Der Journalist Reto Zumbach ist einem Verbrechen auf der Spur: Daniel Kienast, Torhüter der Schweizer Fußballnationalmannschaft, ist während einer Urlaubsreise durch Irland ums Leben gekommen. Sein Mörder, der Papierfabrikant Richard Kolk, hatte Kienasts Freundin Nathalie sechs Tage lang gefangengehalten, denn er wollte ihre Liebe. Zumbach wiederholt die Reise des Paares, fährt von Schauplatz zu Schauplatz und versucht, die Tragödie nachzuempfinden, aus der er ein Buch machen möchte. Seine Spurensuche gerät ihm bald zur schmerzlichen Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit. Viel zu spät begreift er, dass er in eine Geschichte gerät, die sich wie eine Folie über die Story legen lässt, an der er schreibt . . .
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.03.2004Mord und Möwenflug
Befremdliche Selbstfindung: Hansjörg Schertenleibs neuer Roman
Was macht ein erfolgloser Journalist, der mit achtunddreißig Jahren noch immer nach seinem Ich sucht? Er nimmt sich vor, eine Mord-Recherche zu einem Roman auszuweiten. So behauptet es jedenfalls Hansjörg Schertenleibs neuer Roman "Der Papierkönig". Im Mittelpunkt steht Reto Zumbach, ein mehrfach gescheiterter Journalist, der den Spuren eines Mordfalls nach Irland folgt. Dabei liegt die Geschichte mittlerweile zwei Jahre zurück und ist kriminalistisch wie journalistisch längst abgeschlossen: Richard Kolk, ein deutscher Papierfabrikant, hatte seinerzeit den Torwart des FC Zürich in seinem irischen Ferienhaus ermordet, dessen Freundin sechs Tage gefangengehalten und brutal vergewaltigt.
Mittlerweile ist der "Papierkönig" in Irland verurteilt und inhaftiert; Nathalie Stüssy, das überlebende Opfer, befindet sich in psychiatrischer Behandlung. Zumbach setzt sich mit beiden in Verbindung, reist nach Irland und folgt dem Reiseweg der Opfer bis zum Ferienhaus des Papierkönigs, als ließe sich im mörderischen Herzen der Finsternis zugleich die eigene Seele entdecken. In diesen Reiseweg werden Briefe, die Kolk aus dem Gefängnis an ihn richtet, ein Interview mit Nathalie Stüssy und allerlei Erinnerungen an eigene Demütigungen eingestreut.
Mit dem Einbruch ins mittlerweile verlassene Ferienhaus des Mörders ist der Roman allerdings nicht zu Ende. Statt dessen begegnet Zumbach wenig später dem überlebenden Opfer: Nathalie Stüssy ist aus der Psychiatrie geflohen, um gleichfalls an den Ort des Verbrechens zurückzukehren. Die Begegnung trägt alle Anzeichen eines märchenhaften Zufalls - aber es folgt kein märchenhafter Schluß. Die beiden lassen sich von einem jungen Paar mitnehmen, werden betäubt und in ein verlassenes Haus verschleppt. Als Zumbach aufwacht, findet er nur noch ein Videoband vor, auf dem in Ausschnitten zu sehen ist, wie Nathalie von den maskierten jungen Leuten gefoltert und vergewaltigt wird.
Hansjörg Schertenleib gibt die wenigen Details dieser Szene mit der gleichen präzisen Sachlichkeit wie das Flimmern der Irischen See oder den Flug der Möwen. Das ist professionell gemacht. Dennoch ist "Der Papierkönig" kein überzeugender Roman: Er bietet Einblicke in die Psychen eines Mörders, eines Vergewaltigungsopfers und eines lethargischen Beobachters, der unausgesetzt um seine Lebensniederlagen kreist. Es gibt viele Möglichkeiten, aus dieser Konstellation einen Roman zu machen. Aber Schertenleib hat sich für keine entscheiden können. Erst läßt er die Geschichten des Papierkönigs und seiner Opfer versanden, dann reicht er ausgesuchte Bestialitäten nach, um seinem Protagonisten zu einer erbärmlichen Sinnstiftung zu verhelfen, die niemand nachvollziehen mag.
Die geradezu perverse Zumutung des Romans besteht darin, daß die Vergewaltigung als substantielle Selbstfindungsetappe des Protagonisten inszeniert wird. Der sitzt zuletzt in einem Caravan vor der irischen Steilküste, meditiert über auffliegende Plastiktüten, spannt eine leere Seite in seine Schreibmaschine und will gelernt haben, "daß jeder, der eine Geschichte erzählt, die eigene Geschichte erzählt". Was für eine fade poetologische Moral. Dem Geschichtenerzähler Hansjörg Schertenleib tut man jedenfalls keinen Gefallen, wenn man sie ernst nimmt und auf seinen Text bezieht. Ein verunglücktes Buch.
