Einladung des tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes in der Stadt, als sich die Situation unerwartet zuspitzte - zeigt sich die Stärke des Großschriftstellers in der kurzen Form.
Herzstück des Bandes ist das für den "Spiegel" mit zeitlichem Abstand geschriebene Stück "Der Panzer zielte auf Kafka". Beruhend auf 49 Seiten handschriftlicher Notizen aus Prag, die in diesem Buch erstmals veröffentlicht sind, entwirft Böll ein facettenreiches Gesamtbild. Es setzt sich zusammen aus etwa dreißig Fragmenten, in der eine wahrnehmende, reflektierende und überblickende Perspektive sich fortwährend abwechseln, bespiegeln, mitunter auch durchkreuzen. Was allein in den ersten drei, vier Textminiaturen zusammenschießt: die fassungslose Verunsicherung, als es am 21. August frühmorgens an die Hoteltür klopft und einer ruft: "Wir sind besetzt!"; die Maschinengewehrschüsse in den Straßen, die im kriegstraumatisierten Böll "instinktive Schutzinstinkte" aufleben lassen; die Unwirklichkeit der Gewalt; dazu das Entsetzen über das brutale sowjetische Handeln ("die Bankrotterklärung . . . des Moskowitismus") und die Begeisterung für die "jungen Leute mit der tschechoslowakischen Flagge", die dem "entleerten Wort Freiheit" endlich wieder einen "Sinn" verleihen. Reflexionen, Erinnerungen, Gefühle und Wahrnehmungen verbinden sich zu einem komplexen Ganzen, das den Leser das Geschehen in seiner tumultuarischen Vieldimensionalität nachempfinden lässt.
Aber so wie dieser atemberaubend dichte, schnelle Text die literarische Wirkung nicht gegen das Bemühen um Einordnung und Bewertung ausspielt (was taktlos wäre), sucht der Band insgesamt klug die Balance zwischen Persönlichem und Kommentierendem: mit einem fast intimen Vorwort des Herausgebers René Böll, der seinen Vater und seine Mutter Annemarie auf der viertägigen Reise begleitet hat, und Fotografien, die er auf Streifzügen durch die besetzte Stadt aufgenommen hat; und mit zwei wohlgeordnet argumentierenden Essays, in denen der Osteuropahistoriker Martin Schulze Wessel die politischen Rahmenbedingungen des Schriftstellerbesuches darlegt und der Böll-Biograph Jochen Schubert die enge Beziehung des engagierten Autors zur Tschechoslowakei nachzeichnet.
In der Summe überdecken die "kleineren Sachen" das große Geschichtsbild nicht, sondern füllen es mit Leben - und geben denjenigen, die Bölls Werk heute meiden, eine hervorragende Möglichkeit zur Wiederannäherung.
KAI SINA
Heinrich Böll: "Der Panzer zielte auf Kafka". Heinrich Böll und der Prager Frühling.
Herausgegeben von
René Böll. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018. 224 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Heinrich Bölls Notizen vom Ende des Prager Frühlings
Ob es für die Romane Heinrich Bölls "noch generationenlang Leser" geben wird, fragte Walter Kempowski einmal. "Billard um halb zehn"? Allein die "nahzielig konstruierten" Titel seiner Bücher wirkten auf ihn ermüdend: "Man merkt die Absicht und lässt es bleiben." Kempowskis Statement scheint zunächst kaum beachtenswert, weil es bloß ein verbreitetes Rezeptionsklischee wiederholt. Interessanter ist die Einschränkung, die er hinterherschickt: Demnach blitze Bölls "Talent" vor allem in dessen "kleineren Sachen" auf, in der Sphäre des weniger Absichtsvollen. Und tatsächlich: In der vorliegenden Dokumentation seines Aufenthaltes in Prag an jenen weltbewegenden Tagen im August 1968 - er befand sich auf Einladung des tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes in der Stadt, als sich die Situation unerwartet zuspitzte - zeigt sich die Stärke des Großschriftstellers in der kurzen Form.
Herzstück des Bandes ist das für den "Spiegel" mit zeitlichem Abstand geschriebene Stück "Der Panzer zielte auf Kafka". Beruhend auf 49 Seiten handschriftlicher Notizen aus Prag, die in diesem Buch erstmals veröffentlicht sind, entwirft Böll ein facettenreiches Gesamtbild. Es setzt sich zusammen aus etwa dreißig Fragmenten, in der eine wahrnehmende, reflektierende und überblickende Perspektive sich fortwährend abwechseln, bespiegeln, mitunter auch durchkreuzen. Was allein in den ersten drei, vier Textminiaturen zusammenschießt: die fassungslose Verunsicherung, als es am 21. August frühmorgens an die Hoteltür klopft und einer ruft: "Wir sind besetzt!"; die Maschinengewehrschüsse in den Straßen, die im kriegstraumatisierten Böll "instinktive Schutzinstinkte" aufleben lassen; die Unwirklichkeit der Gewalt; dazu das Entsetzen über das brutale sowjetische Handeln ("die Bankrotterklärung . . . des Moskowitismus") und die Begeisterung für die "jungen Leute mit der tschechoslowakischen Flagge", die dem "entleerten Wort Freiheit" endlich wieder einen "Sinn" verleihen. Reflexionen, Erinnerungen, Gefühle und Wahrnehmungen verbinden sich zu einem komplexen Ganzen, das den Leser das Geschehen in seiner tumultuarischen Vieldimensionalität nachempfinden lässt.
Aber so wie dieser atemberaubend dichte, schnelle Text die literarische Wirkung nicht gegen das Bemühen um Einordnung und Bewertung ausspielt (was taktlos wäre), sucht der Band insgesamt klug die Balance zwischen Persönlichem und Kommentierendem: mit einem fast intimen Vorwort des Herausgebers René Böll, der seinen Vater und seine Mutter Annemarie auf der viertägigen Reise begleitet hat, und Fotografien, die er auf Streifzügen durch die besetzte Stadt aufgenommen hat; und mit zwei wohlgeordnet argumentierenden Essays, in denen der Osteuropahistoriker Martin Schulze Wessel die politischen Rahmenbedingungen des Schriftstellerbesuches darlegt und der Böll-Biograph Jochen Schubert die enge Beziehung des engagierten Autors zur Tschechoslowakei nachzeichnet.
In der Summe überdecken die "kleineren Sachen" das große Geschichtsbild nicht, sondern füllen es mit Leben - und geben denjenigen, die Bölls Werk heute meiden, eine hervorragende Möglichkeit zur Wiederannäherung.
KAI SINA
Heinrich Böll: "Der Panzer zielte auf Kafka". Heinrich Böll und der Prager Frühling.
Herausgegeben von
René Böll. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018. 224 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»ein umfangreiches und bis zum buchstäblich letzten Atemzug des Autors diverses, zweifelndes und lebendiges Werk« Christina Mohr Spex 20181130