FRIEDHELM MARX
Hansjörg Schertenleib: "Der Papierkönig". Roman. Aufbau Verlag, Berlin 2003. 343 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Befremdliche Selbstfindung: Hansjörg Schertenleibs neuer Roman
Was macht ein erfolgloser Journalist, der mit achtunddreißig Jahren noch immer nach seinem Ich sucht? Er nimmt sich vor, eine Mord-Recherche zu einem Roman auszuweiten. So behauptet es jedenfalls Hansjörg Schertenleibs neuer Roman "Der Papierkönig". Im Mittelpunkt steht Reto Zumbach, ein mehrfach gescheiterter Journalist, der den Spuren eines Mordfalls nach Irland folgt. Dabei liegt die Geschichte mittlerweile zwei Jahre zurück und ist kriminalistisch wie journalistisch längst abgeschlossen: Richard Kolk, ein deutscher Papierfabrikant, hatte seinerzeit den Torwart des FC Zürich in seinem irischen Ferienhaus ermordet, dessen Freundin sechs Tage gefangengehalten und brutal vergewaltigt.
Mittlerweile ist der "Papierkönig" in Irland verurteilt und inhaftiert; Nathalie Stüssy, das überlebende Opfer, befindet sich in psychiatrischer Behandlung. Zumbach setzt sich mit beiden in Verbindung, reist nach Irland und folgt dem Reiseweg der Opfer bis zum Ferienhaus des Papierkönigs, als ließe sich im mörderischen Herzen der Finsternis zugleich die eigene Seele entdecken. In diesen Reiseweg werden Briefe, die Kolk aus dem Gefängnis an ihn richtet, ein Interview mit Nathalie Stüssy und allerlei Erinnerungen an eigene Demütigungen eingestreut.
Mit dem Einbruch ins mittlerweile verlassene Ferienhaus des Mörders ist der Roman allerdings nicht zu Ende. Statt dessen begegnet Zumbach wenig später dem überlebenden Opfer: Nathalie Stüssy ist aus der Psychiatrie geflohen, um gleichfalls an den Ort des Verbrechens zurückzukehren. Die Begegnung trägt alle Anzeichen eines märchenhaften Zufalls - aber es folgt kein märchenhafter Schluß. Die beiden lassen sich von einem jungen Paar mitnehmen, werden betäubt und in ein verlassenes Haus verschleppt. Als Zumbach aufwacht, findet er nur noch ein Videoband vor, auf dem in Ausschnitten zu sehen ist, wie Nathalie von den maskierten jungen Leuten gefoltert und vergewaltigt wird.
Hansjörg Schertenleib gibt die wenigen Details dieser Szene mit der gleichen präzisen Sachlichkeit wie das Flimmern der Irischen See oder den Flug der Möwen. Das ist professionell gemacht. Dennoch ist "Der Papierkönig" kein überzeugender Roman: Er bietet Einblicke in die Psychen eines Mörders, eines Vergewaltigungsopfers und eines lethargischen Beobachters, der unausgesetzt um seine Lebensniederlagen kreist. Es gibt viele Möglichkeiten, aus dieser Konstellation einen Roman zu machen. Aber Schertenleib hat sich für keine entscheiden können. Erst läßt er die Geschichten des Papierkönigs und seiner Opfer versanden, dann reicht er ausgesuchte Bestialitäten nach, um seinem Protagonisten zu einer erbärmlichen Sinnstiftung zu verhelfen, die niemand nachvollziehen mag.
Die geradezu perverse Zumutung des Romans besteht darin, daß die Vergewaltigung als substantielle Selbstfindungsetappe des Protagonisten inszeniert wird. Der sitzt zuletzt in einem Caravan vor der irischen Steilküste, meditiert über auffliegende Plastiktüten, spannt eine leere Seite in seine Schreibmaschine und will gelernt haben, "daß jeder, der eine Geschichte erzählt, die eigene Geschichte erzählt". Was für eine fade poetologische Moral. Dem Geschichtenerzähler Hansjörg Schertenleib tut man jedenfalls keinen Gefallen, wenn man sie ernst nimmt und auf seinen Text bezieht. Ein verunglücktes Buch.
FRIEDHELM MARX
Hansjörg Schertenleib: "Der Papierkönig". Roman. Aufbau Verlag, Berlin 2003. 343 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Wieder mal ein von sich selbst und von der Freundin enttäuschter Intellektueller, ein Versagertyp als Held eines Romans - muss das sein, fragt Martin Krumbholz. Nicht wirklich, lautet seine Antwort. Er empfiehlt eine Verfilmung des Stoffes vom "Papierkönig" - einem irischen Papierfabrikanten, der vor Jahren einen Fußballer und seine Freundin entführt hat, und auf dessen Fährte sich jener Journalist begibt, der unablässig "an seiner Selbstabschaffung arbeitet". Die Verfilmung hätte den Vorteil, meint Krumbholz, dass sich die ganze sentimentale Schicht und Innensicht von der Kamera nicht erfassen ließe; übrig bliebe dann der kriminalistische Plot um die Entführung, den Hansjörg Schertenleib tatsächlich mit einigem handwerklichen Geschick durchführe. Dem Autor gelinge es durchaus, gesteht der Rezensent zu, den Leser neugierig zu machen. Auf die Dauer würde jedoch klar, dass die Balance zwischen Innen- und Außenwelt nicht stimme. Die Innenwelt des traurigen Helden habe eindeutig Vorrang, während die weiteren Hauptfiguren - wie etwa der Papierfabrikant, der eigentlich die spannendere Figur sei - psychologisch nicht glaubhaft würden. Aber die Innenwelt eines Menschen interessiert nur dann, behauptet Krumbholz entschlossen, solange sie "mit der Außenwelt signifikant kurzgeschlossen wird".
© Perlentaucher Medien GmbH
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